„Nachrichten beantworte ich auch spätabends“

Liken, posten, kommentieren: „Ich muss die ganze Zeit senden.“ Eine junge Werberin aus Braunschweig erzählt vom Kommunikationsdruck in ihrem Beruf.

Die Illustration zeigt zwei Gesichtshälften, die wach und schlafend sind und daneben Smartphones, Tablets und Telefone
Ständig posten, liken, kommentieren: Wer mit Social Media arbeitet, vergisst schnell auch mal offline zu sein. © Luisa Stömer für Psychologie Heute

Es ist schon Monate her, aber manchmal ärgert es mich immer noch: Zusammen mit einer Freundin bin ich für ein Kinderfernsehprogramm interviewt worden. Total süß und wie geschaffen dafür, online gepostet zu werden. Aber aus irgendeinem Grund habe ich es nicht getan. Dabei scheint es in meiner Welt wichtig zu sein, solche Beiträge zu teilen.

Ich bin Head of Innovation bei einer Werbeagentur. Mein Team und ich spüren dem Zeitgeist nach und beobachten, was auf der Welt passiert, von Tagesschau-Nachrichten bis hin zu TikTok-Trends. Für Unternehmen veranstalten wir zum Beispiel Trendworkshops oder beraten sie, wie sie junge Menschen ansprechen können und als Marke relevant bleiben.

Kaum geschützter Raum

Ich liebe die Kommunikationsbranche. Wenn du gut bist, kannst du als junger Mensch sofort alles tun. Die Kehrseite ist: Es gibt kaum einen geschützten Raum, um zu lernen, zu wachsen und Erfahrungen zu sammeln. Sobald du anfängst, bist du sichtbar und musst dich promoten. In anderen Branchen vertritt man erst ab der Management-Ebene seine Arbeit nach außen. Bei uns sollen andere sehen, was du tust. Je mehr, desto besser.

Meist posten wir auf LinkedIn und Instagram. Zum Beispiel: Ich habe diese Kampagne mitentwickelt; ich war als Speakerin auf einem Panel; heute bin ich bei diesem Event. Mein Arbeitgeber verlangt das nicht von mir, aber Sichtbarkeit ist eine Währung – und eine Wissenschaft für sich. Die Leute in der Branche können dir genau sagen, wie viel man wann und worüber auf welcher Plattform posten sollte und zu welcher Uhrzeit, um den Algorithmus zu streicheln. Wir kommentieren unsere Posts gegenseitig und markieren uns, um die eigene Sichtbarkeit zu erhöhen. Aber nur selten komme ich dazu, mich zu fragen: Tut mir das wirklich gut?

Wie soll das alles in 24 Stunden passen?

Viele Werbeagenturen konkurrieren untereinander, die Leute sind meinungsstark oder haben zumindest ein großes Geltungsbedürfnis. Ständig bewertet man sich gegenseitig. Wenn bei den anderen so viel passiert, das sie posten können, setzt mich das auch unter Druck nachzuziehen. Was der nächste Karriereschritt ist und wie ich ihn am besten kommuniziere – solche Gedanken nehmen in meinem Kopf wahnsinnig viel Raum ein. Dass andere Menschen auch meinen Content ansehen und sich in Zugzwang fühlen, schließe ich nicht aus.

Eine Trennung zwischen Arbeit und Privatleben gibt es bei mir nicht. Wenn mir samstags eine gute Idee kommt, schreibe ich sie auf. LinkedIn-Nachrichten beantworte ich auch spätabends. Wenn ich mir meinen Tag ansehe, fragen mich viele: Wie zur Hölle soll das alles in 24 Stunden passen? Für mich ist das positiver Stress, ich habe Bock auf dieses Leben. Aber ich merke, dass andere Schnappatmung bekommen, wenn ich davon erzähle.

Viel kommunizieren, viel konsumieren

Und selbst ich habe manchmal das Gefühl, ich könnte meine Zeit noch viel schlauer nutzen. Soll ich wirklich zu Hause sitzen und kochen? Wenn ich nur Netflix anschalte, ohne zweiten Laptop auf dem Schoß, habe ich manchmal ein schlechtes Gewissen. An manchen Tagen fühlt sich Freizeit an wie etwas, das man sich verdienen muss. Es fällt mir schwer, Dinge nur für mich zu tun. Wahrscheinlich habe ich deshalb mein Studium noch nicht abgeschlossen. Für die Branche ist es nicht wichtig.

Wer viel kommunizieren will, muss auch viel konsumieren. Finde ich zumindest. Und ich konsumiere wahnsinnig viel. Ich lese Feeds, Nachrichten, Artikel, schaue Videos, höre Podcasts. Vor dem ersten Kaffee weiß ich gleichzeitig über den aktuellen Stand des Krieges, TikTok-Trends und die neusten Fehltritte von Stars Bescheid. Selbst an einem freien Tag habe ich morgens um halb elf schon zwei Podcasts gehört. Es gibt kaum noch Momente, in denen ich nicht mit anderen Meinungen konfrontiert bin und darauf reagieren muss. Denn ich stecke in einer binären Logik fest. Ich kann mich nicht enthalten.

Es gibt nur noch liken oder nicht liken. Wenn ich nicht like, heißt das, ich mag etwas nicht. Dabei wünsche ich mir die Freiheit, nicht zu allem sofort eine Meinung zu haben. Es wäre doch viel gesünder zu sagen: Das Thema interessiert mich, ich habe mich informiert, aber ich muss noch darüber nachdenken. Stattdessen steht hinter allem die Annahme: Wer nichts sagt, hat nichts zu sagen.

Worauf bin ich stolz?

Zweifel haben in dieser Branche noch zu wenig Platz, denn wer berät, sollte nicht gleichzeitig zweifeln. Man spricht erst darüber, wenn man sie überwunden hat und eine gute Story daraus machen kann. Nie währenddessen. Selbst wenn du unsicher bist, sendest du trotzdem. Anfangs habe ich gedacht: Wenn ich an dem und dem Punkt in meiner Karriere bin, werde ich nicht mehr zweifeln. Aber das stimmt nicht.

Mittlerweile glaube ich, dass es vielen so geht. Am Ende haben wir doch alle Angst, nicht wirklich gut zu sein. Oder nicht gut genug. Wie auch? Früher warst du vielleicht der schlauste Mensch in deinem Dorf, heute kannst du dich mit der ganzen Welt vergleichen. Das erzeugt einen wahnsinnigen Druck, darauf sind unsere Gehirne evolutionär nicht ausgelegt.

Morgens nach dem Aufwachen kann ich direkt online sehen, wer einen Preis gewonnen, ein Buch geschrieben oder einen schlauen Gedanken gedacht hat – und das alles, bevor ich selbst überhaupt einen Fuß aus dem Bett gesetzt habe. Wenn ich mich deshalb nicht permanent runterziehen lassen will, muss ich mich immer wieder selbst verorten: Was ist für mich Erfolg? Nach welchen Maßstäben will ich leben? Was habe ich heute geleistet? Worauf bin ich stolz?

Solche tiefgründigen Fragen zur Identität und zum eigenen Schaffen haben sich Menschen früher vielleicht in der Midlife-Crisis gestellt. Mich beschäftigen sie mit Mitte zwanzig. Und zwar jeden Tag. Das ist fucking anstrengend. Andererseits will ich auch nicht mit 80 feststellen, dass ich mein Leben nach den Erfolgsparametern anderer Leute gelebt habe. Im besten Fall finde ich eine Antwort, die nicht nur online gut aussieht, sondern mich wirklich glücklich macht.

Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie gerne was hinter dem Drang steckt, ständig online sein zu müssen in Was ist Kommunikationsdruck?

Artikel zum Thema
​Was wir auf Facebook, Twitter und Instagram tun, verrät eine Menge über uns. Zum Beispiel über eine heranziehende psychische Krise.
Immer mehr Menschen erzählen auf TikTok, Instagram und Co. vom Leben mit einer psychischen Erkrankung. Wem hilft das und wann richtet es Schaden an?
Patienten, die zu spät kommen, ausfallend werden, den Therapeuten ausfragen: Psychoanalytiker Micha Hilgers sagt, wie man Grenzen setzt
Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2024: Meine perfekt versteckte Depression
Anzeige
Psychologie Heute Compact 78: Was gegen Angst hilft