Endlich Urlaub! Nur noch schnell das Telefon umstellen, den Computer runterfahren, der Kollegin tschüss sagen und dann die große Freiheit genießen. Trödeln, träumen, schlendern, schlemmen, Wolkenformationen bewundern, den Wind auf der Haut spüren, in Romanen versinken, Löcher in die Luft gucken, barfuß durchs Gras laufen, an Blüten schnuppern, fremden Stimmen lauschen, Muscheln sammeln, küssen, lachen, philosophieren, sich vom Sternenhimmel verzaubern lassen … Von wegen! Alles romantische Retrofantasien.…
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Alles romantische Retrofantasien. Schlendern und genießen war vorgestern.
Längst ist Urlaub eine ernste Angelegenheit. Keine Lizenz zum Ausruhen mehr, sondern ein wichtiger Punkt auf der To-do-Liste. Wie jedes Projekt muss auch das Projekt „Erholung“ sorgfältig geplant und systematisch abgearbeitet werden, inklusive Erfolgskontrolle und Projektbericht am Ende, Posting auf Facebook nicht zu vergessen. Der einst fröhlich zum Abschied hingeworfene Satz „Schönen Urlaub. Erhol dich gut!“ ist mittlerweile zum kategorischen Imperativ mutiert. Der Subtext lautet: Erhol dich gefälligst effektiv, damit du hinterher doppelt so viel wegschaffen kannst. Und wenn dir das nicht gelingt und du danach nicht wie Phönix aus der Asche wieder im Büro auftauchst, hast du was falsch gemacht und musst dringend lernen, dich richtig zu erholen. Aus der Erlaubnis zu entspannen ist ein Befehl geworden. Du musst dich regenerieren! Und zwar gründlich. Die Fähigkeit, den Akku aufzuladen, wie Erholung neuerdings umschrieben wird, gilt im Zeitalter grassierender stressbedingter Erkrankungen als Schlüsselkompetenz.
In den eigenen Rhythmus zurückfinden
„Erholung ist extrem wichtig geworden, weil die gestiegenen Leistungserwartungen im Beruf dazu führen, dass wir uns unbewusst immer stärker belasten. Wir brauchen den Urlaub, um diese Belastungen auszugleichen, aber wir haben das Gefühl dafür verloren, wie wir wieder ins Gleichgewicht kommen“, sagt der Hamburger Psychologe und Facharzt für Psychotherapie Michael Sadre-Chirazi-Stark. 14 Jahre war er Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Asklepios-Westklinikums Hamburg. Seit 2013 leitet er ein psychotherapeutisches Zentrum zur Behandlung von Stress und Erschöpfung. Ein wichtiger Aspekt von Erholung im Urlaub sei, wieder in den eigenen Rhythmus zurückzufinden. Wer vom Chronotyp her eigentlich eine Eule ist und erst mittags richtig auf Touren kommt, wegen des Jobs aber früh aufstehen und zeitig ins Bett gehen muss, genießt es im Urlaub, endlich auszuschlafen und lange aufzubleiben. „Die beruflichen Anforderungen zwingen uns oft einen fremden Rhythmus auf, den wir aushalten müssen und der uns Energie kostet. Der Urlaub gibt uns die Chance, das ein wenig auszugleichen und so wieder in die Homöostase, die Selbstregulation zu kommen.“
14-tägige Fernreisen mit Zeitverschiebung hält Stark deshalb für kontraproduktiv. „Die Erholung, die eigentlich Sinn des Urlaubs ist, fällt dann völlig flach, weil wir zehn Tage brauchen, um uns an die fremde Zeitzone zu gewöhnen.“ Mit Sorge beobachtet Stark, dass Urlaub zunehmend zum Statussymbol wird und der eigentliche Sinn von Ferien in den Hintergrund gerät. Surfen in der Karibik, Schnorcheln im Roten Meer, Trekking im Himalaya. Das alles sei sehr attraktiv, habe aber mit Erholung wenig zu tun. „Urlaub soll dem Körper helfen, sich zu regulieren und ins Gleichgewicht zurückzufinden. Das passiert nicht, wenn wir der Maxime ,schneller, höher, weiter‘ folgen, sondern nur, wenn wir uns an dem orientieren, was wir wirklich brauchen, um wieder in Balance zu kommen.“ Bei vielen sei der Zugang zu den Quellen der Erholung verschüttet. Nicht nur bei seinen Patienten in der Klinik registriert der Arzt und Psychologe einen erschreckenden Mangel an Wissen über grundlegende Zusammenhänge zwischen Dauerbelastung und stressbedingten Symptomen.
Doch wie kann das sein? Michael Stark, der selbst ein Burnout-Präventionstraining entwickelt hat, glaubt, dass trotz der Omnipräsenz des Themas in den Medien insbesondere das Wissen über das seelische Gleichgewicht nicht wirklich angekommen ist. „Dass der Körper Erholung braucht, ist den meisten klar, aber dass auch die Seele sich wieder regulieren muss, ignorieren viele nach wie vor.“ Um im Urlaub den notwendigen Ausgleich zu finden, sei es wichtig, sich gut zu kennen, den eigenen Persönlichkeitsstil zu berücksichtigen und eine innere Achtsamkeit zu entwickeln. Was tut mir gut? Was belastet mich in meinem Arbeitsalltag besonders? Was könnte ein gutes Gegengewicht dazu sein?
Den Seelenenergietank wieder auffüllen
In der therapeutischen Arbeit mit seinen Patienten benutzt Stark gerne ein Bild. Er spricht vom Seelenenergietank, aus dem wir unsere Alltagskräfte schöpfen. „Der Seelenenergietank funktioniert ähnlich wie der Benzintank unseres Autos. Der Benzintank hat allerdings den Vorteil, dass die rote Lampe anspringt, wenn die letzten fünf Liter angebrochen werden. Dann steuern wir automatisch die nächste Tankstelle an, weil wir wissen, dass wir sonst unterwegs liegenbleiben.“ Auch der Seelenenergietank hat eine Art rote Lampe. Um seine Signale zu verstehen, brauchen wir jedoch mehr Aufmerksamkeit und Wissen. Gereiztheit, Erschöpfung, Schlafstörungen, Pfeifen im Ohr, lange anhaltende Verspannungen oder ständig wiederkehrende Erkältungen sind Anzeichen dafür, dass wir auf Reserve laufen. „Meist tun wir dann das Gegenteil dessen, was wir tun müssten, wenn wir das Prinzip des Seelenenergietanks verstanden hätten. Wir nehmen eine Tablette, um den Schmerz wegzudrücken, trinken ein Glas Rotwein mehr, um einschlafen zu können, oder machen eine anstrengende Städtereise, weil wir nicht zugeben wollen, dass wir wirklich Ruhe brauchen.“
Um den Seelenenergietank in der Freizeit und im Urlaub wieder aufzufüllen, ist es wichtig, sich nicht an äußeren Trends zu orientieren, sondern an inneren Bedürfnissen und an dem, was im Arbeitsalltag zu kurz kommt. Wer vom Persönlichkeitstyp her neugierig und offen ist und auch einen Job hat, in dem er ständig in der Öffentlichkeit steht und neue Kontakte knüpft, braucht im Urlaub die Möglichkeit, sich zurückzuziehen und mal allein zu sein, und findet bei einer Paddeltour oder einer Meditationswoche im Kloster eher Erholung als bei einer Kreuzfahrt oder im Ferienhaus mit vielen Freunden. „Wer vom Persönlichkeitsstil her sehr fürsorglich ist und auch noch einen sozialen Beruf hat, in dem er ständig für andere da sein muss, sollte einen Wellnessurlaub machen und sich mal selbst umsorgen und verwöhnen lassen“ rät Michael Stark. Menschen, die eher zwanghaft und kontrollierend sind, könnte ein Abenteuerurlaub guttun.
Dass Kontrasterlebnisse wichtig sind, um einseitige Beanspruchungen und Belastungen auszugleichen, glaubt auch Carmen Binnewies, Professorin für Arbeitspsychologie an der Universität Münster. Sie erforscht, wie Menschen Arbeitsstress bewältigen und am besten regenerieren. Bisher gebe es noch wenige Studien, die untersuchen, welche Art von Urlaub für wen geeignet ist. „Es gibt jedoch einige Hinweise darauf, dass Kontrasterfahrungen generell gut sind für die Erholung.“ Binnewies verweist auf eine Studie ihrer Mannheimer Kollegin Sabine Sonnentag. Die Organisationspsychologin konnte nachweisen, dass Flugbegleiter sich schlecht erholen, wenn sie abends mit Kollegen zusammen sind. Ihr Fazit auch für andere Berufsgruppen: Anforderungen, die man während der Arbeit hat, sollte man in der Freizeit und im Urlaub meiden. „Das Ergebnis der Flugbegleiterstudie ist interessant, weil soziale Aktivitäten sonst bei sämtlichen Stichproben zu Urlaub und Erholung als wichtiger positiver Faktor genannt werden. Dass das auf Flugbegleiter nicht zutrifft, spricht dafür, dass Kontraste wichtig sind. Wer ständig nett zu Kunden sein muss, entspannt sich nicht beim Drink mit Freunden an der Hotelbar, sondern vielleicht eher auf einer Wandertour allein oder nur zu zweit“, so Carmen Binnewies.
Erholungseffekt von Urlaub lässt schnell nach
Obwohl immer wieder die Aussage kursiert, dass richtige Erholung erst nach zehn Tagen Urlaub anfange, gibt es empirisch keinen Hinweis darauf, dass ein längerer Urlaub mehr Erholung bringt als ein kürzerer. Unabhängig davon, ob der Urlaub nun zwei oder drei Wochen dauert, lässt der Erholungseffekt bereits kurz nach Urlaubsende spürbar nach, die Leichtigkeit des Seins ist verflogen und der vorherige Zustand wiederhergestellt. Die Psychologin Jessica de Bloom von der Universität Nimwegen zog bereits 2009 in einer Übersichtsarbeit zu den bislang erschienenen Urlaubsstudien das ernüchternde Fazit, dass der langersehnte Urlaubseffekt meist bereits innerhalb der ersten Woche, spätestens jedoch nach vier Wochen verschwunden ist. Je größer der Arbeitsberg, der am ersten Tag wartet, desto schneller schmilzt das Entspannungsgefühl dahin.
Daraus solle man jedoch auf keinen Fall die Konsequenz ziehen, weniger oder keinen Urlaub mehr zu machen. „Auch wenn der Effekt nicht so lange anhält, wie man sich das wünscht, ist Urlaub trotzdem sehr wichtig. Wir brauchen Zeiten, in denen wir abschalten“, sagt Carmen Binnewies. Die Erholungsforscherin rät dazu, die Urlaubstage gut übers Jahr zu verteilen und mehrere Kurzurlaube zu planen, um öfter in den Genuss der positiven Wirkungen zu kommen. Doch wenn die Länge keine große Rolle spielt, wovon hängt es dann ab, ob der Urlaub Erholung bringt? „Es klingt vielleicht banal, aber ganz entscheidend ist, ob jemand zufrieden ist mit seiner Urlaubsgestaltung und den Urlaub genießt oder damit hadert“, meint Binnewies. Vor allem wenn man mit der Familie verreist, sei es deshalb wichtig, darauf zu achten, dass auch die eigenen Interessen und Bedürfnisse berücksichtigt werden und für jeden etwas dabei ist.
Als größter Erholungskiller wirken negative Gedanken an die Arbeit. Wer in der Hängematte oder im Strandcafé über unerledigte Aufgaben, missratene Präsentationen und Auseinandersetzungen mit dem Vorgesetzten grübelt oder sich Sorgen macht, wie es in der Firma weitergeht, erholt sich nachweislich nicht. Wer sein Smartphone mit an den Strand oder in die Berghütte nimmt, um regelmäßig die Mails aus der Firma zu checken, oder auf Facebook verfolgt, welche beruflichen Erfolge die Kollegen posten, während man am Pool liegt, kann gleich zu Hause bleiben. Carmen Binnewies spricht von vier wesentlichen Erholungserfahrungen:
1. Abschalten von der Arbeit: die Arbeit gedanklich hinter sich lassen, Abstand gewinnen, sich innerlich freimachen
2. Entspannung: Ruhe, Gelöstheit und Gelassenheit erleben, körperlich und mental
3. Mastery-Erfahrungen: körperliche oder intellektuelle Herausforderungen meistern, einen Berg besteigen, Spanisch lernen, einen See durchschwimmen
4. Kontrolle über die Freizeit: frei wählen können, wann und wie man etwas macht, das einem Freude bereitet.
Balance zwischen Entspannung und Bewegung ist ideal
Dass eine gelungene Mischung aus Entspannung und Bewegung Erholung begünstigt, zeigt sich konsistent in allen Untersuchungen. Besonders deutlich konnte nachgewiesen werden, wie wichtig Sport für Regeneration im Urlaub und in der Freizeit ist. Binnewies führt das auf den Mastery-Effekt zurück, das gute Gefühl, etwas bewältigt zu haben. Eine Joggingrunde um den See, eine Fahrradtour in die benachbarte Kleinstadt, ein Aufstieg auf den Berg, den man vom Balkon der Ferienwohnung aus sieht. Der Sportmediziner Ingo Froböse, Professor für Prävention und Rehabilitation an der Deutschen Sporthochschule Köln, ist davon überzeugt, dass Sport noch aus anderen Gründen zentral für die Regenerationsfähigkeit ist. „Durch Bewegung bauen wir Spannungen ab, verbrauchen die Adrenaline, die der Körper in Stresssituationen ausschüttet, und bringen so unsere Hormone wieder in Balance. Durch körperliche Aktivität normalisieren wir unsere Homöostase und schaffen so erst die Voraussetzung für Entspannung.“
Die meisten Menschen hätten jedoch völlig falsche Vorstellungen von körperlicher Aktivität und zu wenig Wissen, welche Bewegungsdosis zu ihnen passt und heilsam wirkt. „Leider betreiben die meisten Sport nur deswegen, weil ihr Kopf es ihnen befiehlt.“ Eine rein kopfgesteuerte sportliche Aktivität bringe jedoch in der Regel Überforderungs- und Frusterlebnisse. Das Ergebnis ist auf lange Sicht, dass man die Lust verliert und lieber auf der Couch liegenbleibt, als die Laufschuhe anzuziehen und eine Runde durch den Park zu drehen. Um dauerhaft Freude an Bewegung zu haben, müsse man das Prinzip der subjektiven Unterforderung berücksichtigen. „Subjekte Unterforderung heißt: Wow, war das schön, das mache ich morgen wieder“ erklärt Froböse. „Körperliche Aktivität wirkt nur dann regenerierend und entspannend, wenn wir danach nicht vollkommen erledigt aufs Sofa fallen, sondern aufhören, solange wir gute Gefühle haben, und nicht erst, wenn wir nicht mehr können.“
Einmal im Jahr messen Froböse und sein Team Herzfrequenz und Laktatwert der Jogger im Kölner Stadtwald und untersuchen die Ermüdungserscheinungen. „80 Prozent der Männer laufen zu schnell und bringen sich dadurch um die Belohnung, die das Laufen für sie bereithielte, wenn sie das Prinzip der subjektiven Unterforderung berücksichtigen würden.“ Wer sich beim Sport nur an Zeiten, Pulsfrequenzen und Kilometern orientiert, überträgt die Leistungsanforderungen im Beruf auf die Freizeit und sabotiert auf diese Weise Wohlbefinden, Erholung und Genuss. „Wer beim Sport vor allem Leistung und nicht das Wohlbefinden in den Vordergrund stellt, kann Bewegung nicht zur Regeneration nutzen. Übertriebene körperliche Aktivität, die die eigenen Leistungsgrenzen nicht berücksichtigt, wirkt sogar eher kontraproduktiv“, sagt der Sportmediziner.
„Bewegung lebt von Ritualen“
Dabei gebe es nichts Besseres als wohldosierte körperliche Aktivität, um nach der Arbeit oder im Urlaub Stress abzubauen, den Kopf freizubekommen und in einen entspannten Modus zu finden. „Im Alltag gehen wir oft mit einem hohen Adrenalinspiegel aus dem Büro, kaufen unterwegs noch schnell ein, stehen im Stau und kommen entsprechend geladen zu Hause an.“ Dann gibt es nichts Besseres, als die Turnschuhe anzuziehen und eine Runde durch den Park zu laufen, zur Lieblingsmusik zu tanzen, einen flotten Spaziergang zu machen, zum Tischtennistraining oder zum Yoga zu gehen oder was auch immer einem Spaß macht.
Optimal ist, wenn die Laufschuhe immer griffbereit vor der Tür stehen oder die Sporttasche schon gepackt ist. „Bewegung lebt von Ritualen. Ich darf nicht mehr darüber nachdenken“, sagt Froböse. „Rituale sind entlastend und sorgen dafür, dass wir in den Genuss der Regeneration kommen. Das bedeutet aber noch nicht, dass wir uns erholen.“ Regeneration und Erholung sind in der Sportmedizin unterschiedliche Qualitäten. „Regeneration ist, wenn ich abends nach Hause gehe und am nächsten Morgen den Ursprungszustand wiederhergestellt und die verbrauchten Ressourcen wieder kompensiert habe“, erklärt Froböse. Erholung hingegen bedeute, einen Zustand zu erreichen, der deutlich über dem normalen Leistungsniveau liegt.
Diese Unterscheidung, die im Sport sehr ernst genommen wird, sei auch für den Umgang mit Urlaub und Freizeit wichtig. „Leider scheitern viele schon an der Regeneration, weil sie viel zu wenig Pausen machen oder die Pausen nicht zum Auftanken nutzen. Wer in der Mittagspause mit den Kollegen essen geht und dabei ununterbrochen über die Arbeit redet, baut keine Ressourcen auf, sondern ab und ist danach weder erfrischt noch entspannt.“ Wer freitags nicht auf dem Zahnfleisch nach Hause kriechen wolle, müsse diszipliniert Pausen einhalten und sie so verbringen, dass er die verbrauchte Energie wiedergewinnt und sich danach erfrischt und aufgeladen fühlt. Das Wochenende und der Urlaub sollten der Erholung dienen.
Selbstmanagement und Selbstfürsorge
Aus Sicht des Sportmediziners ist Urlaub wichtig, um Abstand zu gewinnen, Ermüdung entgegenzuwirken und genuss- und leistungsfähig zu bleiben. Man solle jedoch nicht den Fehler machen, alle Erholungswünsche auf die wenigen Urlaubswochen zu projizieren. Viel wichtiger sei, im Alltag für ein gutes Gleichgewicht aus Anforderung, Entspannung und Bewegung zu sorgen und regelmäßig zu überprüfen, ob die Mischung noch stimmt. Auch die Arbeitspsychologin Carmen Binnewies konzentriert sich in ihrer Forschungsarbeit auf Erholung im Alltag. Aktuell gilt ihr besonderes Interesse der Frage, wie Abschalten vom Job gelingen kann. „Viele, die wir befragt haben, berichten, dass es ihnen im Urlaub und in ihrer Freizeit schwerfällt, belastende Gedanken an die Arbeit abzuschütteln.“ Das liege auch daran, dass Arbeit sich durch Smartphones und Heimarbeit immer mehr entgrenze.
Binnewies setzt auf Selbstmanagement. „Man kann sich disziplinieren und die klare Entscheidung treffen, zu Hause grundsätzlich nicht zu arbeiten oder nur zu begrenzten Zeiten in einem klar abgegrenzten Bereich. Also keine Mails auf dem Sofa checken und keine Ordner auf dem Küchentisch bearbeiten, sonst durchdringt die Arbeit das gesamte Privatleben.“ Noch besser funktionieren nach ihrer Erfahrung heilige Erholungs- und Auszeiten. „Wichtig ist, dass man Kollegen mitteilt, wann man beruflich erreichbar ist und wann nicht, und sich auch daran hält.“ Sie rät, Erholungspausen im Voraus zu planen und in den Kalender einzutragen wie einen beruflichen Termin. Dass die innere Einstellung entscheidend ist, glaubt auch der Arzt und Psychologe Michael Stark. Um dauerhaft in einem guten Gleichgewicht zu leben, sei es wichtig, aus dem selbstausbeutenden Modus auszusteigen und Selbstfürsorge zu lernen. „Viele verknüpfen ihren Selbstwert ausschließlich mit Leistung. Dadurch werden sie leicht zum Opfer des ökonomischen Drucks, gehen über ihre Grenzen und beuten sich selbst aus. Wer hingegen sagt, ich bin ein Mensch, der genießen kann, daraus schöpfe ich meine Selbstbestimmung und meinen Selbstwert, kann sich besser abgrenzen.“
Die beste persönliche Prävention nütze jedoch nichts, wenn das berufliche Umfeld zu belastend sei. Michael Stark sieht auch die Unternehmen in der Pflicht. Wenn Mitarbeiter am Wochenende und im Urlaub mit Anrufen, Anfragen und Aufträgen per Mail belästigt werden, müsse man sich über die steigende Anzahl psychischer Erkrankungen nicht wundern. Er hat jedoch den Eindruck, dass Mitarbeiter in den Personalabteilungen vieler Firmen inzwischen umdenken. „Unternehmen realisieren allmählich, wie kostspielig es ist, wenn sie ihre gut ausgebildeten Mitarbeiter durch Krankheit verlieren“, beobachtet der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Wenn er Vorträge für Unternehmen hält, spricht er bewusst drastisch von Wartungsintervallen. „Ich sage ganz brutal: Jede Maschine hat ein Wartungsintervall. Von Menschen wird angenommen, sie bräuchten das nicht. Das ist ein großer Irrtum. Der Urlaub ist ein kleiner Teil des Wartungsintervalls, das wir genauso dringend brauchen wie ein freies Wochenende und einen Feierabend, der den Namen verdient.“
Was man über Erholung wissen sollte
Ganz wichtig: Ehe Sie eine Auszeit oder einen Urlaub planen, sollten Sie sich fragen, wovon Sie sich erholen müssen. Grundsätzlich gilt: Kontrasterfahrungen sind wichtig! Wenn Sie ständig in der Öffentlichkeit stehen und mit vielen wechselnden Menschen in Kontakt sind, brauchen Sie Zeiten, in denen Sie sich von der Welt zurückziehen und mal allein sein können. Wer in einem sozialen Beruf tätig ist, ständig für andere da sein muss, sollte in Urlaubszeiten selbst im Mittelpunkt stehen und „bedient“ werden. Wer ständig freundlich zu Kunden sein muss, sollte seine Erholung weniger in Gruppen suchen.
Fernreisen mit Zeitverschiebung bringen Anregung. Erholung bieten sie schon allein deshalb wenig, weil der Körper einige Tage benötigt, um sich an die Zeitverschiebung zu gewöhnen.
Mehrere, gut übers Jahr verteilte Urlaubstage sind sinnvoller als der große mehrwöchige Urlaub am Stück.
Vorsicht vor zu großen Erwartungen: Der Erholungseffekt hält nach dem Urlaub nicht lange an. Spätestens nach vier Wochen ist er verschwunden.
Faul sein ist erlaubt, aber in Maßen. Die Balance zwischen Entspannung und Bewegung ist wichtig. Denn durch sportliche Betätigung werden Spannungen abgebaut, und man erlebt sich als kompetent – gute Voraussetzungen für die Regeneration. Deshalb: Nicht nur im Urlaub die Joggingschuhe anziehen oder den Tennisschläger schwingen: Die beste Erholung garantiert die regelmäßige, in den Alltag integrierte Bewegung.
Auch im Alltag sollte man sich regelmäßig Zeit nehmen für Pausen. Lieber nicht mit Kollegen in der Mittagspause den neuesten Klatsch durchsprechen, sondern lieber allein einige Schritte gehen oder auf der Yogamatte Atemübungen machen.
Liebesbeziehung mit dem eigenen Sofa
Erschöpfung signalisiert: Eine Pause wäre angebracht. In der Regel kommt dieses Signal ungelegen, die meisten Menschen ignorieren es und hören nicht die Botschaft, „die zum Nicht-Tun inspiriert“, meint Byung-Chul Han, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin, in seinem Buch Müdigkeitsgesellschaft. Das „Nicht-Tun“ wird verschoben, auf freie Zeiten vertagt, was nicht bedeutet, dass dann – endlich – die Hände in den Schoß gelegt werden. Es wird nur etwas anderes getan. „Die meisten Menschen versuchen in ihren hektischen, überbordenden Alltag zwischen die normalen Geschäftstermine noch zusätzliche Verpflichtungen wie Sport oder Geselligkeit einzubauen, denen sie dann hinterherhetzen müssen, weil sie den Überblick verlieren und angesichts ihres übervollen Kalenders in Stress geraten“, stellt der Literatur- und Medienwissenschaftler Falko Löffler fest.
Soll die ganz normale Erschöpfung nicht zum totalen Ausbrennen führen, braucht es die ganz unspektakulären, aber regelmäßigen Zeiten des Nicht-Tuns. Es gibt sie, auch im noch so hektischen modernen Alltag. Man muss sie nur wahrnehmen, zum Beispiel die Zeitlöcher zwischen den Tätigkeiten. Nutzen wir sie, können wir uns einen regelrechten „Pausenwohlstand“ anlegen, wie der Zeitforscher Karlheinz A. Geißler es nennt. Dazu gehört die kurze Wartezeit an der roten Ampel oder in der langen Schlange an der Supermarktkasse, dazu gehört auch ein Wochenende ohne Termine, dazu gehört das scheinbar untätige Stillsitzen und Aus-dem-Fenster-Schauen.
Eine ganz ungewöhnliche Form des Nicht-Tuns schlägt Falko Löffler in seinem Buch Bin ich blöd und fahr in Urlaub? Zuhausebleiben ist der beste Trip vor. Seine Idee klingt in unseren Ohren, die wir ja Reiseweltmeister sind, skurril: Statt in Urlaub zu fahren, so Löffler, sollen wir Stubenhocker werden und eine „Liebesbeziehung mit unserem Sofa“ beginnen. Was zunächst nach Verweigerungshaltung und ungesundem Rückzug klingt, hat bei näherem Hinsehen seinen Reiz. Aus eigener Erfahrung weiß wohl jeder, dass stimmt, was der Autor schreibt: „Reisen und die andauernde Jagd nach Wellness kann ziemlich erschöpfend sein.“ Zudem hält Löffler es überhaupt nicht für gesichert, dass der Urlaub das bringt, was man sich von ihm verspricht: Erholung. Die ist allenfalls kurzfristig. Kommt man danach wieder nach Hause, stellt man fest: „Alles beim Alten. Sie haben immer noch den gleichen Beruf, die gleichen Nachbarn, die gleichen Lebensumstände. Was Sie vor dem Urlaub genervt hat, nervt Sie immer noch.“ Für Falko Löffler gibt es nur eine radikale Konsequenz: „Werden Sie Stubenhocker.“ Das hat Vorteile: „Sie brauchen nicht ans andere Ende der Welt jetten, um die Seele baumeln zu lassen“, das geht auch zu Hause. Und zu Hause kann man sich darum kümmern, sein Leben in den Griff zu bekommen, „anstatt davor zu fliehen“.
LITERATUR
Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft , Matthes & Seitz, Berlin 2010)
Falko Löffler: Bin ich blöd und fahr in Urlaub? Zuhausebleiben ist der beste Trip. Goldmann, München, 2014.