„Ein riesiges Arbeitsprogramm“

Psychologieprofessor Kurt Pawlik über die Erfolgsgeschichte der Psychologie, ihre unvergleichliche Entwicklung und ihre Bedeutung für die Gesellschaft.

Herr Professor Pawlik, wie würden Sie den Zustand der Psychologie in Deutschland und überhaupt derzeit beschreiben?

Ich bin in der spannenden Lage, die Psychologie seit 1952 zu kennen – damals habe ich begonnen, in Wien zu studieren. Nach der Habilitation wurde ich 1966 mit 31 Jahren Professor für Psychologie in Hamburg. Von da an bis heute überblicke ich die Psychologie auch als international Mitwirkender. Und ich muss sagen: Der Aufschwung, den sie genommen hat, ist unvorstellbar. Selbst die besten…

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auch als international Mitwirkender. Und ich muss sagen: Der Aufschwung, den sie genommen hat, ist unvorstellbar. Selbst die besten Optimisten hätten das nie vorhergesehen.

Die Psychologie ist heute völlig etabliert, nicht nur am Markt der Berufe und in den Hochschulen, sondern auch in den Akademien der Wissenschaften in den USA, in Europa, auf allen Kontinenten. Es ist ein Aufstieg, um den uns andere Wissenschaften gleichen Lebensalters nur beneiden können. Früher waren Psychologen, auf sich und ihr Fach bezogen, von sehr reduziertem Selbstbewusstsein getragen. Das ist heute Gott sei Dank im Aufbau – ohne überheblich zu werden.

Trotzdem sagen viele Ihrer Kollegen, die Psychologie befinde sich in einer Krise.

Die Psychologie ist eine der von Gegenstand und Methodik her besonders schwierigen Wissenschaften. Das soll nicht arrogant klingen, aber wenn man die Psychologie etwa mit der Meteorologie vergleicht, einer anderen stark im Vorhersagebereich tätigen Wissenschaft, liegt die Zahl der Variablen, die die Meteorologie zu betrachten hat, bei weniger als ein Dutzend. Bezogen auf die Psychologie ist das minimal komplex.

Was ist die besondere Schwierigkeit?

Dass wir mit unserem System dieses System selbst verstehen wollen – normalerweise will ja ein höher komplexes System eine niederkomplexe Materie bearbeiten. Das ist ein unwahrscheinlich anspruchsvolles Vorhaben. Zudem findet unser Leben, Erleben und Verhalten in einem offenen System statt. Wir leben frei, als Individuen, in einer freien Gesellschaft, sodass Einflüsse sich dauernd neu ergeben können. Was Ursache und Wirkung ist, wechselt die Rolle. Die hohe Komplexität ergibt sich aber nicht nur aus der irrsinnigen Variablenmenge, ihren Abhängigkeiten und Interdependenzen und ihrem sehr schnellen offenen Ablauf. Hinzu kommt, dass man Psychologie nicht betreiben kann, ohne gleichzeitig methodisch mehrdimensional, multidisziplinär zu sein.

Generell scheint es, als sei das Verständnis der Psychologie und was sie ausmacht selbst unter Psychologen sehr unterschiedlich. Wie würden Sie den Kern zusammenfassen?

Ein angesehener Mathematiker hat auf die Frage „Wie definieren Sie Mathematik?“ einmal gesagt: „Mathematik ist das, was Mathematiker tun.“ Und das ist, glaube ich, die einzig treffende Antwort: Wenn man wissen will, was Psychologie ist und wovon sie handelt, sollte man sich ansehen, was Psychologen tun. Sie beforschen die Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Veränderung des menschlichen Erlebens und Verhaltens, seine Ursachen und Wirkungen.

Das ist ein riesiges Arbeitsprogramm, in dem es in der Natur der Sache liegt, dass nicht jeder alles tun kann und will. Aber es gibt nicht wenige, die innerhalb ein und derselben Arbeit sowohl natur- als auch sozialwissenschaftlich argumentieren, handeln oder methodisch vorgehen. Ich finde, darin liegt ein ganz besonderer Charme der Psychologie. Die Breite in Methodik und Zugang fand ich schon als Student faszinierend.

Wer ein bestimmtes Fachstudium absolviert, wird in seiner Haltung in Beruf und Leben oftmals stark davon beeinflusst. Ärzte etwa sind – zugespitzt formuliert – häufig pragmatisch, Juristen können besonders logisch argumentieren. Wie sollte ein Psychologiestudium die Absolventen idealerweise prägen?

Das ist eine ganz wichtige Frage. Mich hat als Hochschullehrer immer die Frage fasziniert, wie wir etwas unterrichten sollen, gemessen an dem Faktum, dass die Halbwertszeit des Wissens in der Psychologie in manchen Bereichen ungefähr bei acht Jahren liegt. Das heißt, nach acht Jahren ist die Hälfte des Gelernten nicht mehr der letzte Stand, entweder ist es widerlegt oder durch neues, verbessertes Wissen abgelöst worden. Wenn jemand im Lebensalter von 25 bis 30 Jahren graduiert und dann 32 Jahre tätig ist, durchläuft er diese Verfallszeit viermal. Deshalb ist Weiterbildung so wichtig, und wir müssen die Bereitschaft dazu und die Erkenntnis, dass sie unerlässlich ist, bereits im Studium vermitteln.

Wir müssen so ausbilden, dass man für den Zustand von morgen, den niemand vorhersagen kann, besser gewappnet ist. Mit Wissenschaften zu arbeiten setzt die innere Bereitschaft und Erkenntnis voraus, dass man es grundsätzlich nie mit letzten Wahrheiten zu tun hat, sondern mit einem augenblicklichen Wissens- und Kenntnisstand, der sich laufend ändert. Offenheit ist deshalb ganz wichtig.

Sie haben gesagt, dass die Psychologie heute so populär ist wie nie in ihrer gut 150 Jahre alten Geschichte. In Deutschland holen selbst große Nachrichtenmedien jetzt häufig psychologische Themen aufs Titelblatt. Ich habe trotzdem den Eindruck, dass die Psychologie nicht die gesellschaftliche Stimme hat, die sie haben könnte. Woran liegt das?

Soweit ich es übersehe, haben wir in der Psychologie auch immer die Zurückhaltung vor überschnell gegebenen Aussagen gelehrt: Man soll keine Aussage machen, ohne sie belegen zu können. Wenn ein Psychologe das ganz strikt handhabt, würde er sagen: „Das muss ich erst mal untersuchen.“ Oder: „Ich muss mal nachsehen, was es dazu an Literatur gibt.“ Solche heilsame Zurückhaltung dürfen wir auch nicht aufgeben.

Zu zurückhaltend waren die Psychologen allerdings mit dem Angebot und der Forderung, dass Psychologie Teil der allgemeinen Bildung werden muss. Wie kann man erwarten, dass spätere politische Entscheidungsträger elementares Grundwissen über das menschliche Erleben und Verhalten berücksichtigen, wenn sie es gar nicht kennen?

Österreich ist hier insofern eine Ausnahme, als dass dort schon um 1880 für die letzten zwei Jahrgänge am Gymnasium Unterricht in Psychologie und Philosophie eingeführt wurde – offen lassend, wie gut das war, gemessen gar an heutigem Wissen. Dennoch: Es hat einen gewissen Einblick gegeben. Wenn einer sich entschied, Psychologie zu studieren, war es anders als in Deutschland kein Fach, von dem er gar nichts wusste. Das empfinde ich als unglaublichen Rückstand in unserer Curriculumplanung, die immer noch am ganz klassischen Bildungsideal orientiert ist.

Was sind erste Anzeichen einer beginnenden Major Depression? Worin unterscheidet sich das vom Deprimiertsein? Ab wann muss ich fachlichen Rat suchen, zum Psychologen oder Psychiater gehen – ohne es als beschämend zu empfinden? All das ist elementares Grundwissen.

Dazu passt mein Eindruck vom allgemeinen Verständnis der Psychologie. Die Studienergebnisse, die in vielen Publikumsmedien publiziert werden, erscheinen Nichtpsychologen häufig banal, weil sie Dinge abbilden, die diese Menschen gefühlt schon wissen. Psychologie wirkt auf viele deshalb zu Unrecht wie eine Pseudowissenschaft.

Das Allgemeinverständnis zu studieren ist sehr interessant: Wie meinen Leute ohne Psychologiestudium, wie sie funktionieren? Dazu gibt es auch viel Literatur – und große Kulturunterschiede. Aber davon einmal Abstand nehmend: Dieses Populärwissen ist häufig widersprüchlich. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Gleich und Gleich gesellt sich gern – Gegensätze ziehen sich an. Was davon stimmt jetzt?

Es gibt Forschungsberichte, so kürzlich einen von der Nationalakademie Leopoldina, in dem tabellarisch am Beispiel der kognitiven Entwicklung gegenübergestellt wurde, was die Populärmeinung ist und was die Befunde sind. Und da können Sie sehr genau ersehen, wie häufig überhaupt nicht trivial ist, was die Psychologie findet.

Hat die Psychologie da aber nicht auch etwas versäumt?

Ja, das hat sie. Solche Übersichten sollte es zu allen wichtigen Themen geben, um zu zeigen, was heutiger Wissensstand ist und was Glaubensstand. Das Populärwissen führt häufig ja auch zu großer Verunsicherung und Instinkt-entfremdung. Sie sehen das heute beispielsweise bei Jüngeren, die Kinder bekommen und im erzieherischen Umgang sehr unsicher sind und dann über- oder unterreagieren.

Was fasziniert Sie persönlich eigentlich an der Psychologie? Warum haben Sie sich entschieden, dieses Fach zu studieren und dabeizubleiben?

In Österreich gab es damals schon eine allgemein angebotene Abiturientenberatung beim Arbeitsamt, und dort war ich auch. Ich wurde getestet, und ein Psychologe hat mit mir gesprochen. Der sagte, nach den Testergebnissen sei ich sicherlich sehr qualifiziert dafür, Psychologie zu studieren, „aber bitte lassen Sie es sein. Es ist beruflich völlig aussichtlos.“ Er kenne nur arbeitslose Psychologen, die als Taxifahrer arbeiteten, als Vertreter für Maggi-Suppenwürze und Ähnliches – das waren genau seine Worte: „Studieren Sie was anderes oder zumindest zusätzlich was anderes.“ Ich bin damals von dort weggegangen mit der festen Überzeugung, ich werde Psychologie studieren. Ich erzähle das Studenten immer auch gerne, nicht nur aus Scherz – wenn man sich für eine Sache wirklich tief interessiert, dann ist dies ein sehr guter Prädiktor.

Was ist Ihr Wunsch: Wie soll es weitergehen mit der Psychologie?

Mein dringlicher Wunsch ist, dass Psychologie als notwendiges Fachgebiet der Allgemeinbildung erkannt und ein Schulfach wird, mit vernünftigen Lehrplänen, Lehrbüchern und anderen Behelfen.

Man sollte Psychologen zudem nicht dauernd fragen, warum etwas so ist, sondern sie besser in Meinungs- und Planungsprozesse einbeziehen, sodass sie Gesichtspunkte von Anfang an mitdenken können, die man sonst gar nicht berücksichtigt, bei der Verkehrs- oder Stadtplanung beispielsweise und vielen anderen Dingen. Politikberatung ist ein großes Thema. Politiker sollen weiter die Handlungsfreiheit haben, wie die Verfassung sie ihnen gibt. Sie entscheiden politische Fragen, aber sie sollten es informiert tun können.

Und für diese Information bei Fragen, zu denen psychologische Expertise vonnöten wäre, müssen Kanäle geschaffen und Ressourcen bereitgestellt werden. Das Fatale ist ja, dass man nicht nach Wissen fragt, von dessen Existenz man nichts weiß. Das klingt banal, ist in seiner Konsequenz aber folgenschwer.

Prof. Kurt Pawlik wurde 1966 Universitätsprofessor in Hamburg. 2002 wurde er emeritiert. Der heute 83-Jährige trug zu mehr als 170 wissenschaftlichen Publikationen bei, darunter 18 Bücher und Handbücher. Er war neben weiteren Ämtern als Präsident des Criminological Scientific Council beim Europarat, der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, des International Social Science Council sowie derInternational Union of Psychological Science tätig.