Wie entsteht Vertrauen?

Philosoph Wilhelm Schmid über den verkannten Wert der Verlässlichkeit: Warum ist es einfacher, sich für ihn auszusprechen, als ihn zu leben?

Die Grafik zeigt einen kleinen Baum, der noch gestützt werden muss, dahinter steht ein großer Baum
Können wir uns auf ein verlässliches Miteinander stützen, so gewinnen wir Vertrauen in unsere individuelle Reifung. © bubaone/Getty Images

Morgens um sieben sind alle in Eile, ich auch. ­Niemand hat jetzt Lust zu reden, ich auch nicht. Geht den anderen dennoch einiges durch den Kopf? Mir auf jeden Fall. Was ist der Sinn des morgendlichen Durcheinanderrennens? Jede und jeder verfolgt eigene Ziele und ­Zwecke. Zur Firma, um Geld zu verdienen. Zum Arzt, um eine Krankheit behandeln zu lassen. Nach Hause, um sich von der Nacht zu erholen.

Alle aber sind angewiesen auf eines: auf die Verlässlichkeit derer, die jetzt schon ihren Job machen. Die…

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Alle aber sind angewiesen auf eines: auf die Verlässlichkeit derer, die jetzt schon ihren Job machen. Die S-Bahn-Fahrer befördern die vielen anonymen Ichs. Die Hausmeister schließen schon mal die Türen auf. Die Ärztinnen bereiten sich auf den Empfang der Patienten vor. Sie alle haben auch ihre Zwecke im Sinn.

Was sorgt im Durcheinander der Menschen für soziale Kohäsion, wie der Fachbegriff für Zusammenhalt heißt? Das ist wohl die Standardfrage, seit es um die Organisation des Zusammenlebens geht, also vermutlich seit den Anfängen der Menschheit. Die Hoffnung, dass die unterschiedlichsten Menschen etwas verbindet, geht damit einher. Werte können dafür von Bedeutung sein.

Einzelnen, aber auch Gruppen und schließlich der gesamten Gesellschaft dienen Werte zur Orientierung beim alltäglichen Verhalten und bei schwierigen Entscheidungen. Als Richtschnur und Eckpfeiler geben sie dem Leben Sinn und Halt. Ein solcher Wert ist die Verlässlichkeit, die frühmorgens schon für das Zusammenkommen der Auseinanderstrebenden sorgt, ohne lange darüber nachdenken zu müssen. Aber woher kommen Werte, wer vermittelt sie, was hält sie lebendig?

Das große Wir

Sie entstammen einer Wertschätzung, um die jede und jeder sich selbst bemühen kann. Aus guten Gründen macht das Wort „wertschätzend“ Karriere. Im Wortsinn verstanden, handelt es sich dabei um eine mehr oder weniger bewusste Beachtung dessen, was bejahenswert erscheint. Die Wertschätzung ist ein fortwährender, nie abgeschlossener Prozess im Inneren des Ich. Unabdingbar für das Zustandekommen von Werten ist über ihre bloße Wertschätzung hinaus ihre Realisierung. Sich für Werte auszusprechen ist einfach. Viel schwieriger ist, sie auch in die Tat umzusetzen.

So bejahenswert bestimmte Werte sein mögen, so abhängig sind sie von ihrer Verwirklichung, die immer auf das einzelne Ich angewiesen ist. Verlässlich soll sie sein, nicht Launen folgend, mal so, mal so. Ein „wertschätzendes Verhalten“ wird oft anderen abverlangt, weniger oft selbst gepflegt. Was Werten am meisten Überzeugungskraft verleiht, ist aber letzten Endes das existenzielle Argument der eigenen Lebensführung.

Eltern und andere Erziehende wissen aus Erfahrung, wie wenig es fruchtet zu „predigen“, wie viel hingegen das verlässliche Beispiel zählt. Auch das große Wir der Gesellschaft gelangt zu Werten, indem das einzelne Ich sie verlässlich unter Beweis stellt. Was sagt der angebliche Werteverfall also über die Gesellschaft aus? Fehlt es etwa an Menschen, die ihr Leben wirklich an Werten ausrichten? Unterlassen das immer nur die anderen?

Abhängig von der Selbsterziehung

Der wichtigste Wert für den Zusammenhalt schon zwischen zweien, in der Familie und überall in der Gesellschaft dürfte die Verlässlichkeit sein. Was sie wert ist, weiß ich, wenn ich vergeblich auf jemanden warte, mit dem ich verabredet bin. Verlässlichkeit macht das Leben leichter. Dazu schon als Kind erzogen worden zu sein ist hilfreich, reicht aber nicht immer fürs ganze Leben aus. Auch in der relativ harmlosen, im Alltag aber ziemlich nützlichen Form der Pünktlichkeit hängt sie von einer eigenen Anstrengung, einer Selbsterziehung ab. Statt sich darüber zu entrüsten, dass die Unzuverlässigkeit grassiert, kommt es darauf an, selbst verlässlicher zu werden.

Dabei hilft Asketik, von griechisch askesis, das heißt Übung, Wiederholung eines Verhaltens wie beim Training im Sport. Das ist dazu geeignet, Schritt für Schritt auch Werte einzuüben, sich an sie zu halten und sie im Leben durchzuhalten. Mit gutem Beispiel voranzugehen und damit die Wertschätzung anderer zu beeinflussen ist freilich schwieriger, als die Realisierung von Werten bei anderen zu überwachen.

Selbst verlässliche Entscheidungen treffen

Verlässlichkeit ist, wenn eintrifft, was erwartet oder erhofft worden ist. Sie ist ein Befund im Nachhinein, a posteriori. Etwas zu versprechen kostet nichts. Erst nach der Verwirklichung ist klar: Hier wurde verlässlich geliefert. Jede und jeder kann selbst dafür sorgen, sowohl privat in jeder Art von Beziehung als auch beruflich in Unternehmen, Behörden, Institutionen.

Womöglich gibt es eine mehr oder weniger ausgeprägte genetische Disposition dafür. Das Hormon Oxytocin, das die Bindung und Verbindlichkeit zwischen Menschen unterstützt, fördert womöglich auch die Verlässlichkeit, genauere Studien dazu wären wünschenswert. Auf jeden Fall kann ein Ich selbst die Entscheidung treffen, sich in Verlässlichkeit zu üben. Mit dem Benefit, dass im sozialen Umfeld, im Dorf, in der Stadt und im ganzen Land, wo andere sich auf mich und ich mich auf andere verlassen kann, ein Gefühl von Vertrautheit und Geborgenheit, kurz von Heimat entsteht.

In verbindender Treue

Verlässlichkeit begründet Vertrauen. Vertrauen ist zunächst nur der Glaube, dass eintrifft, was erwartet oder erhofft wird. Es ist eine Haltung im Vorhinein, a priori, aber das Vertrauen gedeiht erst recht im Nachhinein, wenn es sich als gerechtfertigt erweist, ich mich also erfahrungsgemäß darauf verlassen kann, dass Zusagen eingehalten werden. Dann wird Vertrauen zur „verbindenden Treue“, wie der entsprechende lateinische Ausdruck confidentia übersetzt werden kann.

Wachsen Kinder in einem verlässlichen Umfeld auf, können sie das Grundvertrauen in das Leben und die Welt entwickeln, das eine große Lebenshilfe ist. Natürlich ist es möglich, zuweilen auch nötig, einfach nur zu vertrauen, ohne Beweise der Verlässlichkeit: „Ich vertraue dir!“ Aber bittere Enttäuschungen sind die Folge, wenn die Beweise ausbleiben, ein Grundproblem in allen Arten von Beziehung.

Die Klage darüber, dass es an Vertrauen fehlt, liegt vielen auf der Zunge. Übersehen wird aber die Verlässlichkeit, die für dessen Zustandekommen erforderlich ist. Sie ist eine ­vertrauensbildende Maßnahme, die jedem Ich etwas abverlangt, nämlich eine Festlegung auf etwas und ein Festhalten daran, damit andere sich darauf verlassen können. Nur die Bereitschaft, sich festzulegen und dann daran festzuhalten, ermöglicht eine Beziehung oder auch nur eine Verabredung. Das fällt allerdings schwer in einer Zeit, in der ständig Möglichkeiten um einen herum schwirren.

FOMO und JOMO

Lege ich mich jetzt für Samstagabend fest, entgehen mir vielleicht bessere Möglichkeiten, also laviere ich und sage eventuell im letzten Moment dort ab, wo ich zugesagt habe, unbekümmert darum, dass meine Gastgeber sich auf mein Erscheinen eingestellt haben. In einer Welt, in der auf nichts mehr Verlass ist, wird das Leben jedoch schwierig. War es zu anderen Zeiten einfacher? Ja, sehr wahrscheinlich, aber es war eine normative Verlässlichkeit, eine soziale Norm, der blind zu folgen war, in früheren Zeiten auch „preußische Tugend“ genannt. Jetzt geht es um eine optative Verlässlichkeit, die aus eigener Einsicht bewusst gewählt und selbstbestimmt realisiert wird.

Der Wert der Verlässlichkeit bürgt für vieles, was ohne ihn hinfällig wäre. Das gilt bereits für die Beziehung zu sich selbst. Halte ich mich an das, was ich mir versprochen habe, beispielsweise mich mehr zu bewegen, da es nun mal die Grundvoraussetzung für Gesundheit ist? Ich gewinne mehr Selbstvertrauen, wenn ich mich auf mich verlassen kann.

Erst recht ist Verlässlichkeit in der Beziehung zu anderen die Basis des Vertrauens. Dass der Mangel an Verlässlichkeit einer Beziehung nicht guttut, ist keine seltene Erfahrung in einer Zeit, in der die individuelle Freiheit als höchster Wert gilt. Zu viele wollen sich nicht mehr festlegen, aus Angst, ­etwas zu verpassen, fear of missing out (FOMO). Es ist der Unwille, vielleicht auch die Wehmut, ein liebgewonnenes ­Level der Freiheit aufgeben zu sollen, nämlich die Freiheit der Befreiung von jeder Festgelegtheit. Auch das „Loslassen“ gehört zu dieser Art von Freiheit, sicherlich oft angebracht, aber nicht immer.

Anspruchsvoller ist das höhere Level der Freiheit, die Festlegung, die aus Freiheit geschieht. Ein Ich kann sich aus ­freien Stücken dafür entscheiden, an etwas oder jemandem festzuhalten, um die Basis für Verlässlichkeit zu schaffen und damit Vertrauen zu begründen.

Die Angst, etwas zu verpassen, ist am besten durch die Freude daran zu überwinden, joy of missing out (JOMO), eine Idee von Luitgard Jany in ihrem Buch über Stille. Mit Freude verzichte ich auf Möglichkeiten, wenn ich dadurch eine verlässliche Wirklichkeit erhalte. Dass die Verlässlichkeit aktuell schwindet, eröffnet Chancen, denn umso mehr avanciert sie zu einem hohen Wert. Wertvolle Partner werden diejenigen, die sie bieten. Eine neue Art von Reichtum wird möglich, denn die Freude über einen verlässlichen Menschen öffnet viele Türen. Mit so einem Menschen leben und arbeiten alle gerne zusammen. Der Ärger über Unzuverlässigkeit aber verschließt Türen.

"Ich verspreche nichts!"

Diskutiere ich mit anderen darüber, erscheint ihnen ein Wert wie Verlässlichkeit freilich meist sekundär. Primär sei vielmehr die Würde des Menschen, die anders als die Verlässlichkeit ja auch im Grundgesetz verankert sei. Die Unterscheidung von primären Haupt- und sekundären Nebenwerten ist jedoch problematisch. Gerade ein so grundlegender Wert wie die Würde des Menschen wird zu Staub, wenn es keine Verlässlichkeit gibt. Die Würde mag unantastbar sein, aber manche tasten sie dennoch an.

Im Falle von Übergriffen ist es wichtig, sich auf die Hilfe anderer und die Arbeit von Menschen in Institutionen wie Polizei und Gerichten verlassen zu können. Auch in der Wirtschaft beruht Vertrauen auf Verlässlichkeit. Es ist nicht förderlich fürs Geschäft, wenn Kunden sich auf ein Produkt nicht verlassen können. In der Politik wiederum mangelt es notorisch an Verlässlichkeit, da zu viel versprochen wird, das angesichts zahlreicher Begehrlichkeiten gar nicht eingehalten werden kann. Aber wer würde jemanden wählen, der ehrlich sagte: „Ich verspreche nichts“?

Meist ist bei Werten im Übrigen von ideellen Werten die Rede. Die Lebenspraxis zeigt, dass materielle Werte ebenfalls eine Rolle spielen, und dies aus guten Gründen. Denn was wird aus der Würde des Menschen, wenn er seinen Lebensunterhalt nicht selbst verdienen kann? Was wird aus einer Beziehung, wenn das Geld nirgendwo hinreicht?

Im modernen Leben wollen Menschen sich etwas leisten können, kleinere und größere Dinge, etwa ein Smartphone oder ein ­Auto. Häufig stehen die materiellen Werte für etwas Ideelles, das Auto etwa für Freiheit, das Smartphone für Zeitvertreib und ständige Kontakte zu anderen. Verlässlichkeit ist erneut wichtig: Ein Auto, das zu oft in die Werkstatt muss, verliert ebenso an Wert wie ein Smartphone, das zu schnell entlädt. „Geiz ist geil“ gilt nicht für materielle Dinge, denen ein großer ­ideeller Wert zugemessen wird. Nur dann, wenn das Leben ausschließlich an materiellen Werten ohne jeden ideellen Wert orientiert wird, verliert es spürbar an Sinn.

Der soziale Sinn

Am wertvollsten ist die Verlässlichkeit aber für den sozialen Sinn, für die Erfahrung, dass Menschen füreinander da sind, auch wenn das Leben schwierig wird, und einander helfen, auch ohne sich zu kennen. Leitend kann beim Verhalten im kleinen Alltag wie bei größeren politischen Weichenstellungen die Frage sein: Was ist eine schöne, bejahenswerte, von Werten getragene Gesellschaft? Sollte es eine sein, in der die Verlässlichkeit eine große Rolle spielt, kann jede und jeder jeden Tag etwas Wertvolles dafür tun, beginnend schon ­morgens um sieben, wenn alle scheinbar sinnlos durcheinanderrennen.

Wilhelm Schmid, geboren 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin – seine ­Internetpräsenz: lebenskunstphilosophie.de. Gerade ist bei Insel ein neues Buch von ihm erschienen: Den Tod überleben. Vom Umgang mit dem ­Unfassbaren

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2024: Aber danach fang ich wirklich an