Wie misstrauisch sind wir?

Wer hinter Allem böse Machenschaften wittert, schadet damit sich selbst und anderen – das zeigt sich nicht zuletzt in der Covid-Pandemie.

Die Illustration zeigt zwei Frauen, die auf jeweils auf einer Zirkusschaukel sind, wobei eine ein Sicherungsseil um sich gebunden hat
Misstrauen ist verletzend: Wir unterstellen anderen, dass sie es nicht ehrlich mit uns meinen. © Francesco Ciccolella

Das Wetter ist gut an diesem Spätsommertag Anfang September in Hamburg: angenehme 20 Grad, hin und wieder schieben sich Wolken vor die Sonne, doch Regentropfen fallen daraus nicht. Die Stimmung der Demonstrierenden, die durch die Straßen der Elbmetropole ziehen, ist dagegen alles andere als heiter. „Coronaimpfstoffe sind nicht sicher“, tönt es aus einem Lautsprecher. „Die unbekannten Nebenwirkungen und Langzeitschäden können zum Tod führen.“

Dass 90000 Menschen an der Virusinfektion verstorben seien, stimme…

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nicht, behauptet eine der Teilnehmerinnen gegenüber einer Spiegel-Journalistin. „Es sind viele dabei, die irgendwie vom Dach gefallen sind und dann plötzlich post mortem einen positiven Test haben“, sagt sie ironisch. Sie nimmt ein Stück Klebeband und befestigt ein Plakat an der Seite ihres Wagens. Die Aufschrift: „Corona ist ein Intelligenztest. Wer durchfällt, wird geimpft.“

Wirkt wie ein Brennstoff

Hamburg. Leipzig. Schmalkalden. Rotten­burg: Immer wieder kam es in Deutsch­land in den letzten Monaten zu Protesten gegen die Coronamaßnahmen. Anders als zu Beginn der Pandemie ging es dabei aber weniger um wirtschaftliche Existenz­sorgen oder um die Auswirkung von Kitaschließungen. Im Zentrum stand stattdessen meist die Impfung – oder genauer: das Misstrauen gegen sie. Im sogenannten COSMO-Projekt (Covid-19 Snapshot Monitoring) erheben Forschende verschiedener Institutionen regelmäßig die Impfbereitschaft in der Bevölkerung.

Anfang November – also zu einem Zeitpunkt, als die vierte Welle gerade massiv an Fahrt aufnahm – gaben fast neun Prozent der Befragten an, sich auf keinen Fall vakzinieren lassen zu wollen. Weitere vier Prozent waren zögerlich oder unsicher. Dafür gab es laut COSMO vor allem zwei Gründe: ein geringes Vertrauen darein, dass die Impfung sicher ist und gegen eine Covidansteckung hilft. Und die Meinung, das Virus sei gar nicht so gefährlich und eine Vakzinierung daher überflüssig.

Auf den Covidlandkarten waren im Winter vor allem Sachsen, Thüringen, Bayern und Baden-Württemberg tiefrot gefärbt – alles Bundesländer mit besonders niedrigen Impf­quoten. Das Misstrauen gegen die Empfehlungen der Politik und der Wissenschaft schien wie ein Brennstoff zu wirken, der die Pandemie zusätzlich befeuerte. Diesen unheilvollen Zusammenhang belegt auch eine finnische Studie aus der ersten Welle. Forscherinnen und Forscher hatten darin Daten aus 25 europäischen Ländern miteinander verglichen. Demnach kamen Staaten, in denen das Vertrauen in die Institutionen besonders ausgeprägt war, besser mit dem Virus zurecht.

Erhöhtes Sterberisiko

Misstrauen kann erheblichen Schaden anrichten – und das nicht nur für die Gesellschaft insgesamt. So sind Menschen, die ihrer Umgebung Böses unterstellen, im Schnitt einsamer und haben weniger Freunde. Misstrauische Menschen leben zudem gefährlich. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Litauen und Finnland haben dazu vor einiger Zeit eine Langzeit-Untersuchung mit über 2600 Männern ausgewertet. Die Studie läuft bereits seit den 1980er Jah­ren.

Sämtliche Teilnehmer mussten zu Beginn einen Fragebogen ausfüllen. Darin sollten sie verschiedene Aussagen bewerten, etwa „Es ist sicherer, niemandem zu vertrauen“ oder „Die meisten Menschen schließen Freundschaften, weil diese ihnen nutzen“. Männer, die ein besonders zynisches Weltbild pflegten, verstarben in den 28 Jahren nach Beginn der Studie 1,7-mal häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Ihr Sterberisiko aufgrund anderer Ursachen war um den Faktor 1,5 erhöht.

Ausgeprägtes Misstrauen ist also ziemlich ungesund. Hinzu kommt aber noch ein weiterer Effekt, wie Peter Stetter (Name geändert) kürzlich am eigenen Leib erfahren durfte. Der Lüneburger hatte sich auf einem Internetmarktplatz nach einem gebrauchten Smartphone umgesehen und dabei ein Modell gefunden, das ihn interessierte. „Ich hatte dem Verkäufer noch einige kritische Fragen zum Zustand des Handys und zum Lieferumfang gestellt“, erinnert er sich.

„Ein paar Tage, nachdem ich die Kaufsumme überwiesen hatte, habe ich dann nachgehakt, ob das Gerät schon verschickt sei.“ Die Reaktion des Verkäufers überraschte ihn: „Er ist vom Kaufvertrag zurückgetreten und hat mir das Geld zurückgezahlt“, sagt Stetter. „Als Grund gab er an, ich sei ihm zu misstrauisch gewesen.“

Verletzungspotenzial

Misstrauen ist verletzend: Wir unterstellen anderen damit, dass sie es nicht ehrlich mit uns meinen. Das kann unerwartete Antworten provozieren. Mitunter sorgen wir so gerade mit unserem Misstrauen dafür, dass wir von unseren Mitmenschen tatsächlich enttäuscht werden. Die Wirtschaftswissenschaftler Armin Falk und Michael Kosfeld haben dazu vor einigen Jahren ein einfaches Experiment durchgeführt, das sie The Hidden Costs of Control nannten.

Darin stellten sie mit einem Spiel eine Art Arbeitssituation nach, bei der ein Vorgesetzter seinen Mitarbeiter entweder misstrauisch kontrollieren oder ihm freie Hand lassen konnte. Resultat: Kontrollsüchtige Chefs wurden mit schlechteren Leistungen bestraft. Ihr Misstrauen speiste sich aus der Erwartung, der Mitarbeiter werde sich sonst auf die faule Haut legen. Tatsächlich beförderten sie dieses Ergebnis durch ihre Haltung aber noch – eine klassische selbsterfüllende Prophezeiung.

Es kommt also wohl nicht von ungefähr, dass Misstrauen einen schlechten Leumund hat. Wenn wir jemandem nachsagen, er sei ein misstrauischer Mensch, dann meinen wir das in aller Regel nicht als Kompliment. Misstrauen gelte heute vor allem als Problem, schreibt der Anthropologie­professor Florian Mühlfried in seinem Buch Misstrauen. Vom Wert eines Unwertes: „Wem unterstellt wird, misstrauisch zu sein, dem muss geholfen werden – oder dem ist nicht mehr zu helfen.“

Ihm ist diese Sicht jedoch erheblich zu einseitig. Ohne Vertrauen könne Demokratie nicht bestehen, ohne Misstrauen aber auch nicht, ist er überzeugt: „Nicht umsonst stärken viele demokratische Verfassungen Mechanismen wie die checks and balances, die ja eine wichtige Kontrollfunktion übernehmen. Jeder demokratische Staat muss sich daran messen lassen, wie viel Misstrauen er zulässt.“ Ihm zufolge wird Misstrauen heute jedoch zu oft als eine Art Kampfbegriff benutzt, um Andersdenkende zu diskreditieren.

Gründe für Misstrauen suchen

Mühlfried sieht momentan in vielen Ländern Anzeichen einer Vertrauenskrise. Diese sei größtenteils hausgemacht, meint er: „Die NSA-Machenschaften haben vielen Menschen vor Augen geführt, in welchem Ausmaß staatliche Institutionen Dinge tun, die sie eigentlich nicht tun sollten und auch nicht tun dürften. Der Dieselskandal hat uns bewusstgemacht, dass die Automobilindustrie nicht das tut, was sie sagt.“ Wenn man nun das Misstrauen zum Problem erkläre, sei das nichts anderes als eine diskursive Verlagerung: „Wir unterhalten uns darüber, wie schlimm doch der Vertrauensmangel ist, nicht aber über den Grund für dieses Misstrauen. Das halte ich für problematisch.“

Sollten wir also Misstrauen weniger als Teufelszeug verdammen und stattdessen zu schätzen lernen? Oder braucht es mehr Vertrauen, damit die Gesellschaft funktioniert? Glaubt man Christian Welzel, haben wohl beide Blickwinkel etwas für sich. Der Politologe der Universität Lüneburg erforscht seit vielen Jahren die Einstellungen und Werte in Gesellschaften rund um den Globus. „Wir unterscheiden zwischen verschiedenen Arten von Vertrauen“, erklärt er. „Eine Sorte ist das Vertrauen der Bürger in Institutionen, das oft mit einem Machtgefälle einhergeht und das wir daher auch als ,vertikal‘ bezeichnen. Und gerade hier ist die Lage keineswegs eindeutig.“

Denn einerseits sind die meisten Politologinnen und Soziologen der Meinung, dass ein Mindestmaß an vertikalem Vertrauen wichtig ist – im Fall von Covid sogar lebenswichtig, wie die oben erwähnte Untersuchung aus Finnland dokumentiert. Andererseits zeigen Studien aber auch, dass eine gewisse Dosis Misstrauen durchaus positiv wirken kann. „Kritische Bürgerinnen und Bürger erwarten mehr von der Politik“, sagt Welzel. „In Demokratien, in denen die Menschen regelmäßig für ihre Anliegen protestieren, funktionieren die Institutionen daher häufig besser.“

Produktive & unproduktive Formen des Misstrauens

Tatsächlich gibt es dafür auch empirische Belege. Einer davon stammt von der Frankfurter Politologin Brigitte Geißel: Sie hat festgestellt, dass Staaten, in denen die Bürger der Politik auf die Finger schauen, besser und effektiver regiert werden. Eine gesunde Skepsis setzt die Entscheiderinnen und Entscheider unter Rechtfertigungsdruck: Ist es wirklich sinnvoll, Ausgangssperren zu verhängen? Geben die Daten zu den Effekten dieser Maßnahme einen solch schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte wirklich her?

Müssen die Kitas tatsächlich schließen oder sind die negativen psychischen Folgen für die Kinder zu groß? Ist das Verbot, sterbende Angehörige im Altersheim zu besuchen, tatsächlich alternativlos? Kritik heißt auch, denen zu misstrauen, die sich in einer Situation die Deutungshoheit anmaßen – gerade wenn der Wissensstand noch lückenhaft ist.

Es ist allerdings ein Unterschied, ob die Regierten den Versprechungen der Mächtigen mit Argwohn begegnen und ihre Entscheidungen kritisch hinterfragen oder ob sie die Politik und ihre Institutionen insgesamt misstrauisch infrage stellen. Christian Welzel differenziert zwischen „produktiven“ und „unproduktiven“ Formen vertikalen Misstrauens. Die erstere gründe auf emanzipativen Werten wie Kritikfähigkeit und Engagement. „Daneben gibt es aber das diffuse und zynische Misstrauen, das vor allem durch die Negativität der Medien gespeist wird. Und dieser Teil ist eher unproduktiv.“

Wovor wir Angst haben

Der Politologe hat kürzlich zusammen mit Kolleginnen und Kollegen untersucht, wie sich die Pandemie auf das vertikale Vertrauen ausgewirkt hat. Sie stützten sich dazu auf eine repräsentative Umfrage in Großbritannien und Deutschland. Insgesamt hatten mehr als 2000 Frauen und Männer daran teilgenommen. Sie alle waren zweimal befragt worden: zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 sowie ein Jahr später. Die Ergebnisse der Studie haben noch nicht den nor­malen Begutachtungsprozess wissenschaftlicher Arbeiten durchlaufen. Sie sind aber bereits als Diskussionspapier erschienen.

In beiden Ländern stieg das Vertrauen in die Regierung in der Frühphase der Pandemie demnach dramatisch an, um dann im zweiten Jahr wieder etwas abzusinken. Dennoch blieb es auf einem deutlich höheren Level als vor Covid-19, wie der Vergleich mit zuvor gemachten Erhebungen zeigt. Allerdings gab es in der Bevölkerung in dieser Hinsicht erhebliche Unterschiede, gerade in Deutschland: Befragte, die die gesundheitlichen Folgen des Virus fürchteten, vertrauten der Regierung während der Pandemie stärker als vor Ausbruch des Erregers. Wer Angst vor den wirtschaftlichen Konsequenzen hatte, verlor dagegen (im Vergleich zu Vor-Corona-Zeiten) Vertrauen.

Diese Ängste spielen übrigens eine weit stärkere Rolle als die tatsächlichen Erfahrungen wie etwa eine selbst durchgemachte Erkrankung oder ökonomische Einbußen aufgrund der verhängten Beschränkungen. „Bei einer weiteren Auswertung der Daten kam zudem noch ein zusätzlicher Zusammenhang sehr deutlich zum Vorschein“, betont Welzel:

„Menschen, die über ein hohes Maß an Vertrauen in Institutionen verfügen, sind eher dazu bereit, sich an die Regeln zu halten.“ Die Ergebnisse bestätigen in diesem Punkt also die schon erwähnte COSMO-Studie. Wenig überraschend ist auch ein weiterer Befund: „Wer viel in den sozialen Medien unterwegs ist, steht den Coronamaßnahmen im Schnitt kritischer gegenüber.“

Vertrauen ist nicht blind

Neben dem vertikalen gibt es auch noch das zwischenmenschliche oder „horizontale“ Vertrauen. Und diese zweite Sorte sank zu Beginn der Pandemie in Großbritannien und in Deutschland. Ob das tatsächlich auf das Virus zurückzuführen ist, lässt sich aus den Daten allerdings nicht ablesen. Kommt es beim Vertrauen in Institutionen auf das richtige Maß an, ist hier die Sache eindeutiger:

„Horizontales Vertrauen ist Sozialkapital“, sagt Welzel – also der Kitt, der Gesellschaften zusammenhält: der Glaube, dass die meisten Menschen freundlich miteinander umgehen, dass sie sich an die Regeln des Zusammenlebens halten und einander in Notfällen unterstützen. Prinzipiell gelte daher: Je mehr Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft einander vertrauen, desto besser.

Das bedeutet aber nicht, die Mitmenschen durch die rosarote Brille zu betrachten. Denn natürlich sind darunter auch immer wieder solche, die uns ausnutzen oder übers Ohr hauen möchten. „Vertrauen ist nicht blind: dazu gehört immer auch, Warnsignale zu beachten“, sagt Martin Schweer, Leiter des Zentrums für Vertrauensforschung an der Universität Vechta. Der im Jahr 2019 verstorbene Bremer Psychologe Franz Petermann, Verfasser des Buchs Psychologie des Vertrauens, sah das ähnlich: „Naiv zu vertrauen ist gefährlich, weil es die Verletzbarkeit erhöht. Naives Misstrauen vernagelt dagegen die Türen zu sozialen Erfahrungen.“

Systemische Wachsamkeit

Wir sollten uns um eine positive Grundhaltung bemühen und nicht in allem sofort das Schlechteste vermuten. Gleichzeitig sollten wir aber unsere Augen offenhalten, um zu erkennen, wann dieses Vertrauen nicht gerechtfertigt ist. Psychologinnen sprechen in diesem Zusammenhang auch von „systemischer Wachsamkeit“.

Vertrauensselige Menschen sind übrigens nicht automatisch weniger wachsam, wie französische Wissenschaftler vor einigen Jahren zeigen konnten: Sie teilten Versuchspersonen in Investoren und Treuhänder ein. Jeder Investor erhielt eine Geldsumme, die er durch eine Spekulation vergrößern konnte. Dazu musste er sein Geld jedoch dem Treuhänder anvertrauen. Je höher der dabei eingesetzte Betrag, desto höher der mögliche Gewinn. Mit dem Experiment ließ sich so sehr einfach messen, wie sehr der Investor seinem Vermögensverwalter vertraute.

Die Hälfte der Investoren erhielt vor der Geldanlage ein Nasenspray mit dem Hormon Oxytocin. Die Substanz gilt als vertrauensfördernd. Tatsächlich überwiesen die Investoren unter Oxytocin-Einfluss ihren Treuhändern deutlich höhere Summen. Wenn sie aber zuvor Informationen erhalten hatten, die sie an der Ehrlichkeit des Verwalters zweifeln ließen, zeigte das Oxytocin keine Wirkung. Das Hormon förderte also das Vertrauen, ohne gleichzeitig das Misstrauen zu schwächen.

Wenn Wissen lückenhaft ist

Das Experiment zeigt auch, dass Misstrauen eine Frage des Kontextes ist: Wenn wir hören, jemand sei eine Betrügerin, werden wir ihr vermutlich kein Geld anvertrauen. Ebenso wichtig sind in diesem Zusammenhang die eigenen Erfahrungen: Ist unser Auto kurz nach der Reparatur schon wieder kaputt, wechseln wir die Werkstatt. Haben wir bei einer riskanten Geldanlage unsere Ersparnisse verloren, sehen wir die Versprechungen der Anlageberaterin zukünftig skeptischer.

Studien zufolge nutzen schon Fünfjährige ihre Vorerfahrungen als Richtschnur: Wenn sie mitbekommen, dass ein Erwachsener wiederholt falsche Informationen gegeben hat, fragen sie zukünftig jemand Zuverlässigeren.

Dass manche Menschen der Wissenschaft so sehr misstrauen, könnte demnach auch damit zu tun haben, wie Forscherinnen ihre Ergebnisse kommunizieren. Denn gerade am Anfang ist das Wissen ja oft noch sehr lückenhaft. Entsprechend groß ist das Risiko, dass die Empfehlungen von gestern heute schon wieder revidiert werden müssen.

Da kann sich schnell der Eindruck einstellen: Die erzählen viel, aber eigentlich wissen die es doch auch nicht. Das habe man beispielsweise bei der Maskendiskussion gesehen, meint der Lüneburger Wissenschaftler Christian Welzel: „Da hieß es zunächst, dass die gar nichts bringen, und später dann: Doch, tragt sie, damit schützt ihr zumindest die anderen“, sagt er. „Für manche Menschen ist es schwierig, da noch mitzukommen.“

Von Unsicherheiten berichten

Im wissenschaftlichen Diskurs ist es üblich, auf Unsicherheiten und weiße Flecken auf der Landkarte des Wissens hinzuweisen. Bei der Kommunikation mit der Öffentlichkeit kommt diese Tugend aber häufig zu kurz. Oft sind es gar nicht die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich diesen Schuh anziehen müssen, sondern die Medien. Denn die bevorzugen klare Aussagen – wohl auch aus Angst, ihre Zuhörer-, Zuschauer- oder Leserschaft zu verwirren. Dabei zeigen Studien, dass das Vertrauen in eine Quelle nicht leidet, wenn ihre Ergebnisse als unsicher dargestellt werden.

Wie misstrauisch wir sind, ist auch eine Frage unserer persönlichen Geschichte. „Wir haben eine Art Konto, auf das wir negative und positive Erfahrungen buchen“, erklärte der Psychologe Franz Petermann. „Und wenn darunter zu viele Enttäuschungen sind, werden wir irgendwann in unserem Lebensprinzip insgesamt misstrauischer.“

Das Poliovirus wurde ausgerottet

Eine Sichtweise, die auch Vertrauensforscher Martin Schweer teilt: „Ein wichtiger Faktor sind die frühkindlichen Bindungserfahrungen: Je sicherer diese waren, desto eher sind wir später bereit, anderen einen Vertrauensvorschuss zu geben“, erläutert er. „Daneben spielen aber selbstverständlich auch noch Erlebnisse im Jugend- und Erwachsenenalter eine wesentliche Rolle für die Frage, wie vertrauensvoll wir sind.“

Dieser Effekt lässt sich sehr gut ein einem Land beobachten, das von der Coviderkrankung in der ersten Welle noch besonders stark betroffen war – in Spanien. Dort war der Run auf das Vakzin erheblicher höher als hierzulande. Ein Grund liegt womöglich in einem historischen Trauma: Während der Francodiktatur wurde in Spanien kaum gegen die Kinderlähmung geimpft, so dass bis in die 1970er Jahre tausende von Kindern und Erwachsenen erkrankten.

Erst durch flächendeckende Vakzinierung gelang es schließlich, das Poliovirus auszurotten – ein Erfolg, der vielen Menschen dort immer noch in positiver Erinnerung ist. Er scheint ihr Vertrauen in die Wissenschaft bis heute zu stärken - Angst vor dem kleinen Piks hat dort offensichtlich kaum jemand.

Literatur

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Armin Falk und Michael Kosfeld: The Hidden Costs of Control. The American Economic Review, 96 (5), 2006, S. 1611–30,

Brigitte Geißel: Do critical citizens foster better governance? A comparative study. West European Politics, 31/5, 2008, S. 855–873. DOI: 10.1080/01402380802234516

Vanderbilt, K.E., Liu, D. and Heyman, G.D. (2011), The Development of Distrust. Child Development, 82: 1372-1380. 

Florian Mühlfried: Misstrauen: Vom Wert eines Unwertes. Reclam, 2019

Franz Petermann: Psychologie des Vertrauens. Hogrefe, 4., überarbeitete Auflage 2013

https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/web/topic/impfung/10-impfungen/

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2022: Für sich einstehen