Wer nicht handeln kann, muss fühlen

Die Crux bei allem Erzählten und Erinnerten: Der Plot steht fest. Wir können nicht eingreifen. Nur mitfühlen. Ein Essay von Fritz Breithaupt.

Der Forscher, Fritz Beithaupt, sitzt lächelnd vor einer Tafel , vor ihm steht ein präpariertes Fossil
© Ryan Hulvat für Psychologie Heute

Fritz ist so ein vernünftiges Kind, schrieb meine erste Grundschullehrerin, immerhin eine bayrische Prinzessin von und zu, in mein Zeugnis. Die musste es ja wissen. Andere nannten es Besonnenheit. Doch wozu führt die Besonnenheit eines Kindes und was wird aus ihm? Auch die Besonnenheit hat ihre Schattenseiten.

Meine vernünftige Besonnenheit war zu Zeiten der antiautoritären Erziehung der Siebziger auf jeden Fall auffällig. Schon vor der Schulzeit war sie meinen Eltern ein Dorn im Auge. Ich war vier und fünf,…

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der Siebziger auf jeden Fall auffällig. Schon vor der Schulzeit war sie meinen Eltern ein Dorn im Auge. Ich war vier und fünf, als mein Vater als Diplomat in London arbeitete. In der deutschen Botschaft wurden unter dem Personal bisweilen wenig geliebte Umschläge verteilt. In ihnen stand, wer wo die Bundesrepublik zu repräsentieren hatte.

So konnte etwa der Verband für Deutsche Schäferhunde in Birmingham aus Anlass seines 75-jährigen Bestehens einen Vertreter der Republik anfordern. Oder eine deutsche Niederlassung eines Maschinenbauers konnte eine Werkeröffnung feiern, was natürlich ebenfalls hochoffizielle Anwesenheit verlangte.

Unter diesen Umschlägen waren auch einige, die spezifisch die Anwesenheit einer Familie mit Kindern erforderten. Zuoberst darunter war derjenige der royal family, die zu bestimmten Tagen wie Weihnachten Gäste aus den wichtigen Botschaften einlud. Und als damals einzige Familie mit einem passablen Kind in der deutschen Botschaft ging dieses Los stets an meine Eltern. Dieser besonnene Junge, da war man sich sicher, war hinreichend artig und wusste sich zu benehmen. Tatsächlich schien Queen Mum den kleinen Deutschen im Matrosenanzug dann auch zu mögen, und sie erkundigte sich nach mir. Mein Vater dagegen war schlechter Laune über den in Höflichkeiten verlorenen Nachmittag.

Die Rebellion habe ich in späteren Jahren reichlich nachgeholt, doch irgendwie hat mich auch da diese kindliche Besonnenheit begleitet, die, so scheint es mir heute, bei aller Bravheit schon im Keim etwas von Auflehnung hatte. Sie muss wohl irgendwo in meiner Londoner Kindheit wurzeln. Vielleicht im Naturhistorischen Museum.

Das Museum als Kindergarten

Denn es war so: Im Kindergarten für Diplomatenkinder war ich auf keinen grünen Zweig gekommen. Stattdessen hatte meine Mutter damals eine andere Idee: In London gab es viele Museen. Also lieferte sie mich da morgens ab, gab einem der Aufseher einen Papierbeutel mit Proviant für mich. Auch die anderen Aufseher und Aufseherinnen kannten und erkannten mich, schon allein an dem besagten Matrosenanzug, in den mich meine Mutter jeden Morgen steckte.

Im Museum nannten sie mich den deutschen Diplomaten. So zog ich dann meine Runden, bis ich am Nachmitttag wieder von meiner Mutter eingesammelt wurde. Heutzutage würde meinen Eltern das Sorgerecht entzogen werden. Doch damals schien niemand daran Anstoß zu nehmen. Einem vernünftigen Kind stehen eben alle Türen offen.

Meistens, so berichtete meine Mutter, war der junge deutsche Diplomat tief im Gespräch mit dem alten Aufseher verstrickt, wenn sie mich am Nachmittag abholte. Was ich nicht erinnere, was ich aber ebenfalls von meiner Mutter weiß, ist, dass die Aufseher und Aufseherinnen ausschließlich englisch mit mir redeten, während ich nur deutsch mit ihnen sprach. Meine Mutter beobachtete diese Gespräche sicherlich zufrieden, weil sie als Belege für meine Vernünftigkeit gelten konnten und zudem dafür, dass es mir im Museum gutging.

So wurden die Museen mein Kindergarten, allen voran das Natural History Museum. Da waren die klugen Augen der Pfeilgiftfrösche, die sonderbaren Schweine mit zu langer Nase im tropischen Regenwald und natürlich der riesige Wal, der über mir wie eine Wolke vorüberdonnerte. Zwischen all den ausgestopften Tieren war viel los, und vor allem wurde viel gesprochen. Ich war im dauernden Dialog mit diesen Tieren, wenn ich mich vor sie stellte und sie anschaute. Wie beredt ihre Blicke waren! Jedes drang darauf, mir seine Geschichte zu erzählen.

Besonders hatten es mir jene Tiere angetan, von denen ich wusste, dass sie bereits seit langer Zeit ausgestorben waren. Das Museum hatte eine beachtliche Sammlung von ihnen. Bereits in der Empfangshalle erwartete einen das Gerippe eines gigantischen Pflanzenfressers als Zeuge einer verlorenen Welt. In großen Glasvitrinen brachten halb gemalte und halb nachgestellte Landschaften eine längst vergangene Urzeit wieder zum Leben. Überhaupt hatte die Vorsilbe „ur-“ einen besonderen Klang für mich. Da standen zum Beispiel ein Dodo und ein Riesenalk, vielleicht die letzten je von Menschen gesehenen Vertreter ihrer Art. Hier verbrachte ich viel Zeit. Es war mir, als könnte ich die Geschichten dieser Tiere hören und sehen. Doch dies war auch ein Grund meines Leidens.

Das Dilemma des besonnenen Kindes

Denn ich wusste ja natürlich, was für ein Schicksal auf diese Wesen und ihre Gattung wartete. Was redet ein Kind mit einem Tier aus der Vergangenheit, von dem es bereits weiß, dass es zu seinen eigenen Lebzeiten nicht mehr am Leben ist? Das war für mich keine rhetorische Frage. Ich wollte jedes dieser Tiere natürlich warnen und retten. Ich wollte, dass alles anders kommt.

Dem Dodo flüsterte ich in etwa zu: „Versteck dich, wenn die Matrosen mit den großen Schiffen kommen.“ Dem Mammut sagte ich, es solle nicht in die Fallen der Steinzeitjäger tappen. Und dem Säbelzahntiger riet ich, vor allen Menschen wegzulaufen: „Du denkst, du bist stärker, und du bist ja auch das stärkste und kräftigste aller Säugetiere, aber am Ende schlagen sie dich doch tot.“

Zugleich wusste ich natürlich, dass die Rettung nicht erfolgen würde, denn ich redete ja mit einem ausgestorbenen Lebewesen, für das jede Hilfe zu spät kam. Aber wenn ich meinen Freund – den Tiger, den Dodo – jetzt nicht warnen würde, würde ich ihn ja anlügen. So musste ich mich zerknirscht diesem Gespräch stellen, von dem ich wusste, dass es vergebens wäre. Vor mir stand ein totes Tier. Oder noch schlimmer: Eben weil meine Rede und Warnung das Tier nicht erreichen und somit retten würde, schien ich auf eine vertrackte Weise Mitschuld an seinem Sterben und Aussterben zu haben.

Das war nun fast so, als würde meine Rede, weil sie nicht half, diese Kreatur quasi magisch an den Ort für ausgestorbene Tiere befördern, an dem sie nun vor mir stand. Meine Gesprächssituation, um es einmal kommunikationstheoretisch zu sagen, war also nicht nur komplex, sondern irgendwie total bescheuert. Das verstand ich zwar nicht, aber ich fühlte und empfand meine Hilflosigkeit.

Das Dilemma des besonnenen Kindes, wenn ich das jetzt einmal so verallgemeinern darf, ist denn auch nicht das Versagen am Unartigsein. Es ist vielmehr die Voraussicht. Es ist das Wissen, was alles kommen kann und wird und schon gekommen ist und was man doch nicht aufhalten kann. Das Drama war in meinem Kopf.

Stille-Post-Spiele

Diesem Drama im Kopf bin ich nach wie vor auf der Spur. Ich nenne es einmal die Falle der Besonnenheit: sich alles vorstellen zu können, bis man am Ende Mitschuld hat und doch nichts tun kann. Ich weiß nicht, ob es für dieses Gefühl einen treffenden Namen gibt. Ich denke aber, dass es ein Gefühl ist, das wir alle kennen.

Inzwischen bin ich als Wissenschaftler tätig und genieße die Unabhängigkeit, die mit einer Professur auf Lebenszeit einhergeht. Eine Professur ist ein großartiger Vertrauensbeweis, für den wir nicht dankbar genug sein können. Forschung treibt einen nun in viele Richtungen, aber sie erlaubt auch, den eigenen Neigungen und Prägungen nachzugehen. Und so bin ich, gestärkt von den Methoden einer Reihe von Disziplinen, dazu gekommen, das narrative Denken zu erforschen. Bisweilen kommt es mir dabei so vor, als hätte ich den Weg in meine Kindheit in London zurückgefunden. Es geht mir darum zu erkennen, wie wir unser Leben in kleinen Erzählungen erinnern, erleben, planen und kommunizieren.

Für diesen Zweck habe ich an der Indiana University in den USA ein Labor gegründet, das Experimental Humanities Lab, in dem Fachleute und Studierende aus verschiedenen Feldern eingeladen sind, ihre Forschungen zu Narrationen und zu Empathie durchzuführen. Forschen heißt dabei nicht, dass immer teure Apparaturen aufgebaut werden müssen. Eine der Methoden, die wir anwenden, sind Stille-Post-Spiele. Wir erzählen jemand eine Geschichte und bitten diese Person, die Geschichte in ihren eigenen Worten weiterzuerzählen. Oder wir geben ihr eine Geschichte zu lesen und erbitten eine schriftliche Nacherzählung.

Dieses Nacherzählen und Weitersagen einer Geschichte ist bestens dazu geeignet, um festzustellen, was ihren Kern ausmacht und also unverändert erhalten bleibt, was übertrieben wird oder was einfach wegfällt. Wir spielen solche Stille-Post-Spiele mit tausenden von Freiwilligen, häufig mit sehr erstaunlichen Ergebnissen, um das narrative Denken besser zu verstehen.

Von Zeitzonen und Bezugsrahmen

Was ist nun das Besondere am narrativen Denken?

Das Denken in Narrationen erzeugt seine eigene Zeitzone und seinen eigenen Raum. Es schafft sich ein Museum. Insofern war mein stummer Kindheitsdialog mit den ausgestorbenen Tieren gar nicht so ungewöhnlich. Wer in eine Erzählung eintritt, begibt sich in gewisser Weise in eine Welt jenseits unserer Eigenzeit. Normalerweise befinden wir uns mental im Hier und Jetzt. Ich sitze gerade in einem Ikea-Sessel, schreibe mit dem Laptop auf dem Schoß und schiele enttäuscht in den leeren Kaffeebecher.

Und wer weiß, wo Sie gerade sind und diese Ausgabe von Psychologie Heute lesen? Vielleicht war Ihnen diese Umgebung bis eben gar nicht gewahr. Denn wenn wir in eine Narration eintreten, verändert sich unser Bezugsrahmen. Statt in unserem eigenen Hier und Jetzt sind wir mental auf einmal in dem Hier und Jetzt der Geschichte.

Wir alle haben, was ich ein „mobiles Bewusstsein“ nenne. Wir können vergangene Momente zurückrufen und sie also erneut erleben. Wir können uns in die Perspektive eines anderen Menschen hineinversetzen und Empathie empfinden. Oder wir können uns etwas vorstellen, was es vielleicht nie geben wird. Diese Episoden werden dann für eine kurze Zeit das Hier und Jetzt, das wir erleben.

Psychologinnen und Evolutionsbiologen sprechen in diesem Zusammenhang davon, dass Menschen ein episodisches Gedächtnis haben. Das heißt, wir können unser Bewusstsein aus dem Kontinuum der Zeit und der einen Gegenwart herauslösen und unsere Erlebnisse ein zweites Mal durchleben. Dabei geraten wir gewissermaßen in eine Zeitschlaufe. Unser Bewusstsein löst sich von unserem Körper ab, um die vergangene Situation erneut als Gegenwart zu erleben. Es ist nach wie vor umstritten, ob andere Spezies im Tierreich diese so typisch menschliche Fähigkeit besitzen.

Die Zukunft ist Teil der Erzählung

Erst in der Erinnerung wird ein durchlebtes Ereignis zur Episode. Wenn wir es in der Erinnerung aufrufen und wiedererleben, ist dieses zweite Erleben nun deutlich verschieden von dem ersten Geschehen. Beim ersten Mal prägen wir den Verlauf durch unsere Handlung, können nach rechts oder links abzweigen. Wir haben die Wahl, das Ende ist offen. Beim zweiten Mal, beim episodischen Erinnern dagegen sind wir gebunden und können nur dem Zug der Handlung nachfolgen. Das Ende steht fest.

Unsere Gefühle und Emotionen in der Erinnerung sind nun auch anders als beim ersten Mal. Beim ersten Mal leiten unsere Gefühle unsere Entscheidung in die Richtung, die uns als richtig erscheint. Beim zweiten Mal loten wir die Emotionen aus und erwägen, was hätte anders kommen können. Unsere Emotionen sind nicht mehr die aus dem Originalerlebnis, sie schweben nostalgisch darüber, voller Reue oder auch voller Genugtuung.

So gesehen ist das episodische Erinnern ein Spezialfall des narrativen Denkens. Denn nicht nur wenn wir uns ein eigenes Erlebnis erneut vor Augen führen, sondern auch wenn wir etwa die Geschichte einer Freundin hören, treten wir in diese Zone jenseits unserer Eigenzeit ein. Wenn sie erzählt, was ihr passiert ist („Stell dir vor,…“), können wir uns in ihre Situation hineinversetzen, wir nehmen stellvertretend für sie an dieser Episode teil – und können ebenso wenig wie sie selbst nicht ändern, was da vorgefallen ist. Das Geschehene, die Geschichte entzieht sich unserem Zugriff. Wir können die Freundin nicht mehr warnen, so wie ich die ausgestorbenen Tiere im Museum nicht mehr warnen konnte. Denn die Zukunft ist ja schon Teil der Erzählung.

Erlebnisschleifen

Wir sehen etwas vor unseren Augen und können doch nicht einspringen und etwas tun. So geht es uns immer, wenn jemand uns eine Geschichte aus seinem Alltag erzählt oder wenn wir ein Buch lesen, einen Film schauen. Das ist nun aber zugleich eine ganz paradoxe Situation. Denn eigentlich sind wir ja darauf trainiert zu handeln. Wer im Hier und Jetzt ist, hat immer eine Handlungsoption. Ich kann meiner Freundin auf die Schulter tippen und sie besorgt darauf hinweisen, dass sie dem Typen in der Bar mit dem breiten Lächeln besser nicht trauen soll.

Im Hier und Jetzt kann ich auch erwägen, ob ich die Tür aufreißen soll, um meiner Chefin endlich mal so richtig die Meinung zu sagen. Ich kann es nach kurzem Überlegen aber auch lassen, ich habe beide und noch viel mehr Optionen, denn in dieser Welt ist die Zukunft offen.

Doch wer in einer Narration steckt, kann das nicht tun. Wir sind der Geschichte oder erinnerten Episode gegenüber ausgeliefert. Was da passiert, ist schon so oder so passiert. Das kann durchaus positiv sein. Vielleicht wollen wir den Triumph noch einmal auskosten: „Ihr hättet einmal das Gesicht meiner Chefin sehen sollen, als ich in ihr Zimmer trat.“ Aber in vielen Fällen stehen wir dem Verlauf fassungslos gegenüber und müssen ihn wie ein Trauma wiedererleben. „Und dann hat sie mich gefeuert.“

So wie der kleine Diplomatenjunge damals im Museum etwas Unausweichliches abwenden und die ausgestorbenen Tiere vor ihrem Schicksal retten wollte, so kommen wir dank unseres narrativen Denkens immer wieder in diese Erlebnisschleifen, in denen wir etwas anderes erhoffen, aber stattdessen nur beobachten können, wie das Gefürchtete passiert – oder im Fall der Erinnerung erneut passiert.

Kassandrarufe

Menschen sind narrative Wesen. Wenn wir uns als Produkt der Evolution begreifen, ist das ein sehr sonderbares Dasein. Als Lebewesen sind wir auf Handlung programmiert. Doch dieses narrative Denken führt uns dazu, dass wir uns immer wieder in der Lage finden, nicht eingreifen zu können, auch wenn wir es noch so dringend wollen. Dies ist der Ursprung der Reflexion.

Im alten Griechenland verkörperte diese Art der Besonnenheit die Gestalt der Kassandra. Sie hatte von Apollo die Gabe der Voraussicht erhalten. Doch als sie sich den Verführungen durch Apollo widersetzte, die dieser für seinen gerechten Lohn hielt, bestrafte er sie damit, dass niemand ihr Glauben schenken würde. Kassandra konnte seitdem die Geschehnisse voraussehen und doch nicht ändern. Sie warnte vor Odysseus’ List mit dem Trojanischen Pferd, aber es half nicht, sie konnte den Fall von Troja nicht verhindern.

Eben dieses Erleben der Kassandra ist für uns zum Dasein geworden, denn fortwährend befinden wir uns in Geschichten, die wir nicht beeinflussen können. Wir leben mit der Diskrepanz zwischen dem, was wir hoffen, und dem, was wir vorauswissen. Das kann natürlich Spaß bereiten. Im Kino, wo wir meist ja nicht wissen, was passiert, nennt man das Spannung. Doch in unseren Erinnerungen dessen, was schon passiert ist, und in vielen Alltagsgeschichten geht es um das, was ich Besonnenheit genannt habe, das gedankliche Zurücktreten aus dem Hier und Jetzt.

Kausalität ist nicht das wichtigste

Es ist aber eine keineswegs abgeklärte Sorte Besonnenheit, sondern eine hochemotionale. Immer wenn die Außen- und die Innenwelt nicht übereinstimmen, gibt es Emotionen. Das sei vielleicht sogar die Grundform der Emotionen, meinte der niederländische Psychologe Nico Frijda. Gerade in Emotionen zeigt sich also die Besonnenheit. Unsere Besonnenheit beschenkt uns mit einem reichen inneren Erleben, aber eben um den Preis, dass wir nicht einschreiten können.

Bei den Stille-Post-Spielen in meinem Labor haben wir übrigens eine große Überraschung erlebt. Tatsächlich haben wir wohl das bislang größte derartige Experiment mit den meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmern, nämlich knapp 20000 durchgeführt. Dabei haben wir uns gefragt, was den nacherzählten Geschichten Stabilität verleiht. Die bislang vorherrschende Meinung dazu war, dass die Kausalität das Gerüst einer Geschichte ausmacht.

Entscheidend sei, warum jemand etwas macht oder wieso etwas passiert. Wenn es etwa heißt: „Erst stirbt der König und dann stirbt die Königin“, fehlt die Kausalität. Erst wenn es heißt: „Die Königin stirbt, weil vorher der König gestorben ist“, ist die kausale Verknüpfung klar. Entsprechend, so war die Annahme, ist die Kausalität auch das wichtigste Element bei Nacherzählungen.

Verbunden im Erzählen

Doch in unserem Stille-Post-Spiel hat sich etwas anderes ergeben. Unsere Nacherzählerinnen und Nacherzähler von vielen hundert Geschichten waren durchaus bereit, vieles an der Ursprungserzählung zu verändern. Sogar das Warum. Es war ihnen etwa nicht so wichtig, warum Anja einen Apfel geklaut hat. Stattdessen war es den Nacherzählenden sehr wichtig, wie genau sich die Geschichte anfühlte. Der Grad an Traurigkeit, Freude, Überraschung oder auch Peinlichkeit wurde von ihnen im Stille-Post-Spiel genau von einem Erzähler zur nächsten Erzählerin weitergegeben.

Auch bei der Königin interessiert uns vielleicht am meisten, ob und wie traurig sie war. Oder hat sie sich insgeheim sogar gefreut, den alten Tyrannen an ihrer Seite endlich loszuwerden? Was immer es war: Diese Gefühlslage macht den stabilen Kern der Geschichte aus. Wir konnten bei vielen Emotionen auch nach dreimaligem Nacherzählen durch verschiedene Personen keine Änderungen feststellen.

Wir denken in Geschichten, so meine ich inzwischen, weil sie uns mit Emotionen belohnen. Wer Heldengeschichten mag, sehnt sich nach Triumph. In vielen Geschichten rührt uns das gute Ende derjenigen, die es verdient haben. Bei anderen bereitet uns die verdiente Strafe Genugtuung. Liebe und erotische Erfüllung belohnen das lange Ausharren. Wenn mir nahestehende Menschen von ihren Problemen erzählen, suche ich mit ihnen die Auswege, die wir als eine emotionale Erlösung feiern.

Das Denken in Geschichten belohnt uns mit seinen Emotionen, ebenso wie es uns mit anderen verbindet. Ihre Geschichten sind meine Geschichten, ich erlebe sie mit ihnen mit. Die Hoffnung auf die Emotionen ist der Ansporn, warum wir uns auf die Geschichten einlassen. Die Besonnenheit des narrativen Denkens drückt sich in dem feinen Sensorium für Emotionen aus. Wir werden zum Echoraum der Emotionen. Wer nicht handeln kann, muss fühlen.

Wer erzählt ist verbunden

In London waren meine Lieblinge neben dem Natural History Museum die Sammlung der königlichen Eisenbahnzüge und das Imperial War Museum, und sie wurden Teil meiner wöchentlichen Routine. Aus dem Kriegsmuseum erinnere ich genau ein Exponat: ein Ein-Mann-U-Boot aus dem Ersten Weltkrieg. Der zigarrenförmige Zylinder hatte eine runde Glaskuppel in der Mitte für den Kopf des Piloten. Sogar als Kind kam es mir sehr klein und fast zart vor, wie ein umwickeltes Kanu.

Man konnte von oben in den Sitz schauen. Das Metall wirkte erstaunlich dünn und erinnerte eher an eine Dose als an einen Panzer. Das Schicksal des Piloten, der in diesem U-Boot unterwegs gewesen war, kannte ich nicht. Aber mir steht das Bild vor Augen, wie dieser Pilot in seiner zerbrechlichen Hülle allein inmitten eines tiefen Ozeans schwebt. Sicherlich wollte ich auch ihn wie die Tiere des Natural History Museum vor dem warnen, was da kommen konnte, denn auch ihn hielt ich für den Letzten seiner Art.

Und doch sind wir in den narrativen Welten nicht einsam. Bereits die Einsamkeit des Piloten und der verlorenen Tiere ist eine geteilte Einsamkeit, denn sie hat ja mindestens einen Zeugen und Zuhörer, nämlich mich. Zwar stehen wir hilflos vor den Ereignissen, die wir nicht ändern können. Wie Kassandra sind wir ohnmächtig. Trotzdem sind wir im Medium der Narration verbunden mit anderen. Jede Erfahrung ist eine geteilte Erfahrung, auch wenn wir sie nicht ändern können. Die besonnene Haltung ist auch eine Haltung der Empathie, in der wir zum Resonanzraum von anderen werden. Auch ein bisschen Traurigkeit ist dann ein gutes Gefühl.

Sogar wenn wir uns erinnern, können wir uns selbst beistehen: Die erinnernde Person unterstützt eben jenes Ich, an das sie sich zu erinnern glaubt. Und so war auch ich als Kind nicht einsam im Museum. Im Gegenteil. Wer erzählt, ist immer schon mit anderen verstrickt und verbunden.

DER ESSAY

In unserer Serie schrieben bisher:

Christian Haller über die entbehrungsreiche Suche nach dem eigenen Stil: Ein weitreichender Verzicht, Heft 7/2022

Annette Kehnel über die Verklärung des Vergangenen: Über früher, Heft 4/2022

Felicitas Hoppe über Träume und wie sie sich der Verwertung entziehen: Die Schuhe meiner Großmutter, Heft 1/2022

Clemens J. Setz über seinen Versuch, eine private Geheimsprache zu entschlüsseln: Mit einem echten Boden, Heft 10/2021

Asal Dardan über das Verlassensein und wie es die Augen öffnet: Vom Festhalten an der Normalität, Heft 7/2021

Terézia Mora über die Kunst der Bewältigung und die Bewältigung mithilfe der Kunst: Von etwas der Staub, Heft 4/2021

Andreas Maier über zweierlei Umgang mit Geräuschen: Vom Schließen und Öffnen der Ohren, Heft 2/2021

Sie können diese Hefte über unsere Website nachbestellen: psychologie-heute.de/einzelhefte

5 Bücher von Fritz Breithaupt

Das narrative Gehirn. Was unsere Neuronen ­erzählen

Das aktuelle Buch beschreibt den Menschen als narratives Wesen, das in Episoden denkt. Zentral sind dabei die Emotionen, die uns dafür belohnen, dass wir uns in die narrativen Welten verstricken lassen. Suhrkamp

Kulturen der Empathie

Das Buch präsentiert ein Grundmodell menschlicher Empathie, welches von der Parteinahme ausgeht. Jemand beobachtet einen Konflikt, nimmt die Perspektive einer der beiden Parteien ein und entwickelt dann Empathie für die eine Seite, aber nicht für die andere. Suhrkamp

Die dunklen Seiten der Empathie

Menschen können mit und aus Empathie moralisch verwerfliche Handlungen begehen. Dazu gehören empathischer Sadismus, Vampirismus, Selbst-Verlust und Polarisierung. Angela Merkels Flüchtlingspolitik und Donald Trumps Wahlkampf erscheinen als Fallbeispiele der Empathiesteuerung in diesem Buch. Suhrkamp

Kultur der Ausrede

In diesem Buch wird das Spinnen von Ausreden als kulturelle Errungenschaft gefeiert. Wer seinen Kopf aus der Schlinge ziehen will, tut gut daran, zu einer gegebenen Erzählung Alternativen zu finden. Das hat Konsequenzen für Recht, Gewissen und Identität. Suhrkamp

Der Ich-Effekt des ­Geldes. Zur Geschichte einer Legitimationsfigur

Warum braucht das Ich Geld? In Antwort auf diese Frage liefert das Buch eine Kultur- und Ideengeschichte von 1770 bis heute und konzentriert sich dabei auf die Frage, wie die Konzeptionen von Ich und Geld sich wechselweise beeinflusst haben. Fischer

Fritz Breithaupt, Jahrgang 1967, ­arbeitet als Professor für Germanistik und für Kognitionswissenschaften an der Indiana University in Bloomington (USA), wo er das Experimental ­Humanities Lab leitet

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2022: Nein sagen lernen