Im Fokus: Solidarität

Handeln wir in Krisenzeiten solidarischer? Warum nicht jede Hilfe Solidarität ist und wir den Begriff sparsam verwenden sollten. Ein Gespräch

Freiwillige Helfer in Fürstenfeldbruck packen Kartons für Betroffene des Ukraine-Kriegs
Freiwillige Helferinnen und Helfer leisten unterstützen Menschen in Not. Hier werden beispielsweise Kartons für Betroffene des Kriegs in der Ukraine gepackt. Doch Hilfe ist nicht immer gleichzusetzen mit Solidarität. © SZ Photo | Leonhard Simon/picture alliance

Sich zum Schutz anderer impfen lassen, Abstand halten oder Licht ausmachen: Handeln wir in Krisensituationen solidarischer? Soziologe Stephan Lessenich erklärt, was Solidarität ist – und vor allem: was nicht.

Herr Lessenich, handeln wir solidarisch mit der Ukraine, wenn wir jetzt Straßenlampen ausschalten, kalt duschen und die Heizungen runterdrehen?

Wenn man jetzt Energie spart, ist das in allererster Linie ein Handeln im Eigeninteresse. Die Energieversorgung ist schon prekär, im Winter wird sie wohl noch…

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Linie ein Handeln im Eigeninteresse. Die Energieversorgung ist schon prekär, im Winter wird sie wohl noch unsicherer werden, die Preise steigen. Es ist im Interesse der öffentlichen Kassen und privaten Haushalte, Energie zu sparen. Das wäre ein extrem vermittelter Zusammenhang, wenn man daraus konstruieren wollen würde, dass geringerer Energieverbrauch der russischen Ökonomie schadet und das ukrainische Volk unterstützt. Ich würde sagen, dass solche Alltagspraktiken keine Solidarität sind, sondern ein Gebot der Vernunft.

In letzter Zeit erklären sich ständig alle solidarisch. Wir hängen ukrainische Flaggen auf oder klatschen für Pflegepersonal und bezeichnen dies als Akte der Solidarität. Zu Recht?

Spätestens seit der Coronapandemie und dem Ukrainekrieg kann sich diese Gesellschaft vor Solidaritätsbekundungen kaum mehr retten. Man könnte meinen, Solidarität sei an der Tagesordnung. Dabei ist es nicht nur eine akademische Frage, sondern auch ein politisches Gebot, den Begriff sparsam und angemessen zu verwenden.

Das Klatschen für Pflegepersonal, das Einkaufen für die Nachbarin im Lockdown oder das Aufhängen ukrainischer Flaggen: Das sind alles Bekundungen des Mitleidens, Mitfühlens, Mitdenkens, Akte der Hilfe oder Unterstützung, aber das ist keine Solidarität. Solidarität ist mehr.

Was bedeutet dann Solidarität?

Solidarität ist eine Praxis, bei der man gemeinsam mit den Betroffenen an der Lösung eines Problems arbeitet. Und das gemeinsame Handeln ist nicht nur darauf ausgerichtet, das Problem akut zu beheben, also die Symptome zu kurieren, sondern es zielt auch darauf, die Strukturen zu verändern, die das Problem verursachen. Wenn man sich mit dem Pflegepersonal solidarisch erklärt, müsste man gemeinsam dafür streiten, dass sich die tariflichen Bedingungen verbessern.

Solidarität ist mehr als nur eine verbale Unterstützungsbekundung. Solidarisches Handeln braucht Zeit, Arbeit und Energie – es ist manchmal auch ein bisschen gefährlich, weil man ein Risiko eingehen muss.

Warum ist es wichtig, den Begriff so streng abzugrenzen?

Die inflationäre Verwendung von Begriffen ist immer ein Problem. Wenn jede Form der Unterstützung Solidarität ist, ist Solidarität als spezifischer Begriff entleert. Unsere Gesellschaft etikettiert sich sehr gern als solidarisch. Fast alle von uns hätten ein Problem damit, als unsolidarisch zu gelten, und jeder von uns nimmt gern in Anspruch, solidarisch zu handeln, und wenn es nur ist, das Licht mal auszumachen. Wenn man das alles aber als solidarisch rahmt, dann geht es letztlich allein um den persönlichen Wohlfühlfaktor.

Die Pandemie hat viele strukturelle Missstände stärker in den Fokus gerückt. Ist unsere Gesellschaft dadurch nicht tatsächlich etwas solidarischer geworden?

Diese Gesellschaft hat sich in der Coronakrise als hochgradig solidarisch etikettiert. Es ist sehr oft gesagt worden, der Zusammenhalt sei gestärkt worden und wir seien enger zusammengerückt. Aber wenn man sich die Coronapolitik anschaut, war sie in höchstem Maße unsolidarisch: Fast niemanden hat es hierzulande gekümmert, dass große Teile der Weltbevölkerung vom Zugang zu Impfstoffen ausgeschlossen sind.

Oder die ungleiche Behandlung bei der Ein- und Ausreise: Deutsche Staatsbürger und -bürgerinnen wurden aus Hochrisikogebieten mit Sonderflügen zurückgeflogen, während ausländische keinen Zugang mehr hatten und wir gleichzeitig Spargelstecher angeworben haben. Das sind Zeichen einer Doppelmoral. Wir benutzen Solidarität in der Selbstzuschreibung immer als eine moralische Kategorie: Ich zeige mich solidarisch, also gehörte ich zu den Guten.

Würden Sie sagen, dass wir in den vergangenen Jahren sogar unsolidarischer geworden sind?

Das weiß ich nicht. Möglicherweise sind wir durch die Pandemie sensibler für bestimmte Funktionszusammenhänge geworden: wie wichtig die Leistung von Pflegekräften und Logistikpersonal für das Gemeinwesen ist, wer den Laden zusammenhält, dass es dafür viel Personal bedarf, das durchweg unterbezahlt ist. Aber diese Sensibilisierung hat in keiner Weise dazu beigetragen, strukturell die Lage von Paketdienstleistern, Pflegekräften, Krankenhauspersonal oder Supermarktkassierern und -kassiererinnen zu verbessern.

Es gibt Menschen, die spontan ukrainische Geflüchtete bei sich zu Hause aufgenommen haben. Sie leisten doch eine große und wichtige Hilfe.

Jemanden in den eigenen Haushalt aufzunehmen ist wirklich eine weitgehende Art der Hilfe und der Unterstützung. Aber Solidarität ist meines Erachtens ein politischer Begriff, er zielt nicht nur auf die Hilfe in Notsituationen oder den individuellen Einsatz ab, sondern darauf, dass wir uns fragen, wie man das Schicksal der Geflüchteten strukturell verändern kann. Warum fliehen sie? Welche ökonomischen, sozialen und politischen Zusammenhänge stehen dahinter?

Wie würden Sie es bezeichnen, wenn man einem Obdachlosen etwas zu essen gibt?

Wenn man jemandem Essen bringt, der kein Dach über dem Kopf hat, ist das eine Hilfe, die aller Ehren wert ist. Solidarität aber wäre, dieser Person – so sie dies will – angemessenen Wohnraum zu verschaffen und mit ihr gemeinsam nicht nur zu überlegen, wie sie individuell ihr Schicksal überwinden kann, sondern sich auch zu fragen, wie Wohnungslosigkeit eigentlich entsteht, wie das mit den Strukturen des Wohnungsmarkts zusammenhängt und damit, dass bestimmte Personen auf diesem Markt benachteiligt sind – um dann genau daran etwas zu ändern.

Ist die Hilfe dann weniger wert?

Nein. Es geht mir nicht darum zu sagen: Das ist ja nur Hilfe. Vieles, was als Hilfe praktiziert wird, ist lokal und für die betroffenen Personen von sehr großem Nutzen, vielleicht sogar von überlebenswichtiger Bedeutung. Ich will keine Rangliste von sozialen Praktiken aufstellen, um zwischen höherwertigen und minderwertigen zu unterscheiden.

Ich glaube nur, es ist begrifflich und analytisch wichtig, das voneinander zu trennen. Idealerweise müsste die Hilfe der Anstoß sein, sich die dahinterliegenden Strukturbedingungen anzuschauen und auf diese zu reagieren. Das wäre der Beginn einer solidarischen Praxis.

Wenn man Ihrer Definition folgt, muss man sich eingestehen, dass es heute ziemlich schlecht um die Solidarität steht, oder?

Ja, Solidarität ist in der Regel etwas, das aus der Not geboren ist. Bei der historischen Arbeiterbewegung waren das die schlechten Arbeitsbedingungen, von denen man kollektiv betroffen war. Die Menschen haben sich zusammengeschlossen, um diese Verhältnisse zu verändern.

Für die historische Arbeiterbewegung gab es dabei einen klaren Gegner. Die besseren Arbeitsbedingungen musste man den Unternehmen abringen. Man musste dafür kämpfen, das fiel nicht vom Himmel und das wird auch heute nicht durch Klicks bei einer Onlinepetition erreicht. Dafür muss man auf die Straße, in die Betriebe, wirklich in die politische Auseinandersetzung.

Für die historische Arbeiterbewegung verliefen die Auseinandersetzungen sehr blutig.

Ja, Demonstrationen wurden polizeilich niedergeknüppelt oder zusammengeschossen, die Leute wurden entlassen. Das war ein ernsthaft riskantes Handeln, das aber auf lange Sicht zu den Veränderungen im Sozial- und Arbeitsrecht, in Sachen Arbeitsplatz- und Einkommenssicherheit geführt hat, die wir heute kennen. Um eine Notlage dauerhaft zu beheben, muss man an die Verteilungsfrage.

Was meinen Sie damit?

Es genügt nicht, dem einen oder der anderen Notleidenden zu helfen. Nur wenn man viel grundsätzlicher die strukturellen Ungleichheiten zwischen Kapital und Arbeit angeht, zwischen Armen und Reichen, werden nicht immer wieder von neuem dieselben Notlagen entstehen.

Solidarität heißt also auch: Für die Besserstellung der einen müssen andere schlechtergestellt werden. Im Fall der historischen Arbeiterbewegung musste die Arbeitgeberseite auf das totale Zugriffsrecht auf die Arbeiterinnen und Arbeiter verzichten, der Arbeitstag wurde reguliert, der Kündigungsschutz wurde eingeführt und so weiter.

Heißt Solidarität immer, dass man auf etwas verzichten und Privilegien oder Besitzstände aufgeben muss?

Ja, das denke ich schon. Wenn wir Geflüchteten heute wirklich mit Solidarität begegnen würden, wären es nicht nur einzelne Personen oder die Helferinitiativen, die in Vorleistung gehen würden, sondern wir müssten auch die Umverteilungsprinzipien dieser Gesellschaft verändern. Viele Menschen würden dann womöglich etwas weniger haben.

Wir leben täglich auf Kosten anderer, profitieren von billigen Dienstleistungen, die darauf beruhen, dass Menschen schlecht bezahlt werden, sozial- und arbeitsrechtlich kaum geschützt sind. Solidarität würde bedeuten, auf derartige Ungleichheitsbeziehungen zu verzichten.

Fällt es uns leichter, solidarisch mit Menschen zu sein, die uns ähnlich sind?

Ja, aber Solidarität unter Ähnlichen oder Gleichen ist nicht besonders herausfordernd. Nur wenn Solidarität unter Ungleichen ausgeübt wird, ist es wirklich Solidarität: wenn also Menschen im Homeoffice versuchen, gemeinsam mit den Paketboten und Paketbotinnen deren Lage zu ändern, deren Arbeitskämpfe – die es ja durchaus gibt – aktiv zu unterstützen.

Oder wenn wir eine Million Geflüchtete aufnehmen, sie aber nicht nur notdürftig versorgen, sie nicht in Containerunterkünfte in Industriegebieten abschieben, sondern sie als Gleichberechtigte behandeln, als Mitbürger und -bürgerinnen dieser Gesellschaft. Erst das Handeln zwischen Ungleichen, das darauf abzielt, Gleichheit herzustellen, ist für mich Solidarität.

Als Einzelner kann ich also überhaupt nicht solidarisch handeln?

Ich kann eine solidarische Motivation haben, ich kann mich einer Demonstration anschließen, eine Onlinepetition initiieren, etwas Unterstützendes posten, aber wenn ich wirklich etwas verändern möchte, muss ich auch im digitalen Zeitalter gemeinsam und zielgerichtet handeln. Solidarität ist immer eine kollektive politische Praxis.

Gibt es dann heute überhaupt noch Solidarität?

Es gibt viele Helferkreise, die machen sehr, sehr ehrenwerte Arbeit, sie unterstützen Geflüchtete und begleiten sie in allen möglichen Lebenslagen. In vielen Momenten ist aus dieser Hilfe eine neue Dynamik entstanden. Wir haben Interviews geführt mit Personen, die Geflüchtete unterstützen.

Darunter waren zum Beispiel ältere Damen, die keineswegs links sind, sondern eigentlich ziemlich konservativ, die aber durch die persönliche Konfrontation mit dem Schicksal eines Geflüchteten plötzlich an der Rationalität des Asylrechts zweifelten und angefangen haben, die Abschiebepraxis zu hinterfragen. Und die nun nicht nur auf Demonstrationen gehen, sondern versuchen, gemeinsam mit einschlägig tätigen Organisationen an den rechtlichen Regularien etwas zu verändern.

Haben Sie noch ein Beispiel für Solidarität, etwa aus Ihrer Forschung im Ausland?

Beeindruckend ist das solidarische Gesundheitswesen in Griechenland. Nach der Finanzkrise wurde der öffentliche Gesundheitshaushalt um ein Drittel zusammengestrichen, von heute auf morgen. Es wurden Millionen Menschen aus den Krankenversicherungen ausgeschlossen. Daraufhin hat sich ein beeindruckendes Netzwerk von Pflegepersonal, Ärztinnen und Ärzten, Apothekerinnen und Apothekern zusammengeschlossen und eigene solidarische Kliniken errichtet. Dort wurden alle Menschen behandelt, unabhängig davon, ob sie aus Griechenland oder Geflüchtete waren, ob alt, jung, rechts, links.

Allerdings entstand irgendwann die Diskussion darüber, ob die Initiatoren mit den solidarischen Kliniken letztlich nicht auch das zusammengestrichene öffentliche Gesundheitswesen hoffähig machen. Das sind dann die Ambivalenzen und Widersprüche, in die man im praktischen Handeln gerät.

Braucht es Krisen, um solidarisches Handeln anzuschieben?

Ja, in Krisenzeiten werden Notlagen eher offensichtlich. Wenn wir jetzt im Winter eine Energiekrise haben sollten, wird das über die Energiepreise bis in die Mittelschichtshaushalte spürbar werden. Wir hatten solche Krisen auch schon vorher. In vielen ökonomisch schlechtgestellten Haushalten haben sich die Menschen auch in den vergangenen Jahren schon gefragt, ob sie die Heizung aufdrehen oder nicht.

Typischerweise dringen solche Krisen aber erst in das öffentliche Bewusstsein, wenn sie nicht mehr nur die marginalisierten Menschen treffen, sondern in die Mitte der Gesellschaft durchschlagen. So wird es vermutlich auch mit der Energiekrise sein.

Was erwarten Sie, wie sich die Energiekrise in diesem Winter auf das Miteinander in Deutschland auswirken wird?

Ehrlich gesagt: gar nicht. Die wohlhabenden Haushalte werden die steigenden Energiepreise mit einem Achselzucken quittieren und sich zu keinerlei Verhaltensänderungen gezwungen sehen. Die Mittelschichten werden von der öffentlichen Hand mit gewaltigen Ausgleichszahlungen versehen werden, um sie demokratiepolitisch bei der Stan­ge zu halten. Und die ärmeren Haushalte werden sich wie immer einschränken müssen, mit Ämtern zu ringen haben, aus wenig bis gar nichts das Beste zu machen versuchen.

Blicken Sie optimistisch auf die Zukunft der Solidarität?

Es wird Sie nach dem Gesagten wohl kaum überraschen: Egal wohin man schaut, ob Klimakrise, Ukrainekrieg, zukünftig zu erwartende Pandemien – wenn man auch nur ansatzweise bei Sinnen ist, kann man nicht optimistisch sein. Aber ich wäre auch nicht einseitig pessimistisch. Sehr viele Menschen leisten sehr viel Unterstützung und Hilfe. Darin liegt immer auch ein Keim von Weitergehendem.

Ich glaube schon, dass eine andere Welt möglich ist, aber die Rahmenbedingungen für mehr Solidarität, weniger Krieg oder auch für die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen sind nun einmal denkbar schlecht.

Stephan Lessenich ist Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung und Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2022: Lieber unperfekt