Ein Mann unter Druck

Therapiestunde: Ein 81-jähriger Ingenieur mit der Diagnose „Bluthochdruck“ gerät neuerdings in Panik und lernt in der Therapie, wie „weit machen“ geht.

Die Illustration zeigt einen Mann, der in ein Blutdruckmessgerät gezwängt ist und ängstlich auf das Gerät schaut
Manchmal hat die Panik uns fest im Griff © Michel Streich

Herr F., 81 Jahre alt, Ingenieur, berichtet im Erstgespräch, er habe seit einem Jahr deutlichen Bluthochdruck. Er sei immer gesund gewesen, nun plötzlich dieser Bluthochdruck: unerklärlich und sehr beunruhigend.

Mein Klient schildert, dass das Symptom erstmals während des Kennenlerntermins beim neuen Hausarzt aufgetreten sei. Sein alter Arzt war in Rente gegangen, und auch wenn Herr F. sich gesund fühlte, habe er sich doch einmal beim Nachfolger vorgestellt – eigentlich nur „falls doch mal was ist“.

Offenbar…

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vorgestellt – eigentlich nur „falls doch mal was ist“.

Offenbar sagte Herr F. dabei einleitend, er sei ja gesund und habe noch nie etwas Schlimmes gehabt – was der ärztliche Kollege mit den Worten „Na, das wollen wir doch erst einmal sehen!“ parierte. Dieser Satz habe meinen Klienten bis ins Mark erschüttert, denn vier Jahre zuvor war bei seiner Ehefrau aus heiterem Himmel eine Krebsdiagnose gestellt worden – nun schoss ihm beim Kommentar des Arztes durch den Kopf, was wohl wäre, wenn man auch bei ihm „etwas Schreckliches feststellen“ würde.

Während Herr F. also erstarrt dort saß, hatte der neue Arzt ihm eine Manschette angelegt und Blutdruck gemessen, um dann mit einer Art Zufriedenheit festzustellen: „Da haben wir es ja schon – Sie haben einen total überhöhten Blutdruck!“

Eine verunsichernde Diagnose

Seither geht mein neuer Klient regelmäßig zum Arzt, verspürt schon im Wartezimmer und vor allem beim Messen Panik, wie hoch der Blutdruck sein würde – und jedes Mal sei dieser dann auch „viel zu hoch“. Nach einiger Zeit habe er sich selbst ein Messgerät zugelegt: Auch zu Hause sei sein Blutdruck zu hoch; nicht so schlimm wie beim Arzt – aber deutlich zu hoch.

Ich bitte Herrn F., sein Gerät zu unserem nächsten Termin mitzubringen. Nun sitzt er wieder vor mir, und ich schlage ihm ein Experiment vor:

„Herr F., Sie sind doch Ingenieur. Was wissen Sie über Flüssigkeiten?“ Er schaut mich verwundert an, ich führe meinen Gedanken aus: „Blut ist eine Flüssigkeit. Was wissen Sie noch darüber, aus der Schule vielleicht – kann man Flüssigkeiten komprimieren?“ „Nein, das kann man nicht.“ Er antwortet automatisch, schaut aber verständnislos.

„Richtig. So habe ich das auch gelernt. Wie Sie wissen, haben Sie etwa sechs bis sieben Liter Blut in Ihren Adern und Venen. Und wo befinden sich die?“ „Na, im Körper eben.“ „Genau – und was ist drum herum, um die Adern und Venen?“ „Muskeln? Fett? Gewebe?“ Herr F. tastet sich verwundert durch meine Prüfungsfragen. Er ist sehr schlank, drum muss ich lächeln: „Bei Ihnen eher Muskeln als Fett. Ich halte also fest, etwas vereinfacht: Blut fließt in Adern und Venen zwischen den Muskeln durch unseren Körper. Okay?“ Der Ingenieur nickt stirnrunzelnd, und ich fahre fort.

„Sie hatten ja bei unserem ersten Gespräch erzählt, dass Sie, als Ihr neuer Hausarzt seinen lockeren Spruch gebracht hat, an die plötzliche Erkrankung Ihrer Frau vor einigen Jahren erinnert wurden. Ich glaube, dass Sie da vor Schreck alle Ihre Muskeln angespannt haben. Kann das sein?“ Herr F. nickt, er wirkt auf einmal aufmerksam. „Dann haben Ihre angespannten Muskeln also sicher massiv auf die Gefäße gedrückt, in denen Ihr Blut fließt – und nach dem, was wir gerade überlegt haben, hat Ihr Blut genauso fest zurückgedrückt?“ Mein Klient nickt erneut. „Also“, führe ich den Gedanken zu Ende, „ist auf diese Art Ihr ‚Hochdruck‘ entstanden: Sie haben angespannt, auf das Blut gedrückt, das hat auf die Gefäßwände zurückgedrückt; so entstand der gemessene ‚Hochdruck‘!“

Die Visualisierungen schaffen einen Anfang

Der Ingenieur fragt nachdenklich: „Und was machen wir jetzt?“ Ich überlege mit ihm gemeinsam: „Wenn Ihre angespannten Muskeln Hochdruck bewirken, indem die Gefäße durch die Spannung eng wurden, was müssten Sie tun, um weniger Druck zu erreichen?“

„Das Blut bräuchte Platz“, meint Herr F. Ich zucke innerlich zusammen. Ich wollte auf „Muskeln lockern, dann weniger Druck“ hinaus – dass er zu seinen Gefäßen „Platz!“ sagen könnte, fühlt sich für mich als Hypnotherapeut nicht gut an. Ich versuche, am Kern zu bleiben und nicht zu blockieren: „Okay … und wie würden Sie diesen Platz bekommen?“ Ich will immer noch auf „Entspannen!“ hinaus, aber den Gefallen tut er mir nicht. „Die Gefäße müssten weit werden, oder?“

„Ähm, ja.“ Ich lasse diese neue Zieldefinition auf mich wirken; immerhin sind wir von „Platz!“ jetzt weg. Ich entspanne mich erst einmal selbst und finde so doch zu einer nächsten Frage: „Wie würde sich das für Sie anfühlen, wenn Ihre Gefäße weit werden?“ Sein Gesicht ist ein einziges Fragezeichen, also formuliere ich neu: „Können Sie das irgendwie körperlich fühlen, diese Idee von ‚weit‘?“ Er zuckt die Schultern, wiederholt trocken: „Weit eben; weit ist weit.“

„Wenn Sie einem Chinesen die Idee von ‚weit‘ erklären müssten – wie würden Sie das Wort aussprechen, damit er ahnt, was Sie meinen?“ Er überlegt… und sagt dann viel weicher, gedehnter: „wwweiiiitttt“. Dabei breitet er seine Arme ein wenig aus. Ich greife beides auf, die Bewegung und das weich gesprochene Wort, und wir üben es gemeinsam: „Wwweiiiitttt“ … – mit weit geöffneten Armen. Wir seufzen es fast.

Vom Ziel zum Gefühl

Jetzt haben wir ein Wort für sein Ziel, fast auch ein Gefühl, dazu eine stimmige Bewegung. Ich bitte Herrn F., noch ein Bild zu finden. Er überlegt: Mit seiner Frau sei er gern am Bodensee gewandert. Am Ufer stehe ein Bänkchen, von dem aus sie über den See schauen und im Hintergrund die Berge sehen konnten. Das ist sein Bild für „weit“.

Ich bitte ihn, die Augen zu schließen, ein paar Mal auszuatmen, sich in Gedanken auf sein Bänkchen zu setzen, den See, die Berge zu sehen… Dann soll er „wwweiiittt“ sagen und die Arme ausbreiten. Er tut es. „Wie fühlt sich das an?“ „Sehr gut“, meint er und öffnet die Augen, schaut aber ein wenig ratlos.

Ich bitte ihn, jetzt sein Blutdruckmessgerät anzulegen. Dann sende ich ihn in sein Problemkino: „Herr F., denken Sie an das Wartezimmer … gleich misst der Arzt Ihren Blutdruck … malen Sie sich sein Gesicht aus, wenn Ihre Werte wieder hoch sind … und beobachten Sie, wie Sie sich in diesem Moment fühlen.“ Herr F. guckt mich erschrocken an, und ich aktiviere das Gerät: pfpfpfpfpf … – der Blutdruck ist hoch. Er zuckt die Schultern: „Sag ich doch!“

Ich lächle und wechsle nun den Film: „Bitte jetzt die Augen schließen … gehen Sie auf Ihr Bänkchen … der See … die Berge … erkennen Sie es schon? Beginnen Sie, das Gefühl der Weite zu fühlen? Atmen Sie ruhig drei- bis viermal tief aus –und denken Sie nun an ‚wwwweiiittt‘ … fühlen Sie es … erlauben Sie Ihrem Körper, dieses Gefühl der Weite zu übernehmen … wenn Sie mögen, machen Sie auch die passende Geste dazu …“

Erleben statt Nachdenken

Pfpfpfpfpf … ich messe ein weiteres Mal. 26 Punkte niedriger: „Schauen Sie mal hier.“ „Das kann nicht sein, das ist Zufall!“, schüttelt er den Kopf. Ich nicke, schaue streng und bitte ihn zurück ins Sprechzimmer, der skeptische Blick des Arztes vor ihm … pfpfpfpfpf … – der Blutdruck liegt sofort wieder 20 Punkte höher. Herr F. runzelt die Stirn, ich lasse ihn aber nicht nachdenken, sondern erleben: „Zurück auf Ihr Bänkchen!“ Wieder bekommt er zwei Minuten „Bodenseeweite und innere Weite“. Ich messe erneut, diesmal schaut er schon, während die Manschette sich aufpumpt, pfpfpfpfpf … immerhin wieder 15 Punkte niedrigerer Blutdruck.

Wir wiederholen es noch einige Male; die Differenz zwischen „Arzt“- und „Bodensee“-Messung wird zwar kleiner, aber nur weil er jetzt weniger Spannung entwickelt, wenn er das ärztliche Sprechzimmer visualisiert. Der Blutdruck sinkt insgesamt noch etwas, doch die Werte bei „Arzt“ sinken stärker als die ruhigen Werte vom „Bodensee“.

Ich bitte ihn, dies erst zu Hause zu üben und dann auch – und vor allem – beim nächsten Arztbesuch, im Wartezimmer.

Bei seinem dritten und letzten Besuch erzählt er, er habe „das Kunststückchen dem Arzt gezeigt“: Wie er nur durch Gedanken seinen Blutdruck verändern könne. Reaktion des Arztes: „So ein Blödsinn!“ Kommentar des Ingenieurs, verschmitzt, zu mir: „Diesmal lasse ich mir von dem nix mehr einreden!“

Durch Gedanken den Blutdruck verändern? „Blödsinn!“, meint der Hausarzt

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2022: Sehnsucht