Warten tut weh

Kein Arztbesuch ohne Warten. Was passiert dabei mit uns? Welchen Einfluss hat die Umgebung? Tanja C. Vollmer über die Psychologie des Wartezimmers.

Blaue Plastikstühle stehen im Warteraum eines Arztes vor einer tristen grauen Wand
Greifbare Anspannung und unangenehme Stille – das Wartezimmer © Benjamin Rondel/Getty Images

„Bitte warten Sie. Die Ärztin wird Sie aufrufen.“ Ohnmacht, Unverständnis. „Ich bin doch pünktlich, wieso muss ich warten?“ Negative Gefühle machen sich breit. „Miese Terminplanung. Jedes Mal dasselbe.“ Kontrollverlust, Fremdbestimmung. Die Stimmung wird mit jeder Minute schlechter, die wir im Warteraum ausharren. Das Gefühl, abhängig und ausgebremst zu sein, kennen wir aus Kindertagen: „Warte, bis alle aufgegessen haben.“ „Warte, bis Mutti zurück ist.“ Als Erwachsene kratzt Warten an unserem Selbstwert und…

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bis Mutti zurück ist.“ Als Erwachsene kratzt Warten an unserem Selbstwert und Selbstverständnis, autonom zu sein.

Warten ist ein Zustand negativer Affekte. Je schlechter unsere Laune wird, desto langsamer vergeht unserer Empfindung nach die Zeit. Ein Teufelskreis, den man Wunschraum-Zeit-Paradox nennen könnte: Je weniger wir uns wün­schen, in einem Raum zu sein, desto länger kommt es uns vor, in ihm sein zu müssen. Gelingt es uns nicht, uns von der Zeit abzulenken, werden Unzufriedenheit und Unruhe als psychologischer Stress messbar. Je impulsiver eine Person ist, desto weniger entspannt ist sie und überschätzt die Länge der Wartezeit. Für Menschen, die positive Gefühle und zukunftsgerichtete Gedanken haben, vergeht das Warten hingegen schneller. Aber wie soll diese Entspannung gelingen? Wir haben Schmer­zen, uns geht es nicht gut.

In diesem Zustand werden die kunst­ledergepolsterten Stühle zur Qual, drücken auf Rücken und Gesäß. Das fahle Licht der gleichförmig grellen Deckenbeleuchtung schmerzt in Augen und Kopf. Bequeme Stühle, atmosphärische Beleuchtung, ein großes Fenster mit Ausblick, eine geschützte Leseecke oder Rückzugsnischen, Musik oder ein Schritt in den Garten würden Erleichterung bieten.

Die Gestaltung von Warteräumen beeinflusst die affektive Komponente der Zeitwahrnehmung. Sowohl soziale Aspekte als auch eine angenehme Raumtemperatur, Geräuschkulisse und Frischluftzufuhr könnten Stress und Ermüdung bei den Wartenden reduzieren. Diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen trotzend, sitzen wir perl­schnurartig aufgereiht im Kreis oder Viereck, Rücken an Rücken oder Schulter an Schulter in kargen Zimmern oder zugigen Gängen.

Zug und dicke Luft

Jeder versucht, gelassen zu wirken. Meist ist es totenstill. Ein „Guten Morgen“, wenn die oder der Nächste eintritt. Das war’s. Gesichter sind in Zeitschriften vergraben, die man sonst nicht lesen würde, oder spiegeln sich im Handydisplay. Die gut Vorbereiteten bringen ihre Lektüre selbst mit. Die Geübten fragen die Sitznachbarn nach ihren Beschwerden, um unaufgefordert von den eigenen zu berichten.

In diesen Zeiten ist es wichtig, nicht zu husten, Corona. Doch die Luft ist staubtrocken. Wenn ein Fenster geöffnet werden kann – keine Selbstverständlichkeit –, beklagen sich die einen über Zug. Bleibt es zu, spüren andere „dicke Luft“. Überhaupt ist Klagen und Leiden anwesend. Dem einen ins Gesicht geschrieben, dem anderen am Gang, an der Prothese, Narbe oder am Körpergeruch abzulesen.

Zeit steht still, Gesichter auch

Alle versuchen, den peinlichen Blicken der anderen auszuweichen. Die frontale Sitzordnung hält dagegen. Fensterplätze sind begehrt. Natürlich nicht im Erdgeschoss. Schließlich muss niemand wissen, dass wir krank sind. Was wir verschweigen wollen, thematisieren Broschüren, die neben moderner Kunst, Kinderzeichnungen und Hobbyfotografien des Doktors oder der Doktorin die Wände zieren. Manchmal sind diese farbig. Ob das der Beruhigung dient, ist wissenschaftlich nur unzureichend belegt.

Wir warten, bis der Arzt uns von all dem erlöst, und schauen gebannt auf die heilversprechende Tür, durch die er oder einer seiner Mitarbeiter kommen wird, um uns zur Behandlung zu holen. Zeit steht still, Gesichter auch. Wer nicht nach Hilfe sucht, wird in diesem Raum ganz sicher nicht sein. Was die Ärztin sagt, ist wichtig. Doch wer vorher in Räumen ohne Privatheit, Tageslicht, Weitsicht oder angenehme Pro­portionen warten muss, ist gestresster und in den Arztgesprächen weniger konzentriert.

Angst statt Ablenkung

Beim Warten nehmen wir nicht nur die Zeit, sondern auch uns selbst bewusster wahr. Uns selbst heißt: auch unseren Körper. Im Fall schwerer Krankheit ist das leidvoll und beängstigend, und die Ablenkung fällt besonders schwer. Die Gefahr, die von innen kommt, wird von der Ansteckungsgefahr im überfüllten Wartezimmer ergänzt. Zumindest hier hat Corona etwas Gutes: Wir sind weniger und sitzen weniger beengt. Dennoch macht sich Angst breit. Wie lange dauert das noch? Hat er mich vergessen? Hoffentlich kann er mir helfen!

Ängstliche Menschen empfinden die Zeit als ein kriechendes Etwas, sie scheinen eingefroren in der Zeit. Sollte der Raum dem nicht etwas entgegensetzen? Gar nicht erst Wartezimmer heißen? In der Freiburger Kinder- und Jugendklinik wird es künftig einen „Anti-Warteraum“ geben. Eine Kampfansage an die Bewegungslosigkeit, Berührungsängste und Leere der Wartezeiträume – mit einladenden Plätzen zum Austausch, Arbeiten, Bewegen, Ablenken und Entdecken. Hier wird gespielt, gelacht und getobt, bis der Arzt kommt.

Prof. Dr. Tanja C. Vollmer hat seit 2019 die Gastprofessur für „Architekturpsychologie und Gesundheitsbau“ an der Technischen Universität München inne. Zudem führt die Biologin und Psychologin gemeinsam mit der Architektin Gemma Koppen das ­Architekturbüro „Kopvol“ in Rotterdam und Berlin

Quellen

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Tanja C. Vollmer: Heilende Architektur: Wunsch oder Wirklichkeit? Vortrag gehalten im Rahmen der 35. Bertha-Benz-Vorlesung am 14. Juni 2018

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Tanja C. Vollmer, Gemma Koppen: Die Erkrankung des Raumes: Raumwahrnehmung im Zustand körperlicher Versehrtheit und deren Bedeutung für die Architektur. Utz, München 2010

Tanja C. Vollmer, Gemma Koppen: Weil Patientenorientierung kein Luxus, sondern Versorgungsauftrag ist! – Qualitatives Raumkonzept, Patientenbereiche: Neubauprojekt „Unsere Kinder- und Jugendklinik Freiburg“. Initiative, Freiburg 2013

Tanja C. Vollmer u. a.: Raum für Nähe und Distanz: Raumwahrnehmung und Gestaltungspräferenz in der ambulanten Chemotherapie. In: Thomas Schopperth u. a. (Hrsg.): Psychoonkologie: Berührtsein zwischen Nähe und Distanz (dapo Jahrbuch 2019). Pabst Science Publishers, Lengerich 2020

Marc Wittmann: Felt time: The psychology of how we perceive time. MIT Press, Cambridge 2016

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2021: Sehnsucht nach Verbundenheit