Der Lauf des Seelenjahrs

Psychologie nach Zahlen: Wie die Psyche im Rhythmus von Frühling, Sommer, Herbst und Winter schwingt. Über vier Einflusssphären der Jahreszeiten.

Eine ältere Frau mit weißen Haaren sitzt im Yogasitz vor einem Baum, im Hintergrund sind die vier Jahreszeiten
Jahreszeiten wirken subtil und doch beachtlich auf uns ein. Forscher untersuchen, wie genau das passiert. © Till Hafenbrak für Psychologie Heute

Sie sind die Protagonisten in den Violinkonzerten von Antonio Vivaldi und ein Leitmotiv der Sonette von William Shakespeare. Es hat wohl seinen Grund, dass die vier Jahreszeiten schon immer die Kunst inspiriert haben. Sie lassen uns nicht kalt. Tatsächlich wirken Frühling, Sommer, Herbst und Winter auf vielseitige und subtile Weise auf uns Menschen ein. So haben Forscherinnen und Forscher in den letzten Jahren immer mehr Hinweise darauf gefunden, wie sie unser Empfinden, aber auch unser Wahrnehmen und Denken durchdringen. Die Jahreszeiten haben zum Beispiel Einfluss auf:

1. Das Gehirnvolumen

Mit den Jahreszeiten schwankt unser Gehirnvolumen, wie nun von einem Forschungsteam um Gregory Book dokumentiert wurde. Zum Sommer hin scheinen Areale im Großhirn subtil zu schrumpfen, gen Herbst nehmen sie dann wieder leicht zu. Beim Kleinhirn ist es umgekehrt: Es wird im Sommer etwas größer und im Winter etwas kleiner. Die Regionen, so ermittelte das Team, seien je nach Jahreszeit unterschiedlich stark durchblutet.

Allerdings kennen die Forschenden bislang nicht die Ursache. Sie vermuten, dass physikalische Bedingungen wie der Luftdruck eine Rolle spielen. Dieser ist im Sommer grundsätzlich niedriger als im Winter. Das Forschungsteam untersuchte mehr als 3200 Personen über einen Zeitraum von 15 Jahren. Das leicht schwankende Hirnvolumen ist übrigens keine Besonderheit des Menschen.

Forschende beobachteten das Phänomen auch bei anderen Säugetieren, etwa der Spitzmaus. Ihr Hirnvolumen nimmt im Winter deutlich ab. Die Folge: Die räumliche Orientierung der kleinen Nager leidet erheblich während der kalten Jahreszeit. Bei Menschen ist der jahreszeitliche Effekt zwar gering, aber er könnte Hinweise dafür liefern, wieso Betroffene einiger Krankheiten zu bestimmten Jahreszeiten anfälliger für eine Verschlimmerung der Symptome sind, glaubt Book: „Veränderungen des Hirnvolumens aufgrund der Jahreszeiten […] könnten Auswirkungen auf wetter- und saisonbeeinflusste Krankheiten haben.“ Zu diesen Erkrankungen zählt er Arthritis, multiple Sklerose und Migräne.

2. Die Stimmung

Dass wir im Winter öfter mies gelaunt sind und die kalten, dunklen Tage für manche Menschen zu einer Herausforderung werden, ist allgemein bekannt. Aber der Sommer scheint für einige ein weitaus größeres Problem zu sein als der trübe Winter. So sind die Suizidraten in den westlichen Nationen in den Sommermonaten am höchsten. Auch ist die saisonale affektive Störung nicht auf den Winter beschränkt, sondern wird bei manchen Menschen auch im Sommer diagnostiziert, allerdings mit gegensätzlichen Auslösern. Betroffenen einer solchen Sommerdepression macht im Grunde all das zu schaffen, was anderen Menschen im Winter fehlt – etwa das helle Sonnenlicht und die warmen Temperaturen.

Im Gegensatz zum Winterblues äußert sich die saisonale affektive Störung im Sommer meistens durch Schlafprobleme, Appetitlosigkeit und Ängstlichkeit. Wieso nur manche Menschen betroffen sind, wissen Forschende bislang nicht. Eine der Vermutungen lautet: Menschen mit Sommerdepressionen besitzen möglicherweise eine erhöhte sensorische Empfindlichkeit für Umweltreize. Dadurch nehmen sie etwa das helle Sonnenlicht als gleißend und belastend wahr.

Wahrscheinlich spielen auch individuelle Erfahrungen eine Rolle. So können schwierige Lebensereignisse und Traumata eine Sommerdepression begünstigen. Hinzu kommen andere psychische Herausforderungen, die verstärkt im Sommer auftauchen. Manche Menschen müssen etwa auf den Urlaub verzichten, weil er zu kostspielig ist. Andere trauen sich nicht zur Strandparty aus Scham über ihr Aussehen.

3. Die kognitive Leistung

Unsere Aufmerksamkeit ist im Juni auf ihrem Höhepunkt. Im Winter erreicht sie ihren Tiefpunkt. Das ergab eine Untersuchung von Gilles Vandewalle und seinem 15-köpfigen Team. Die Gehirnprozesse ihrer Freiwilligen untersuchten die Forschenden mithilfe der Magnetresonanztomografie. Mit Tests stellten sie außerdem fest, dass das Gedächtnis zur Zeit des Herbstanfangs besonders gut arbeitet, zum Frühlingsbeginn dagegen schlechter. Laut Vandewalle kommt es zu den Schwankungen in den Denkleistungen, weil das Gehirn die saisonalen Herausforderungen nicht gleichermaßen gelungen meis­tert.

Das sei natürlich und kein Grund zur Beunruhigung. Ähnliches legt auch eine andere Untersuchung mit mehr als 3300 älteren Erwachsenen nahe. Ein Teil von ihnen hatte Alzheimer, der andere nicht. Beide Gruppen zeigten im Spätsommer und Frühherbst wesentlich bessere kognitive Leistungen als im Winter und Frühling. Die genauen Mechanismen, die den saisonalen Unterschieden zugrunde liegen, blieben den Forscherinnen und Forschern bislang ein Rätsel. Das komplexe Zusammenspiel von Jahreszeit und Denkleistung sei noch nicht vollständig verstanden.

4. Die Wahrnehmung der Farben

Selbst Farben nehmen wir im Sommer anders wahr als im Winter. Das berichtet die britische Psychologin Lauren Welbourne zusammen mit zwei Kollegen. „Stellen Sie die Farbe Gelb ein“, so lautete eine der Anweisungen, die die Freiwilligen in dem englischen Städtchen York von dem Forschungs­team erhielten. In einem abgedunkelten Raum drehten die Männer und Frauen dann so lange an einem Knopf, bis sie das Gefühl hatten, ein reines Gelb auf dem Bildschirm eingefangen zu haben. Das Team wiederholte die gleiche Prozedur im Januar und im Juni. Je nach Jahreszeit unterschieden sich die Einstellungen der Freiwilligen.

Das Team vermutet, dass die saisonale Veränderung in der Farbwahrnehmung dabei hilft, die Farben unter verschiedenen Lichtbedingungen gleich gut zu erkennen. Unser visuelles System werde optimal angepasst – ähnlich dem Einstellen der Farbbalance bei einem Fernsehgerät. Aber die Forschenden wissen nicht, wo genau diese raffinierte Anpassung stattfindet.

„Es gibt mehrere Möglichkeiten“, erklärt Welbourne. „Der Prozess könnte im Auge selbst, in der Verbindung zwischen Auge und Gehirn oder an verschiedenen Stellen in den visuellen Bereichen des Gehirns stattfinden.“ An der Verarbeitung visueller Reize sind über 30 verschiedene Hirnareale beteiligt. Wie genau sie uns eine intensive Farbwahrnehmung an dunklen Winter- und strahlenden Sommertagen ermöglichen, bleibt vorerst ein Geheimnis.

Quellen

Gregory Book u.a.: Effects of weather and season on human brain volume. PLoS ONE, 16/3: e0236303, 2021. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0236303

Gilles Vandewalle u.a.: Seasonality in human cognitive brain responses, PNAS, 113/11,2016. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26858432/

Andrew S. P. Lim u.a.: Seasonal plasticity of cognition and related biological measures in adults with and without Alzheimer disease: Analysis of multiple cohortsl PLOS Medicine, 2018. https://journals.plos.org/plosmedicine/article?id=10.1371/journal.pmed.1002647

Lauren Welbourne, Antony Morland, Alex Wade: Human colour perception changes between seasons. Current Biology, 25/15, 2015. https://doi.org/10.1016/j.cub.2015.06.030

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2023: Das ewig hilfreiche Kind
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