Würde: „Nicht aus einem Guss“

„Würde ist eine Art, auf die Zumutungen des Lebens zu reagieren“: Philosoph Peter Bieri über sein neues Buch zur Würde und ihrer Gefährdungen.

Ein Gorilla schaut ernst und wirkt würdevoll
Gorillas - Tiere, die sehr würdevoll wirken © pixonaut/Getty Images

Psychologie Heute Herr Professor Bieri, wann haben Sie zuletzt gesagt oder gedacht: „Das ist unter meiner Würde.“?

Peter BIERI Das ist eine Redeweise, die ich eigentlich nicht mag, weil sie für mein Empfinden etwas Hochnäsiges bedeutet: Dafür bin ich mir zu schade. Man kann die Worte aber auch so lesen, dass sie bedeuten: Das verträgt sich nicht mit meiner Selbstachtung. Das ist etwas anderes, und dieser Gedanke ist mir natürlich geläufig.

PH Und was bringt Sie auf die Idee, dass jemandes Würde auf dem Spiel…

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Gedanke ist mir natürlich geläufig.

PH Und was bringt Sie auf die Idee, dass jemandes Würde auf dem Spiel steht?

BIERI Es gibt ganz unterschiedliche Situationen, die diesen Eindruck mit sich bringen können. Es kann beispielsweise geschehen, dass jemand etwas tut, was ihn in Konflikt mit seinem Selbstbild bringt – mit der Art, wie er sich sieht. Vielleicht tut er es, um einen Konflikt zu vermeiden oder anderen zu gefallen. Wenn er zurückblickt, mag er auf eine besondere Art unzufrieden mit sich selbst sein, die mit einem Verlust an Selbstachtung zu tun hat. Und dann mag er denken: Das war unter meiner Würde.

PH Warum wollten Sie ein Buch über die Würde schreiben? Ist sie mehr als sonst in Gefahr? Sind Ihnen besondere Würdeverluste oder Entwürdigungen aufgefallen?

BIERI Ich habe über viele Jahre hinweg immer wieder Situationen erlebt, in denen ich auf besondere Weise aufgeschreckt bin. Dieses Aufschrecken, so schien mir, hatte jedes Mal etwas mit der Idee der Würde zu tun. Ich hatte das Bedürfnis, Ordnung in diese Erfahrungen zu bringen. Aus diesem Bedürfnis heraus ist das Buch entstanden.

PH Können Sie eine typische Situation nennen, bei der Sie aufschrecken?

BIERI Vor allem schrecke ich auf, wenn ich Leute sehe, die Abhängigkeit und Ohnmacht erleben müssen. Leute also, die gedemütigt werden und um etwas betteln müssen. Aber es erschreckt mich auch, wenn Intimität zerstört und Privates an die Öffentlichkeit gezerrt wird. Oder wenn Menschen sich selbst verlieren, weil ihr Gedächtnis und ihre Fähigkeiten erlöschen. Auch habe ich ein Gefängnis besucht und mich gefragt, wie sich eine Strafe, die Würde wahrt, von einer unterscheidet, die sie zerstört. Von all diesen Dingen handelt das Buch.

PH Ist Würde ein Gefühl oder eher eine Haltung? Hat der eine ein Sensorium für Würde und der andere nicht? Oder ist Würde vor allem etwas, das den Beobachter eines Würdeverlustes umtreibt?

BIERI Würde, wie ich sie verstehe, ist eine Haltung – eine Weise, den Herausforderungen des Lebens zu begegnen. Sie ist etwas kulturell Erlerntes. Aber da sie elementare Dinge des menschlichen Lebens betrifft, wird es kaum jemanden geben, der überhaupt keinerlei Sensibilität dafür hat. Bringen Sie einen Menschen in die Situation der Ohnmacht und lassen Sie ihn spüren, dass man seine Ohnmacht auch noch genießt: Es gibt niemanden, der das nicht als etwas Schreckliches empfände – gleichgültig ob er es mit dem Wort „Würde“ in Verbindung bringt oder nicht.

PH „Würde“ ist ein eher altes Wort, dahinter wird oft auch der pompöse, steife Würdenträger vermutet. Wir reden heute häufiger von Respekt, von Toleranz oder von Wertschätzung oder Inklusion.

BIERI Im alltäglichen Sprachgebrauch kommt das Wort tatsächlich eher selten vor. Doch es gibt klare Fälle, wo wir urteilen: würdelos. Und dann haben wir den Eindruck, dass kein anderes Wort die Sache treffen würde. Wir können auf das Wort nicht verzichten, denn es benennt etwas, was zwar verwandt ist mit Respekt und den anderen Dingen, die Sie genannt haben, sich aber doch in der gedanklichen Substanz klar davon unterscheiden lässt. Wenn wir den Begriff der Würde einfach wegfallen ließen: Es wäre, als entstünde ein blinder Fleck im gedanklichen Blickfeld. Ich wollte diesem Begriff seinen vollen Gehalt geben oder zurückgeben, indem ich ihn mit einem breiten Spektrum von Erfahrungen verband, die ich in meinem Buch schildere.

PH Lassen Sie uns über Erscheinungsformen von Würde und Würdelosigkeit sprechen. Ein besonders makabres Beispiel in Ihrem Buch ist das sogenannte Zwergenwerfen: Kleinwüchsige Menschen werden zum Gaudium der Zuschauer weggeschleudert oder geworfen, ganz so, als ob es eine Sportart wäre. Einige Menschen wenden sich entsetzt und angeekelt ab, andere – und nicht wenige – finden es spaßig. Und selbst die Wurfobjekte empfinden es unterschiedlich: Den einen macht es – angeblich – nichts aus, die anderen leiden zwar darunter, machen aber mit, um Geld zu verdienen.

BIERI Würde hat viel mit Fantasie zu tun. Wenn jemand nicht erkennt, dass er dem anderen die Würde nimmt oder dass andere sie ihm nehmen, und er guckt belustigt zu, dann deshalb, weil er sich einfach nicht vorstellen kann, wie es ist, gedemütigt zu werden. Es fehlt ihm die Fähigkeit, sich in den Betroffenen hineinzuversetzen. Fantasielosigkeit ist häufig die Quelle von Grausamkeit, vor allem jener Grausamkeit, die in der Vernichtung von Würde besteht. Was die Betroffenen angeht: Sie empfinden den Würdeverlust in dem Maße, wie sie ihn sich eingestehen können. Wenn einem durch fremdes oder eigenes Verschulden ein Verlust von Würde widerfährt, so ist das kaum zu ertragen. Eine Möglichkeit, es doch auszuhalten, ist, die Situation umzudeuten und zu bagatellisieren.

PH Nehmen wir dieses Extrembeispiel: Juden mussten 1938 in Wien mit Zahnbürsten die Straße putzen. Passanten standen höhnisch lachend dabei. Den Gaffern fehlte ganz sicher das Vermögen, sich in die Lage der Gedemütigten zu versetzen: Wie muss sich das anfühlen! Aber wie kann sich ein Opfer in solcher Situation retten, wie lässt sich die unerträgliche Demütigung ertragen?

BIERI Durch das, was ich im Buch den „Rückzug in die innere Festung“ nenne. Der Gedemütigte kann sich sagen: Ich muss das jetzt tun, aber ich tue es als bedeutungslose Bewegung. Ich ziehe mich innerlich ganz zurück und bin gar nicht mehr dabei. Das ist der letzte Schutzwall der Würde. Aber bei der Folter, wenn sie besonders grausam ist, wird auch dieser Rückzug verbaut, weil die Seele mit zerstört wird. Dann zerbricht der Mensch.

PH Weil er nun total zum Objekt gemacht wurde und kein Rest mehr von Subjektivität und Autonomie bleibt. Wann beginnt dieser Umschlag – ab wann ist ein Mensch für den anderen nur noch Objekt? Wenn er ihn benutzt? Benutzen wir nicht regelmäßig andere, als Mittel zum Zweck?

BIERI Natürlich benutzen wir einander in gewissem Sinne immer – in bestimmten Funktionen, für bestimmte Zwecke. Das allein beschädigt noch keine Würde. Das geschieht erst dann, wenn wir andere ausschließlich als Mittel zum Zweck benutzen. Wir nehmen dann überhaupt nicht wahr, wie es ist, der andere zu sein, und es gibt weder im Denken noch im Erleben einen Austausch zwischen uns. Im Buch sage ich: Es findet keine Begegnung statt.

PH Begegnung heißt also, zumindest zur Kenntnis genommen, vom anderen als Mensch beachtet und nicht ignoriert zu werden. Wenn der Arzt am Krankenbett über Ihren Kopf hinweg mit dem Assistenten über Ihren Fall spricht und Sie rufen möchten: „Sprechen Sie mit mir!“, dann fühlen Sie sich in Ihrer Würde verletzt?

BIERI Es kommt ganz darauf an, wie sich der Arzt im Einzelnen verhält. Auch der Patient weiß ja, dass der Arzt sich ihm nicht in jedem Augenblick als Person zuwenden kann: dass er sich konzentrieren, auf Geräte sehen, Werte abrufen muss. All das hat zwar etwas Unpersönliches an sich. Doch das allein wird von keinem Patienten als Verlust von Würde erlebt. Erst wenn der Arzt darüber hinaus jede Begegnung vermeidet, gerät die Würde in Gefahr.

PH Bevormundungen aller Art, auch die „im besten Interesse“ des Bevormundeten, enthalten meist schon den Keim der Demütigung und Entwürdigung. Sind kulturell begründete Bevormundungen – wie das Kopftuchgebot bei vielen Muslimen – schon eine Entwürdigung? Das Kopftuch soll ja gerade die Würde der Frau schützen, indem es begehrliche Blicke abwehrt …

BIERI Dass etwas eine lange Tradition hat, heißt noch nicht, dass es keine Entwürdigung durch Bevormundung darstellt. Bevormundung ist immer auch Unterdrückung von Selbständigkeit, und das kann die Würde gefährden. Denn Würde hat, wie ich im Buch ausführlich beschreibe, viel mit Selbständigkeit zu tun. Es gibt sicher Situationen, in denen Bevormundung nicht zu umgehen ist – etwa beim Notarzt, der stellvertretend für den Patienten entscheidet. Und auch Kinder bevormunden wir in ihrem eigenen Interesse. Doch wenn ich von Bevormundung von Erwachsenen höre, frage ich stets: Wem nützt das? Wer hat die Macht?

PH Aber manchmal geraten gute Absicht und das Recht auf Selbstbestimmung und Würde eindeutig in Konflikt. Eine religiöse Gruppe erlaubt keine Bluttransfusionen, selbst nicht bei einem Kind in Lebensgefahr. Der Arzt, der das machen will und gemäß seinem Eid auch muss, pocht auf seine Würde. Der Vater des Kindes will seine respektiert sehen. Liegt Würde immer nur im Auge des Betrachters?

BIERI Es kann in Fragen der Würde Konflikte geben, die nicht auflösbar sind. Der Arzt wird auf seiner Perspektive des Rettens bestehen. Das ist seine Würde im Sinne der beruflichen Integrität. Die Eltern des Kindes verstehen das als unverträglich mit ihrer kulturell oder religiös begründeten Würde. Es gibt keinen Standpunkt, von dem aus der Konflikt zu überwinden wäre. Solche Konflikte zeigen: Die Lebensform der Würde ist nicht aus einem Guss – es kann Risse, Sprünge und Widersprüche geben. Das hat damit zu tun, dass Würde in meinem Verständnis keine absolute, metaphysische Größe ist, sondern eben eine Lebensform, von Menschen gemacht, revidierbar und insgesamt im Fluss.

PH Ist das der Grund, warum wir heute so intensiv verhandeln müssen, was zumutbar und was demütigend oder gar würdelos ist? Wie müssen wir uns etwa in den Grenzbereichen des Lebens verhalten, damit die Würde gewahrt bleibt?

BIERI Wenn wir Würde nicht als metaphysische Größe auffassen, sondern als eine Art zu leben, dann ist sie etwas, worüber wir stets von neuem nachdenken können und müssen. Es wird immer wieder um die Frage gehen: Wie wollen wir leben? Dazu gehört auch die Frage, wie wir uns ein würdiges Sterben vorstellen. Es gehört zu unserer Würde im Sinne der Selbständigkeit, dass wir uns das von niemandem vorschreiben lassen, sondern darüber selbst bestimmen. Das ist der freiheitliche Aspekt der Tatsache, dass Würde in meiner Lesart ein Teil der Kultur ist, also etwas, was wir Menschen für uns gemacht haben.

PH Sie entwerfen eine Lebensform der Würde. Das heißt: ein Leben mit Selbstbestimmung, Wahrhaftigkeit, mit geschützter Intim- und Privatsphäre, ein informiertes und respektiertes Leben. Nun werden wir nicht nur nicht richtig informiert von Politik und Wirtschaft, wir werden bewusst verführt oder systematisch getäuscht, wir werden durchleuchtet und informatorisch ausgebeutet. Unsere Privatsphäre ist längst nicht mehr heilig. Geben wir unsere Würde kampflos auf?

BIERI Die Achtung vor der Intimität des Einzelnen ist ein zentrales Element von Würde, wie ich sie verstehe. Wir müssen Dinge unbeobachtet sagen und tun dürfen. Wenn dieses Recht durch eine Praxis des Ausspionierens verletzt wird, ist das keine Kleinigkeit, es ist eine Zerstörung der Würde. Es verblüfft mich, wie ruhig das von vielen hingenommen wird: Es verstößt doch gegen die in der Verfassung garantierte Würde des Menschen. Es mag sein, dass Sicherheit – wie die politische Rhetorik es will – ein gewisses Ausmaß an Überwachung verlangt. Doch über dieses Ausmaß hat nicht eine Regierung im Geheimen zu entscheiden, sondern die Bürger eines Landes in aller Offenheit.

PH Selbst denken, sich eine eigene Meinung bilden, das ist für Sie eine wesentliche Voraussetzung von Würde. Was ist eine „eigene Meinung“? Wir alle sind doch nicht immer klar erkennbaren Einflüssen anderer ausgesetzt. Und unsere Fähigkeit zur Selbsterkenntnis ist nachweislich limitiert.

BIERI Ohne Austausch mit anderen gibt es kein Denken. Und dass wir in unserem Denken auf vielfältige Weise von anderen beeinflusst werden, ist für sich genommen keine Beeinträchtigung der Würde. Worauf es ankommt, ist nicht Isolation, sondern kritische innere Distanz zu uns selbst. Die Selbständigkeit, die ich meine, drückt sich in der Fähigkeit aus, gewohnte Meinungen zu überprüfen: Woher weiß ich das eigentlich? Was für Gründe habe ich? Bin ich sicher, dass ich mich nicht nur einer gedanklichen Autorität beuge? Es sind diese Wachheit und diese kritische Anstrengung, die zur Würde eines Menschen gehören.

PH Aber viele Menschen wollen gar nicht selbständig denken. Wie Bertrand Russell sagte: „Manche Menschen würden lieber sterben als nachzudenken.“ Er könnte Sektenmitglieder gemeint haben, die ihren Verstand am Eingang abgeben. Auch ihre Würde?

BIERI Wenn jemand seine Selbständigkeit im Denken und Handeln bewusst aufgibt und die Autorität über sein Leben auf andere überträgt, gerät er in Gefahr, seine Würde zu verlieren. Und das ist es ja auch, was uns abstößt, wenn wir die Selbstaufgabe von Sektenmitgliedern beobachten: Da hat jemand seine Würde verloren.

PH Der Sektenmensch wird sagen: Es ist meine Entscheidung, dass ich meine Selbständigkeit aufgebe. Oder ist etwa auch ein Mönch, der absoluten Gehorsam und Unterwerfung gelobt, deshalb würdelos?

BIERI Eine Selbständigkeit, die darin liegt, jede Selbständigkeit aufzugeben, ist rätselhaft. Ich bin nicht sicher, ob das eine stimmige Haltung sein kann. Und ich weiß nicht, ob es das wirklich geben kann: die Würde der vollständigen Unterordnung. Bei dem Versuch, mir das vorzustellen, verliere ich jeden intuitiven Halt.

PH Steht Würde heute mehr auf dem Spiel als früher? Etwa weil wir mobiler sind und um die Positionen und Chancen kämpfen, während die alte Ordnung jedem seinen Platz zuwies? Es gibt jedenfalls unendlich viele Arten, wie wir uns im Alltag demütigen können. Schon Kinder lachen den einen Mitschüler aus, schließen ihn aus, mobben ihn. Beschämung, auch durch die Lehrer, ist eine andere Methode. Oder wir ignorieren andere geflissentlich, lassen sie in ihr Verderben rennen, klären sie nicht auf, sind schadenfroh. Wir stigmatisieren andere, mobben sie. Hat das zugenommen?

BIERI Das ist eine empirische Frage, und ich traue mir nicht zu, sie einfach so zu beantworten. Weitläufige Untersuchungen wären nötig. Dass heute vieles beim Namen genannt wird, bedeutet ja noch nicht, dass es früher nicht dagewesen wäre. Die Muster von Aggression und Neid, die im Spiel sind, gehören vielleicht einfach zum Menschen.

PH Also auch die bewusste Verletzung der Intimsphäre – durch Gerüchte, Klatsch und Tratsch?

BIERI Haben die Menschen das nicht immer gemacht?

PH Viele beschädigen ihre Würde selbst – etwa durch willentliche Preisgabe ihrer Intimsphäre, durch Selbstentblößung und Zurschaustellung des Privatesten. Das lässt sich durch die neuen Medien leicht machen. Man kommt mit dem Fremdschämen gar nicht mehr nach. Leben wir in schamlosen Zeiten?

BIERI Es gibt eine Lesart von Scham, nach der sie das Bedürfnis ist, sich abzugrenzen, indem man zwischen dem trennt, was alle wissen dürfen, und dem, was nur mich allein angeht. Wenn man diese Grenze niederreißt, indem man alles öffentlich macht, findet eine Entgrenzung statt, die zum Trauma werden kann. Es gibt Therapeuten, die sich vor allem mit der Überwindung solcher Traumata beschäftigen. Besonders belastend wird die Erfahrung sein, wenn ich mir eingestehen muss, dass ich es wegen Geld oder Aufmerksamkeit getan habe. Dann kommt zur Entgrenzung selbst noch der Verlust von Selbstachtung hinzu.

PH Beschämungen sind mit das Schlimmste, was man Menschen antun kann – die ganze Person steht plötzlich im Abseits, wird entwertet. Psychologen sehen einen engen Zusammenhang zwischen erlittener und empfundener Beschämung und aggressiven oder autoaggressiven Taten. Amokläufer – school shooter – sind vorher massiv beschämt worden. Sie zitieren in Ihrem Buch immer wieder den „Handlungsreisenden“ Willy Loman aus Arthur Millers berühmten Stück. Auch er erträgt die Beschämung nicht und begeht Selbstmord. Was hätte Loman tun können, um seine Würde zurückzugewinnen? Geht das überhaupt?

BIERI Beschämt zu werden bedeutet, mit einem Makel bloßgestellt zu werden: mit einer Behinderung, einer Unfähigkeit, einer Verfehlung. Das kann eine schwere Demütigung bedeuten, die mich vollständig aus der Bahn wirft. Ob ich mich beschämt fühle, hängt nun entscheidend davon ab, ob auch ich selbst den Makel als einen solchen erlebe. Und hier kann man ansetzen, um eine Beschämung zu überwinden: Man kann sich fragen, ob man die Schwäche, die von den anderen als Makel gesehen wird, selbst auch so sehen muss oder ob man sich mit einem neuen, selbständigen Urteil wehren kann: Was ihr als Makel betrachtet, ist gar keiner! Ich spreche im Buch von Würde als überwundener Scham. Menschen, die ein Psychopharmakon brauchen, mögen den wissenden Blick des Apothekers fürchten und es deshalb nicht kaufen. Würde als überwundene Scham bedeutet hier: den Apotheker mit einem Blick anzusehen, der bedeutet: Ja, ich bin krank, ich habe diese Schwäche, doch das kann jedem passieren, und ich schäme mich nicht mehr dafür! Ähnliches geschah, als die Schwarzen und die Homosexuellen ihre Würde verteidigten, indem sie ausdrücklich zu ihrem Aussehen und ihrer Neigung standen und es mit Stolz taten.

PH Eine emotionale Schubumkehr …

BIERI Genau. Die Tyrannei durch den Blick und das Urteil der anderen ist eine große Gefahr für die Würde. Und die Gefahr ist besonders groß, wenn das fremde Urteil verinnerlicht worden ist, ohne dass man es bemerkt. Zur Lebensform der Würde gehört deshalb die kritische Auseinandersetzung mit sich selbst: Ist das, wofür ich mich schäme, wirklich ein Makel? Oder sollte ich zu mir selbst stehen?

PH Willy Loman konnte das nicht. Er konnte nicht sagen: Na und! Ich habe halt keinen Erfolg mehr, das Geschäft ist unglaublich hart. Ich bin trotzdem etwas wert und muss mich nicht erniedrigen lassen. Seine Lebenslügen stehen dieser Selbstprüfung im Wege.

BIERI Ja, und deshalb gibt es in meinem Buch ein Kapitel über Würde und Wahrhaftigkeit. Dabei geht es auch um die Rolle von Lebenslügen. Wenn ich mich darüber belüge, wer ich bin und was ich kann, so mag das lebenswichtig sein: Ohne dieses falsche Selbstbild könnte ich nicht weitermachen. Aber Lebenslügen können einem eben auch Möglichkeiten verbauen, verlorene Würde wiederzugewinnen. Hätte Willy Loman die Lügen des amerikanischen Traums durchschaut und hinter sich gelassen – er hätte seine Beschämung überwinden und neue Würde finden können. Und ähnlich ist es, wenn die Lebenslügen eine Beziehung betreffen – eine verlogene Ehe etwa oder eine falsche Freundschaft. Die Lüge nimmt der Beziehung die Würde, weil sie wirkliche Begegnung verhindert. Wahrhaftigkeit kann die Würde wiederherstellen.

PH Der Sinn für Proportionen ist für Sie eine weitere wichtige Voraussetzung für Würde. Meinen Sie damit, dass wir uns und unsere Angelegenheiten nicht zu wichtig nehmen sollten? Dass wir eine innere Distanz aufbauen müssen - auch zu uns selbst –, um uns nicht in würdelose Situationen drängen zu lassen? Plädieren Sie für einen neuen Stoizismus, für eine Art Coolness?

BIERI Nein, mein Gedanke hat mit Coolness nichts zu tun. Er hat mit der Kategorie des Wichtigen zu tun. Wir können unsere Würde verlieren, indem wir uns über Nichtigkeiten aufregen: über einen kleinlichen Streit mit dem Nachbarn, eine lächerliche Beleidigung, einen bedeutungslosen Kratzer am Auto. Es ist dann, als ob wir im Leben das Gleichgewicht verloren hätten. Und wenn wir später darauf zurückblicken, werden wir beschämt denken: Und damit habe ich meine Zeit und meine Energie vergeudet! Jeder kennt das, und es ist unvermeidlich, dass uns auch Kleinigkeiten für den Moment gefangennehmen. Die Würde, von der ich hier spreche, ist der Wille, sich aus solchen Verstrickungen in Unwichtiges stets auch wieder zu befreien.

PH Die Haltung, die Sie als würdebewahrend ansehen, ist aber doch eine durch und durch philosophische?

BIERI Würde ist eine Art, innerlich und im Handeln auf die Zumutungen und Gefährdungen des Lebens zu reagieren. Es ist eine philosophische Art im Sinne von Marc Aurels Gedanke, dass das richtige Leben das nachdenkliche, reflektierte Leben ist. Dazu gehören – wie besprochen – Selbständigkeit, Wahrhaftigkeit und die mutige Bereitschaft, die Endlichkeit und Zerbrechlichkeit des Lebens anzuerkennen. All das fügt sich, könnte man sagen, zu einer inneren Gestalt eines Lebens.

PH Ist diese Gestalt im Alter besonders gefährdet?

BIERI Würde in der letzten Lebensphase bedeutet, ein aufrichtiges Verhältnis zu Krankheit, zum Schwinden der Kräfte und zum Tod zu entwickeln. Man kann sich vor diesen Dingen fürchten, und dann kann es dazu kommen, dass man sie verleugnet. Doch die Würde, die in der Anerkennung liegt, kann auch als Befreiung erlebt werden.

Peter Bieri, Jahrgang 1944, lebt als Philosoph und Schriftsteller in Berlin. Er hat unter anderem in London, Berkeley und Heidelberg studiert. In Heidelberg promovierte er bei Dieter Henrich und Ernst Tugendhat. Bieri lehrte ab 1990 als Professor für Geschichte der Philosophie an der Universität Marburg und von 1993 bis 2007 als Professor für Philosophie am Lehrstuhl für Sprachphilosophie an der Freien Universität Berlin. 2007 zog er sich aus der Universität zurück, verärgert über die „Diktatur der Geschäftigkeit“, den Zwang zur Drittmitteleinwerbung und die „Perspektive der Unternehmensberatung“, durch die die Universitäten kaputtgemacht würden.

Bieris bisher bekanntestes philosophisches Buch ist Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens (Hanser, München 2001). Im August 2013 erschien sein neustes Buch Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde (ebenfalls bei Hanser).

Unter dem Pseudonym Pascal Mercier schrieb Bieri den erfolgreichen Roman Nachtzug nach Lissabon (2004, verfilmt 2013). Zur Zeit arbeitet Bieri/Mercier an seinem fünften Roman.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2013: Unsere inneren Stimmen