Herr Latscha, bei der Debatte um Polizeigewalt heißt es zur Verteidigung der Beamten oft, sie seien ja auch nur Menschen. Aber müssen wir in einer Demokratie nicht höhere charakterliche Ansprüche an die Trägerinnen und Träger des Gewaltmonopols stellen?
Natürlich müssen wir das. In den vergangenen Jahren wurde deshalb bei der Auswahl und der Ausbildung der Anwärterinnen und Anwärter viel getan, um diesen Anspruch zu erfüllen. Klar rutscht auch mal jemand durch, der charakterlich nicht geeignet ist. Das ist…
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Anspruch zu erfüllen. Klar rutscht auch mal jemand durch, der charakterlich nicht geeignet ist. Das ist aber definitiv ein ganz geringer Anteil. Für mich lautet deshalb die entscheidende Frage: Wie viel muss eine Polizistin, ein Polizist eigentlich aushalten? Ich jedenfalls glaube, dass irgendwann eine Grenze erreicht sein kann. Natürlich haben die Menschen diesen Beruf selbst gewählt und sollten wissen, was auf sie zukommt. Aber wenn jemand in fünf Schichten jedes Mal auf die Mütze bekommt, muss er es dann das sechste Mal auch noch aushalten?
In vielen der Videos, die Fälle von Polizeigewalt zeigen, scheint diese Frage recht eindeutig beantwortet zu werden.
Die Frage ist doch, was wir in solchen Clips sehen. Dort fehlt meist die Vorgeschichte, möglicherweise die Provokation, der Widerstand. Man sieht bloß eine Person der Polizei, die jemanden zu Boden bringt, der offenbar gar nichts gemacht hat. Das heißt natürlich nicht, dass das nicht auch so gewesen sein könnte. Aber oft wissen wir es nicht und empören uns dennoch erst einmal.
Ich glaube jedenfalls nicht, dass wir in Deutschland ein Problem mit übermäßiger Polizeigewalt haben. Der größte Anteil der Menschen im Polizeidienst macht einen guten Job. Dazu kommen sicherlich welche, die bisweilen überdrehen, aber auch solche, die generell eher zu zögerlich sind.
Ist die öffentliche Kritik also zu pauschal?
Ich habe da zwei Seelen in meiner Brust. Wir müssen einerseits viel kritischer mit dem Konstrukt Polizei umgehen. Das ist ein unglaublich geschlossenes und komplexes System – darum gibt es ja auch kaum wissenschaftliche Untersuchungen zu dem Thema. Man weiß sehr wenig über Gewalt gegen oder von Polizisten. Das ist ein riesiges Problem.
Auf der andern Seite muss man aber auch den einzelnen Menschen sehen. Ich kenne ja die Kollegen und Kolleginnen, die draußen ihren Dienst tun und denen man mit der aktuellen Debatte Unrecht tut. Man kann das auch nicht mit den USA vergleichen, wo Deeskalation in der Polizeiausbildung kaum eine Rolle spielt.
Werden deutsche Beamte ausreichend auf den Umgang mit Gewalt vorbereitet?
Es gibt auch bei uns Probleme. Wir haben im Studium einfach zu wenig Zeit, um diese Szenarien wirklich intensiv üben zu können. Etwa wie Tonfall, Formulierung oder Körperhaltung die Reaktionen des Gegenübers beeinflussen können.
Die Ansprüche müssen aber auch realistisch bleiben. Wenn ich nur aufgrund der jüngsten Presseanfragen zusammentrage, welche Inhalte offenbar in die Polizeiausbildung gehören, dann könnte ich daraus schon den Lehrplan für ein halbes Psychologiestudium erstellen.
Manche Expertinnen sagen, im Hörsaal möge das alles funktionieren, aber im Einsatz sehe das ganz anders aus.
Wir haben recht häufig Studierende, die schon Erfahrungen in einem Revier gesammelt haben. Wenn ich meine Strategien vorstelle, sagt immer eine Person, das würde in der Praxis gar nicht funktionieren. Das mag in ihrem Fall zutreffen, in einem anderen aber nicht. Denn ob ich in einem Innenstadtrevier oder auf dem Land arbeite, macht einen riesigen Unterschied in Bezug auf die Situationen, die ich bewältigen muss. Wir geben den Beamten und Beamtinnen deshalb einen mentalen Koffer mit wirksamen Techniken mit, die sie sofort anwenden können.
Welche sind das zum Beispiel?
Gerade bei Einsätzen in Wohnräumen kann es schon die Anspannung senken, wenn Geräuschquellen wie ein lauter Fernseher reduziert werden. Im Umgang mit psychotischen Personen gilt wiederum, dass diese Menschen eine ganz andere Wahrnehmung von Distanz haben. Wenn ein Betroffener unruhig und aggressiv wird, hilft es oft, einfach mal einen Schritt zurückzugehen. Das klingt banal, aber die meisten Polizisten würden in solchen Fällen intuitiv eher auf die Person zugehen. Am wichtigsten ist es, im Einsatz handlungsfähig zu bleiben. Wenn ich solche Kniffe im Hinterkopf habe, auf die ich zurückgreifen kann, bleibe ich sicher. Ist das nicht der Fall, entsteht Hilflosigkeit.
Der Soziologe Randall Collins hat dafür den Begriff „Flucht nach vorn“ geprägt. Also ein Umschlagen von Unsicherheit in Gewalt.
Ja, das kann in solchen Fällen durchaus passieren. Viele werden auch schon zu Berufsbeginn verheizt, weil sie heute sofort nach dem Studium Streife fahren müssen. Das war früher anders und es hat unter anderem mit einer verfehlten Personalpolitik zu tun. Letztlich erhöht das die Gefahr, dass Polizistinnen in Situationen kommen, in denen sie sich überfordert fühlen. Ich habe einmal mit Beamten gesprochen, die einen psychisch Erkrankten erschossen haben, weil er sie mit einem Messer bedroht hatte. Die Polizisten hatten ihn zuvor mehrmals mit gezogener Schusswaffe aufgefordert, das Messer wegzulegen – nur ist der Mann dem eben nicht nachgekommen. Und das ist dann eine Form der Hilflosigkeit, wo die Beamten später sagen: „Ich habe ihn doch dreimal aufgefordert, warum hat er denn bloß nicht das Messer weggelegt?“ Der Gebrauch der Schusswaffe ist für die meisten mit starken Schuldgefühlen verbunden.
Wie verhält sich das bei Formen von Polizeigewalt, wie sie etwa bei Demonstrationen immer wieder kritisiert wird?
Zunächst einmal wissen die Beamten, dass es bei Veranstaltungen mit extremen Gruppierungen oft zu Auseinandersetzungen kommt. Wenn Sie also im Mannschaftsbus zum Hamburger G20-Gipfel fahren, wissen Sie vorher, dass da Steine fliegen. Da nimmt man sich vor allem vor, selbst keinen abzukriegen.
Aber so baut man ein Feindbild auf, das gewalttätige Handlungen in der eigenen Gruppe legitimiert.
Ja und nein. Ich glaube nicht, dass die Polizei jemals eine friedliche linke Demo nicht schützen würde, nur weil es beim G20-Gipfel jedes Mal knallt. Dennoch gibt es natürlich eine Dynamik, dass gerade geschlossene Einheiten der Bereitschaftspolizei militante Gruppen wie den „Schwarzen Block“ als eine Art Gegenspieler betrachten. Dann werden in der Gruppe vielleicht Videos gezeigt, in denen Vermummte Steine werfen, und schon zementiert sich dieses Wir-gegen-die-Gefühl auch bei den bisher Unbeteiligten. Das kann durchaus problematisch sein. Und dennoch: Natürlich werden auch bei solchen Konstellationen friedliche Wege versucht – es ist ja nicht so, als seien in der Bereitschaftspolizei alle Schlägertypen.
Muss man denn für die ständige Konfrontation mit Hooligans oder Randaliererinnen und Randalierern einen speziellen Charakter mitbringen?
Wenn Sie mit Charakter meinen, dass diese Beamten alle auf Gewalt abfahren, dann lautet die Antwort: nein. Es mag sein, dass in solchen Einheiten Dinge wie Körperlichkeit oder Sport eine größere Rolle spielen. Meiner Erfahrung nach sind das aber vor allem Menschen, die sich auch in ihrer Freizeit für andere einsetzen, vielleicht als Jugendtrainerin oder Bergführer. Natürlich kommen die einem auf den ersten Blick wie die harten Typen vor – aber das macht ja bei ihrem Einsatzprofil auch durchaus Sinn.
Stumpft man denn nicht ab, wenn man ständig Extremsituationen ausgesetzt ist?
Zumindest unterscheidet sich die Wahrnehmung irgendwann stark von der einer normalen Bürgerin. Ein Fallanalytiker antwortete einmal auf meine Frage, was er im Job mal wieder gerne machen würde: „Ein ganz normaler Mord wäre schön.“ Das muss man sich mal vorstellen: Der war schon so tief in seiner Welt aus Grausamkeiten und menschlichen Abgründen, dass ihm ein einfacher Mord schon wie Erholung vorkam.
Spielt Gewalt in Ihren Gesprächen als Polizeipsychologe eine Rolle?
Wenn Beamtinnen oder Beamte Opfer von Gewalt geworden sind, kann das zu großen Belastungen führen. Der Gewaltbegriff wird da manchmal weit gefasst. Es kann schon wahnsinnig entwürdigend sein, angespuckt zu werden. Für manche ist es nach solchen Ereignissen ein Riesenproblem, mit der Uniform in der Öffentlichkeit zu sein. Sie haben Angst, wieder in eine ähnliche Situation hineingezogen zu werden. Viele knabbern auch an der Frage, ob sie selbst schuld waren, und fangen an, Dinge zu vermeiden, die mit dem Erlebnis assoziiert sind: Dunkelheit, Alkohol, Menschenmengen. Das nehmen die Betroffenen dann meist aus dem Berufsleben mit ins Private.
Und was ist, wenn Polizistinnen oder Polizisten selbst handgreiflich werden?
Zu mir hat jedenfalls noch nie eine gesagt: Mir geht es schlecht, weil ich im Dienst ständig überdrehe. Möglicherweise spricht man nach einem Einsatz untereinander noch darüber und sagt, dass manches ein wenig übertrieben war. In den Gesprächen merke ich aber durchaus, dass Polizisten bei Einsätzen in derart intensive Situationen kommen können, dass sie auch mal Gewaltvorstellungen entwickeln. Nach dem Motto: Dem würde ich jetzt am liebsten eine scheuern. In den allermeisten Fällen halten sich die Personen dann zurück, manchmal gibt es aber vielleicht doch einen kleinen Rempler auf dem Weg zur Gewahrsamszelle, um etwas Druck abzulassen.
Wie wirkt sich dieser Druck auf die Psyche der Polizisten aus?
Der Anteil der Personen mit posttraumatischen Belastungsstörungen [PTBS] ist bei ihnen tatsächlich höher als in der Gesamtbevölkerung. Wenn man jedoch die Dinge, die ein Polizist erlebt, mit dem Berufsalltag einer Normalbürgerin vergleicht, relativiert sich das wieder. Wir haben aber herausgefunden, dass viele Betroffene ihre Symptome offenbar nicht als Beeinträchtigung wahrnehmen. Das hat etwas mit der Kultur innerhalb der Polizei zu tun, in der Stärke eine große Rolle spielt. Das haben manche so verinnerlicht, dass sie auch gegenüber Kollegen und der Familie keine Schwäche mehr zeigen können. Wenn die dann zur psychologischen Beratung kommen, schwelen die Probleme oft schon sehr viel länger unter der Oberfläche. Oft ist ihre größte Sorge, dass einer der Kollegen etwas davon mitbekommt. Denn im Berufsalltag eines Polizeibeamten geht es immer auch um die Beurteilung durch Vorgesetzte. Und wenn jemand bei der Psychologin war, weckt das leider gerade bei den alten Haudegen immer noch sehr oft Zweifel an dessen Stabilität und Eignung für eine Führungsposition.
Zu den Symptomen einer PTBS gehören auch Reizbarkeit und Nervosität. Nicht gerade förderlich, wenn offenbar viele glauben, mit ihnen sei alles in Ordnung, und dann auf Streife gehen.
Natürlich sind das keine guten Voraussetzungen für eine gute Performance im Dienst. Das heißt aber nicht, dass die Beamtin dann notwendigerweise aggressiver agiert. PTBS können ganz unterschiedliche Effekte haben, beispielsweise auch, dass Konflikte gezielt vermieden werden. Es gibt leider keine wissenschaftlichen Arbeiten, die einen Zusammenhang zwischen Belastungen und Gewalt von Beamtinnen und Beamten untersucht haben.
Innenminister Horst Seehofer hat eine gezielte Studie über strukturellen Rassismus in der Polizei abgelehnt. Wie unabhängig ist die Wissenschaft, wenn es um die Polizei geht?
Wenn es nur nach dem bayerischen Innenministerium gegangen wäre, hätte ich damals meine Doktorarbeit über Belastungsstörungen in der Polizei gar nicht veröffentlichen dürfen. Auch als ich eine Bachelorarbeit zu Homosexualität in der Polizei betreuen wollte, gab es eine riesige Diskussion. Meine Kollegin Karoline Ellrich wiederum hat zu Gewalt gegen Polizeibeamte geforscht. Trotz ihrer umfangreichen Arbeit können wir immer noch nicht sagen, welche Personen das eigentlich betrifft. Die entsprechenden Fragen wurden nach langer Diskussion mit den Präsidien aus dem Katalog gestrichen.
Offenheit sieht anders aus.
Man will wohl mit aller Kraft vermeiden, dass irgendetwas Negatives herauskommt. Ich frage mich: Warum hält es eine Organisation mit tausenden von Mitarbeitenden nicht aus, wenn vielleicht ein Prozent davon Probleme macht? Das bedeutet doch erstens, dass 99 Prozent einen guten Job machen, und zweitens, dass man sich der Problemgruppe gezielter widmen könnte. Letztlich wirkt sich das alles auf die alltägliche Polizeiarbeit und den Umgang mit Gewalt aus. Wenn in Ministerien und Präsidien eine mangelhafte Fehlerkultur vorgelebt wird, wie kann ich dann von Streifenpolizistinnen erwarten, dass sie über eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstkritik verfügen?
Knut Latscha ist Dekan der sozialwissenschaftlichen Fakultät an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg und beschäftigt sich in Forschung und Praxis vor allem mit Belastungsreaktionen bei Polizeibeamten. Er hat sechs Jahre als Polizeipsychologe in München gearbeitet und ist heute niedergelassener Psychotherapeut in Rottweil