Frau Fishbach, Sie arbeiten in der Forschung, das ist ein Bereich, in dem viele Experimente leider schiefgehen…
Wem sagen Sie das? Ich weiß, dass viele Studien nicht klappen. Deshalb ist in der Forschung die Analyse von Fehlern lebenswichtig. Sonst kriegen wir am Ende kaum eine gute Studie hin.
Ist solch eine Fehlerkultur noch immer eher Ausnahme oder eher die Regel?
Viele Organisationen und Unternehmen versuchen inzwischen, eine Kultur zu etablieren, die das Lernen aus den eigenen Fehlern erleichtert…
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inzwischen, eine Kultur zu etablieren, die das Lernen aus den eigenen Fehlern erleichtert beziehungswiese ermöglicht. Aber es ist nicht leicht und braucht Initiative und Anstrengung.
Warum?
Weil Menschen erhebliche psychologische Hürden überwinden müssen, um aus eigenem Misserfolg und Fehlern lernen zu können. Vielleicht haben sich in unseren Gesellschaften diese ganzen Mantras über das Lernen aus Misserfolgen gerade deshalb so stark verbreitet, weil es so schwer ist.
Welche psychologischen Hürden sind das?
Zum einen ein emotionales Bollwerk, das unseren Selbstwert, unser Ego schützt. Zum anderen haben wir es mit kognitiven Hürden zu tun.
Wie kommen Sie darauf?
Durch ein ausgiebiges Studium der Literatur zu dem Thema und natürlich auch durch unsere Studien an der University of Chicago, die ich zusammen mit meiner Kollegin Lauren Eskreis-Winkler gemacht habe. Wir haben uns dafür einen simplen Test ausgedacht, das Facing Failure Game.
Wie funktioniert dieses Spiel?
Das Spiel besteht aus mehreren aufeinanderfolgenden Runden mit Multiple-Choice-Fragen – jeweils eine Frage mit zwei Antwortmöglichkeiten –, zum Beispiel über soziale Beziehungen oder über Sprache. Und die Probandinnen und Probanden können die Frage richtig oder falsch beantworten. Dann geben wir ihnen Feedback, wie sie abgeschnitten haben. Und wenn sie falsch liegen, sagen wir ihnen auch, warum.
Sofern sie sich darauf einlassen, ihre Fehler zu analysieren, können sie die Fragen der nächsten Runde leicht beantworten, weil sie etwas aus ihrem Scheitern gelernt haben. Bei diesem Spiel ist es optimal, sich auf die gemachten Fehler einzulassen. Denn die Versuchspersonen werden für richtige Antworten mit Geld belohnt. Mit diesem Test in all seinen Variationen können wir sehr zuverlässig herausfinden, ob Menschen aus Fehlern lernen – oder ob sie zum Beispiel lieber aus ihren Erfolgserlebnissen lernen.
Was haben Sie herausgefunden?
Wir haben diesen Test inzwischen mit sehr vielen Menschen gemacht. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Die allermeisten Leute wollen mit ihren Fehlern nichts zu tun haben. Folglich lernen sie aus ihren Misserfolgen wenig bis gar nichts. Dieses Ergebnis ist leider sehr robust, egal welche Fragen zu welchen Themen wir stellen. Es blieb auch bestehen, als wir die Geldanreize um 900 Prozent erhöhten. Aus ihren eigenen Erfolgen – aber auch den Fehlern anderer Versuchspersonen – lernten die am Spiel Teilnehmenden viel besser.
Warum ist das so?
Die menschliche Spezies scheint darauf programmiert zu sein, negative Informationen über sich selbst zu vermeiden. Es ist schwer, über ein Scheitern nachzudenken, denn das ist eine bedrohliche Erfahrung. Die Menschen haben den Eindruck, dass ihr Selbstwertgefühl in Gefahr gerät, was wiederum ihre psychische und körperliche Gesundheit unterminieren könnte. Mit diesem Empfinden ist Lernen nicht mehr möglich. Selbst wenn die Menschen aus Misserfolgen lernen wollen, haben sie oft eine konkurrierende Emotion, die überwiegt: sich selbst gut zu fühlen. Der Wunsch, sich als gute, kompetente Person zu sehen, ist eine starke Motivationskraft. Wenn dieses Ziel die Oberhand gewinnt, verabschieden sich die Leute vom Lernen aus Fehlern.
Haben Sie im Facing Failure Game dafür Belege gefunden?
Ja. Wir haben Probanden nach ihrem Selbstwertgefühl gefragt, nachdem sie Feedback erhalten hatten. Spieler, die eine Rückmeldung zum Misserfolg – im Vergleich zum Erfolg – erhalten hatten, berichteten über ein geringeres Selbstwertgefühl und lernten deshalb nicht aus ihren Fehlern, obwohl die Probanden dadurch Geld verloren. In realen Situationen ohne monetäre Anreize würden wir erwarten, dass die emotionalen Hürden für ein Lernen aus Misserfolgen noch ausgeprägter sind.
Die Menschen schützen ihr Ego und schalten einfach ab. Wenn es nicht mehr möglich ist, das eigene Scheitern zu ignorieren, beschäftigen sich die Menschen zwar damit, lernen aber zu wenig aus dieser Erfahrung – viel weniger als aus Erfolgen. Die Lektionen, die sie aus dem Scheitern „lernen“, beziehen sich oft auf das eigene Selbst. Die Menschen schließen aus dem Scheitern, dass sie nicht erfolgreich sein können oder dass sie es nicht wollen.
Sinkt damit ihre Motivation weiter, aus den eigenen Fehlern zu lernen?
Absolut. Der Wunsch, sich selbst gut zu fühlen, kann sogar dazu führen, dass Menschen nach einem Misserfolg ihre Überzeugungen ändern. In einer Reihe von Studien sagten die Teilnehmenden, die zunächst gescheitert waren, fälschlicherweise voraus, dass der nachfolgende Erfolg sie weniger glücklich machen würde, als es tatsächlich der Fall war. Das ist der sogenannte Saure-Trauben-Effekt. Diese Veränderung der Überzeugungen hat das Interesse an der Aufgabe im Allgemeinen und das Interesse am Lernen aus Misserfolgen im Besonderen unterlaufen. Warum sollte man aus Misserfolgen lernen, wenn es einem nicht mehr wichtig ist, eine Aufgabe erfolgreich zu bewältigen?
Gibt es Ausnahmen?
Fachleute mit ausgesprochener Expertise in einem Gebiet oder ausgesprochenem Interesse für ein Gebiet sind teilweise immun gegen alle diese psychologischen Prozesse. Wenn beispielsweise Studierende, die in einem Umweltschutzclub eingeschrieben sind – also Menschen mit einem starken Interesse an der Umwelt –, negatives Feedback zu ihren Recyclinggewohnheiten erhielten, erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie für Umweltzwecke spendeten. Bei durchschnittlichen Studierenden ohne ein besonderes Interesse für ein bestimmtes Thema führte negatives Feedback dagegen dazu, dass sie weniger spendeten. Während also ein Misserfolg das Engagement und die Motivation von Nichtexperten untergräbt, kann er bei Expertinnen den gegenteiligen Effekt haben.
Sie sprachen auch von kognitiven, also geistigen Prozessen, die das Lernen aus eigenen Fehlern aushöhlen. Welche sind das?
Selbst wenn sie tatsächlich beachtet werden, ist das Lernen aus Misserfolgen weniger direkt als das Lernen aus Erfolgen. Um aus Erfolgen zu lernen, muss man sich merken, was man richtig gemacht hat, und es einfach wiederholen. Die Information aus eigenen Fehlern ist dagegen schwerer aus dem Wissen zu ziehen. Damit ein Misserfolg informativ ist, muss man ableiten, was eine falsche Antwort über die richtige Antwort aussagt. Lernen durch Ausschluss erfordert mehr geistige Anstrengung, wir müssen Schlüsse um die Ecke herum ziehen. Deshalb lassen wir das lieber. Das ist natürlich bedauerlich, weil die Information aus Misserfolgen nicht immer, aber oft besonders wertvoll ist.
Wieso?
Negative Erfahrungen sind in der Regel sehr vielfältig; sie unterscheiden sich voneinander, im Gegensatz zu positiven Ergebnissen, die sich eher ähneln. Der negative Erfahrungsschatz, aus dem man lernen kann, ist entsprechend größer. Ein zweiter und ein dritter Misserfolg, die sich vom ersten unterscheiden, enthalten weitere nützliche Informationen. Zum Beispiel verhalten sich zwei Menschen, die beide angemessen freundliche Charaktere sind, auf einer Party ähnlich.
Dagegen verhält sich eine Person, die zu gesprächig ist, anders als eine, die zu zurückhaltend ist, was die Umgangsformen angeht. In jedem „Misserfolg“ steckt eine neue Information. Wenn also Menschen nach einem Scheitern nicht in die Fehleranalyse gehen, verpassen sie oft einzigartige Informationen für ihre Zukunft. Das ist ein unglückliches Paradoxon: Die Informationen, die die Menschen zu übersehen pflegen, weil sie als nicht informativ erscheinen, sind in Wahrheit die Informationen mit dem größten Wert.
Hier können Sie mehr über das Scheitern lesen:
Trotz alledem lernen Menschen aus den Fehlern der anderen, wie Sie ja auch herausgefunden haben. Also nicht so schlimm, wenn wir das eigene Scheitern ignorieren?
Das kann man so nicht sagen. Es stimmt natürlich: Die Fehler der anderen nutzen wir gerne für eigene Lernprozesse. Es gibt nur ein Problem: Die meisten anderen kommunizieren ihr Scheitern nicht – aus genau den Gründen, die ich schon beschrieben habe. Sprich: Auch die wollen sich nicht mit dem eigenen Misserfolg befassen und diesen schon gar nicht in die Öffentlichkeit hinausposaunen. Der Verlust für die Gesellschaft ist also unermesslich. Und Sie sehen: Das Dilemma bleibt. Wir alle könnten besser und leichter und schneller lernen, wenn wir uns mit unseren eigenen Fehlern beschäftigen würden.
Was können wir machen, um dieser Misere zu entkommen?
Das Ego, den Selbstwert vom Scheitern abzukoppeln ist ein wichtiger Ansatz. Ein gutes Mittel dafür sind die sogenannten kognitiven Distanzierungstechniken. Dabei denken Menschen über eine persönliche Erfahrung aus der Perspektive eines neutralen Dritten nach. Sie fragen zum Beispiel: „Warum hat Klaus versagt?“, statt: „Warum habe ich versagt?“ Distanzierungstechniken sind relativ leicht umzusetzen und bieten eine Möglichkeit, aus persönlichem Versagen zu lernen.
Könnte es auch funktionieren, den Selbstwert zu stärken?
Ja. Man kann zum Beispiel über das Scheitern auf eine Weise nachdenken, die es in eine Quelle der Zuversicht verwandelt. In einer Reihe von Studien wurden etwa in verschiedenen Bereichen gescheiterte Menschen aufgefordert, ihre Misserfolge zu nutzen, um andere zu beraten. Wer beispielsweise eine Diät zur Gewichtsreduktion abgebrochen hatte oder arbeitslos geworden war, gab Menschen mit den genau gleichen Problemen motivierende Ratschläge, welche Fehler sie besser vermeiden sollten. Das Erteilen von Ratschlägen hat den motivierenden Effekt, dass man die Fähigkeit zum Erfolg besitzt, und nicht, dass sie einem fehlt.
In einer unserer Studien haben wir zum Beispiel gesehen, dass Mittelschüler, die jüngeren Schülern Rat gaben, in dem darauffolgenden Monat mehr Zeit für Hausaufgaben aufwandten. Ebenso erzielten Gymnasiasten, die jüngeren Schülern Ratschläge gaben, im folgenden Schulquartal bessere Noten als die Kontrollgruppe.
Sollte man die Menschen nicht auch ermutigen, ihre Fehler zu nutzen?
Unbedingt, auch da haben wir Belege aus Studien. Wir haben etwa Lehrerinnen der siebten Klasse gebeten, ihre kritischen, aber konstruktiven Rückmeldungen an die Schüler mit einer ermutigenden Bemerkung zu verbinden. Dabei sollten sie den Schülerinnen zusichern, dass sie genügend Fähigkeiten und Fertigkeiten besäßen. In der Folge erhöhte sich der Prozentsatz der Schülerinnen, die ihre Aufsätze überarbeiteten. Auch die Qualität der korrigierten Aufsätze verbesserte sich.
Und was noch ganz wichtig ist: Das Mindset ändern! Menschen mit einer wachstumsorientierten Denkweise glauben, dass sich ihre Fähigkeiten und Überzeugungen weiterentwickeln können, und sind auch bei Misserfolgen erfolgreich. So können sie auf eigene Fehler eingehen und daraus lernen. In einer Studie zeigte sich zum Beispiel, dass die Vermittlung einer wachstumsorientierten Denkweise bei Schülern die akademischen Leistungen verbessert. Außerdem schrieben sich mehr Teilnehmerinnen bei anspruchsvollen Kursen ein. In dieser Studie profitierten Schülerinnen am meisten, die eine wachstumsorientierte Denkweise gelernt hatten.
Und nicht zuletzt will ich erwähnen, dass es auch Wege und Mittel gibt, die kognitiven Hürden zu überwinden. Wichtig ist, dass wir in unserer Gesellschaft, in Schulen, Firmen und Organisationen, alle diese Verfahren anwenden und eine Kultur schaffen, die das Lernen aus eigenen Fehlern leichter macht. Dieses Investment wird sich ganz sicher lohnen.
Scheitern passiert, wenn ein Ziel nicht erreicht wird oder etwas nicht so gelingt, wie wir es uns gewünscht haben: Beziehungen können viel schwieriger sein als gedacht, ein Bewerbungsgespräch führt nicht zu einer Zusage. Die Ursachen haben wir nicht allein in der Hand: Partner und Partnerinnen entwickeln sich anders, als wir hoffen, den erwünschten Job bekommt eine andere Person, die vielleicht besser zu dem Unternehmen oder der Organisation passt.
Ayelet Fishbach ist Psychologin und Professorin an der Booth School of Business der Universität Chicago. Sie beschäftigt sich in ihrer Forschung besonders mit Motivation, Entscheidungsprozessen und Selbstkontrolle.
Zum Weiterlesen
Charles Pépin: Die Schönheit des Scheiterns. Kleine Philosophie der Niederlage. Carl Hanser, München 2017
Doris Märtin: Mich wirft so schnell nichts um. Wie Sie Krisen meistern und warum Scheitern kein Fehler ist. Campus, Frankfurt a.M. 2010