Demokratie keimt im Kleinen

Der Keim der Demokratie: Selbstwirksamkeit statt erlernter Hilflosigkeit. Die Ex-Politikerin Marina Weisband weiß, wie wir diese Überzeugung fördern.

Zum Jahrestag der Befreiung von der russischen Besatzung hängen eine ukrainische Frau und ein Mann ein Kunstgemälde auf zu einer Ausstellung in Kiew
Kunst, Kultur und Humor geben Halt – selbst in Zeiten des Kriegs. © Oleksii Chumachenko / Anadolu Agency /picture alliance

Ich rufe bei meiner Großtante an. Zum dritten Mal in diesem Monat, dem September 2022. Ich kann nicht anders. Sie sitzt in Kiew, ich in Münster, ich beobachte hier die Nachrichten, sie lebt den Krieg.
„Wie geht es euch?“, frage ich.
„Gut geht es uns.“
„Wie geht es Onkel Kolja?“
„Ach, du weißt doch, wie der ist. Der stellt den Fernseher immer so laut, dass wir die Einschläge kaum hören.“

Meine Tante hat sich mit dem Viertel organisiert, Lebensmittel abzugreifen. Wer in einem Laden Eier sieht, kauft 800 Stück…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

sich mit dem Viertel organisiert, Lebensmittel abzugreifen. Wer in einem Laden Eier sieht, kauft 800 Stück und verteilt sie in der Nachbarschaft. Wer Brot findet, gibt ebenfalls den anderen davon. Meine in Deutschland lebende Mutter ist zur Versorgungsoffizierin geworden. Sie geht am Telefon regelmäßig mit allen die Notvorräte durch. Wenn ich mit der Familie telefoniere, lachen wir viel.

Mit Humor durch den Krieg

Ich werde oft gefragt: „Wie überleben gewöhnliche Ukrainerinnen und Ukrainer diesen Krieg?“ Mit Humor. Wir erinnern uns an die Bilder von Anfang letzten Jahres: Ein Autofahrer begegnet einer russischen Panzerkolonne, die ohne Benzin liegengeblieben ist: „Soll ich euch abschleppen, Jungs? Vielleicht nach Moskau?“ Eine Frau gibt einem russischen Soldaten Sonnenblumenkerne: „Hier. Steck sie dir in die Tasche. Dann wachsen Sonnenblumen, wenn du auf unserem Boden fällst.“

Die Ukrainian Memes Forces fluten das Internet mit lustigen Bildern und wiedererkennbaren Witzen. Sie erfüllen eine tatsächlich wichtige Aufgabe, indem sie die russische Onlinepropaganda kontern und die russischen Trolle (die vom Kreml beauftragten Menschen, die den Diskurs stören sollen) binden. Humor als Waffe. Die Menschen machen Kunst. Sie schreiben Gedichte und Lieder. Sie tanzen. Sie sticken. In der Stickerei liegt eine stoische Subversivität. Diese Kunstform ist traditionell in der Ukraine. Sie prägt die Seele des Landes. Die bestickten Hemden sind Nationaltracht. Diese Ästhetik wurde während der Sowjetzeit mit stalinistischer Brutalität unterdrückt – und überlebte doch.

Nicht nur dieses aktuelle Beispiel zeigt, dass Kunst, Humor und Zusammenhalt Menschen durch schwerste Zeiten tragen. In Konzentrationslagern wurden jüdische Feste gefeiert. Manche Menschen tauschten Brotrationen gegen Wachs, um an Chanukka Lichter zu entzünden. Eine überlebenswichtige Ressource wurde gegen eine rein kulturelle, rein ideelle getauscht. Denn die gab Halt. Und sicherte auf diese Weise vielen das Überleben.

Wohin vor lauter Krisen

Resilienz heißt die Fähigkeit, widrige Umstände zu ertragen, ohne an ihnen zu zerbrechen. Resilienz speist sich aus vielen Quellen. Auch Kunst kann dazugehören. Denn in dem Moment, in dem ich etwas künstlerisch gestalte, mache ich es mir zu eigen. Wenn ich beispielsweise den Rollstuhl, auf den ich medizinisch oft angewiesen bin, besticke, gehe ich von einer reinen Reaktion in eine Aktion. Ich tue etwas, das für das Funktionieren dieses Rollstuhls eigentlich nicht notwendig ist. Ich mache aus einem medizinischen Gegenstand einen schönen. Ich bereichere ihn mit meiner Fantasie und taufe ihn damit zum Vehikel meiner Mobilität – meiner Freiheit.

Wenn Umstände uns überwältigen, wenn unser Leben sich zum Schlechteren wendet, suchen wir Menschen nach Kontrolle. Nach unserem Einfluss. Wenn ein Vulkan ausgebrochen ist – haben wir dann den Vulkangott verärgert? Können wir ihm ein Tieropfer bringen, das ihn besänftigt? Unseren eigenen Einfluss in riesigen Ereignissen zu suchen ist so alt wie die menschliche Kultur. Wenn ich Ereignisse humorvoll oder künstlerisch umdeute, dann handle ich aktiv und habe eine Rolle im Geschehen. Ich bin nicht mehr Opfer. Ich bin Gestalterin.

Wie ist das mit Ihnen? Sind Sie Opfer Ihrer Gesellschaft? Oder Gestalter darin? Denn es ist ja nicht leicht, heutzutage wirklich zu gestalten. Wir haben in Deutschland zwar keinen Krieg. Aber wir wissen doch nicht wohin vor lauter Krisen und neuen Herausforderungen: Digitalisierung, Globalisierung, rapider Wandel von Werten und Normen, eine immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich, Personalmangel, Pandemien, Klimakatastrophe, Pflegekatastrophe und und und.

Modernes Schlachtfeld in der Hand

Dazu kommt, dass uns langsam das Lebensmodell von Lohnarbeit und Konsum auf die Füße fällt. Seit den 1950ern, einer Zeit ziemlich stabilen Friedens und Wohlstands in der BRD, in der das Leben für jede Generation gefühlt nur besser werden konnte, wurden nach und nach Lebenserrungenschaften mit käuflichen Gegenständen gleichgesetzt. Erwachsensein mit der eigenen Schrankwand. Freiheit mit Auto. Erholung mit Urlaub in Mallorca.

Wenn Menschen beim Kennenlernen zuerst stets nach ihrem Beruf gefragt werden, wirkt es, als seien sie hauptsächlich da, um Geld zu verdienen und um dieses Geld dann wieder für Konsumgüter auszugeben. Wir wurden und werden noch immer als Kundinnen adressiert. Ich wurde das als Kind während der Werbeunterbrechungen meiner Zeichentrickfilme. Heutige Kinder halten mit dem Smartphone das moderne Schlachtfeld des Kapitalismus ­täglich in der Hand.

Wenn man ständig wie ein Kunde angesprochen wird, verhält man sich wie einer. Und zwar auch gesellschaftlich. Viele Eltern geben ihre Kinder dann in der Schule ab und erwarten Erziehung und Lernerfolge als Gegenleistung. Parteien werden wie Waschmittel gewählt – die ist nix und die ist auch nicht, was sie mal war, und überhaupt ist die Auswahl ungenügend. Denn eine Kundin kommt natürlicherweise nicht auf die Idee, die Auswahl zu verändern, ihr etwas hinzuzufügen oder ihre Interessen anders als durch eine bloße Entscheidung zu vertreten.

"Die da oben machen doch auch nur, was sie bereichert"

Nun kommen wir aber in eine Zeit, in der diese materielle Sicherheit spürbar nicht mehr gegeben ist. Das ist erträglich für Menschen, die noch nie materielle Sicherheit hatten. Aber was macht das mit denen, die ihr Selbstbild aus ihrem Lebensstandard gezogen haben? Die sich als Mittelschicht sahen und deren Leben von Abstiegsangst geprägt war? Menschen, für die ein Fernurlaub Teil ihrer Identität ist. Wenn dieser Lebensstandard bedroht ist, ist auch ihr Selbstbild bedroht. Und auf Bedrohungen des Selbstbilds reagieren Menschen äußerst irrational. Manchmal verstört, manchmal wütend, oft geradezu zerstörerisch.

Vor allen diesen Veränderungen stehen wir hierzulande nun also und sehen ihnen machtlos zu wie einem Vulkanausbruch. Wir suchen nach Geschichten, um uns das zu erklären. Und an dieser Stelle kommen Leute und bieten uns eine einfache, verlockende Geschichte an. Die Probleme, die wir derzeit hätten, seien nämlich gar keine komplexen Verkettungen, die aus unserem reichen Leben auf Kredit geboren wären; sie seien vielmehr absichtlich verursacht und schuld sei allein eine bestimmte Gruppe von Menschen: „die da oben“.

Das kann völlig harmlos daherkommen. Am Stammtisch sagt jemand: „Die da oben machen doch auch nur, was sie bereichert.“ Oder aber gefährlich: „Die globalen Finanzeliten (die Juden) kontrollieren alles.“ Oder völlig irre: „Reptilienwesen aus der Hohlerde setzen die Pandemie als Biowaffe ein.“ In Krisenzeiten erblühen die Verschwörungsmythen.

"Wir hier unten sind eh machtlos"

Wo sie gestreut werden, spalten sie die Gesellschaft in jene, die ihrem Sirenengesang verfallen, und jene, die zumindest versuchen, sich der Komplexität der echten Welt zu stellen. Und das ist kein Zufall. Seit vielen Jahren ist zu beobachten, wie diese Verschwörungstheorien immer wieder beispielsweise durch russische staatlich kontrollierte Bots über soziale Medien gestreut werden. Wie sie von Trump-Beratern befeuert werden. Wenn mein Ziel die Errichtung eines autoritären Staats ist, gibt es nichts Besseres, als die Wut von Menschen auf ihre eigenen demokratischen Institutionen zu richten, auf Minderheitengruppen, auf wen oder was auch immer.

Hauptsache: Alle kollektiv wütend. Aber mehr noch. Wenn ich diese Form von Verschwörungserzählungen verbreite, etabliere ich eine Unterteilung: Es gibt „die da oben“ und es gibt „uns hier unten“. Als autoritäre Herrscherin brauche ich Menschen, die sich als „wir hier unten sind eh machtlos“ begreifen.

In der Psychologie sprechen wir vom Konzept der erlernten Hilflosigkeit. Wenn ich lange in einer Situation war, der ich nicht entfliehen konnte, und dann die Möglichkeit bekomme, dieser Situation zu entkommen, habe ich keine Motivation dazu. Denn wenn ich mal gelernt habe, dass mein Leid unausweichlich ist, vermeide ich Frust, indem ich das Ausweichen irgendwann gar nicht mehr versuche. Damit bin ich der perfekte Untertan.

Diese erlernte Hilflosigkeit lässt sich auch in unserer Demokratie beobachten. Ich arbeite hauptberuflich mit dem Beteiligungskonzept aula an Schulen. Als ich 2014 meine Arbeit begann, ging ich zu Schulen und bot Schülerinnen an, dass sie sich mit diesem System jederzeit verbindlich an Schulentscheidungen beteiligen könnten. Es kam mehrmals vor – besonders in den älteren Klassen –, dass mir dann ein demotivierter Schüler antwortete: „Warum sollen wir uns beteiligen? Die Lehrerinnen machen doch am Ende eh, was sie wollen.“

Zu wenig eigene Entscheidungen im Schulalltag

„Die da oben machen doch eh, was sie wollen.“ Ist diese Einstellung eines Schülers so verwunderlich? In unserem ­regulären Bildungssystem sind die Entscheidungen, die Kinder für sich treffen können, rar. Sie bekommen gesagt, dass sie um 8 Uhr da sein müssen. Wo sie sitzen müssen. Dass sie jetzt 45 Minuten Mathe und danach 45 Minuten Deutsch lernen. Dass sie 25 Minuten zum Essen haben. Dass sie fragen müssen, ob sie auf die Toilette dürfen. Und am Ende wird geprüft, ob sie sich alles eingeprägt haben.

Wenn man sich an so ein System anpassen und persönlichen Frust vermeiden will, wird man vermutlich die meisten Bemühungen nach freier Gestaltung bald beenden. Ich jedenfalls verlagerte meine freie Gestaltung in der Schulzeit auf Kritzeleien am Rand meines Hefts.

Nicht anders verhält es sich leider an den meisten Arbeitsplätzen, wo wir oft mit Vorgaben des Managements, engen Handlungsspielräumen und klar vorgegebenen Prozessen zu tun haben. Das Gefühl, das eigene Leben sinnvoll zu gestalten, stellt sich bei diesem Alltag eher nicht ein.

Das Gegengift: Selbstwirksamkeit

Wenn erlernte Hilflosigkeit den perfekten Untertan schafft, Demokratie gefährdet, Verschwörungsmythen fördert und psychisch belastet – wie kommt man dann da heraus? Das Gegengift zu erlernter Hilflosigkeit ist Selbstwirksamkeitserwartung. Also die Überzeugung, dass sich etwas in der Welt verändert, wenn ich etwas tue. Denn ich bin kein kleines, unbedeutendes Rädchen in der Maschine – sondern ich bin verbunden mit anderen Rädchen und kann etwas bewirken!

Freiwillige in der Stadt Lwiw weben im April 2023 Tarnnetze für die ukrainische Armee
Freiwillige in der Stadt Lwiw weben im April 2023 Tarnnetze für die ukrainische Armee
Wir entwickeln die Selbstwirksamkeitserwartung so, wie wir jede Erwartung entwickeln. Durch Wiederholung. Wenn meine Tochter eine Wand anmalt und die Wand dann bunt ist, hat sie etwas in der Welt verändert – Selbstwirksamkeit. Wenn ich eine Bürgerinitiative einreiche und daraufhin ein Park angelegt wird, habe ich etwas verändert – Selbstwirksamkeit. Selbstwirksame Menschen sind sich ihrer Macht über sich, über ihre Mitmenschen und über ihre Welt bewusst. Darum sind sie rücksichtsvoller. Ihre Forderungen sind vernünftiger. Sie verstehen Komplexität und können sich einerseits leichter in der Welt bewegen und sie andererseits leichter ertragen. Denn Selbstwirksamkeit verleiht Resilienz. Wenn ich zumindest einen kleinen Bereich kontrollieren kann, ertrage ich viel besser, was sich meiner Kontrolle entzieht.

Parlament im Kindergarten

Um den Menschen in dieser unserer realen Welt Selbstwirksamkeitserwartung beizubringen, sollten wir ihnen an möglichst vielen Orten die Gelegenheit dazu geben. Sie sollten die Erfahrung von aktiver Veränderung machen dürfen. Wenn es darum geht, die Demokratie zu retten, zerbrechen sich ja gern mal der Bundespräsident oder Professorinnen in Talkshows den Kopf. Aber man muss viel kleiner denken. Demokratie beginnt im Kindergarten.

Als es meiner Tochter in ihrer Kita bei der Morgenrunde zu laut war, hatte sie die Möglichkeit, ein Kinderparlament zusammenzurufen. Die Kinder saßen im Kreis und diskutierten das Problem. Sie erarbeiteten zwei Regeln. Erstens: Wenn der Schweigefuchs gezeigt wird, müssen alle still sein. Zweitens: Wer keine Lust auf die Morgenrunde hat, darf im Nebenraum toben. Ein Erzieher malte die Regeln als Piktogramme auf ein Blatt Papier. Das hing aus, damit auch die Eltern die neuen Regeln sahen. Meine Tochter hatte etwas verändert. Das war nur eine von hunderten von Erfahrungen, die sie wird machen müssen, um ein Mensch zu sein, der seinen locus of control – also den Ort der Kontrolle – bei sich sieht und nicht im Außen. Wenn sie sich als Gestalterin und nicht als Opfer oder Konsumentin ihrer Gesellschaft begreifen soll.

Schüler stellen selbst ihre Verbote auf

Das Projekt aula, das ich 2014 ins Leben gerufen habe, funktioniert ganz ähnlich. Es fördert Selbstwirksamkeitserfahrungen, indem es allen Schülern einer Schule verbindliche Beteiligung an Themen der Schule ermöglicht. Praktisch funktioniert das mit drei Elementen: mit einer Onlineplattform, auf der man eigene Ideen einstellen, diskutieren und abstimmen kann; mit Lernmaterialien, die auch Offlinediskussionen ermöglichen und den Erwerb von Demokratiekompetenzen vermitteln – etwa Kompromissfindung oder Minderheitenschutz –, sowie mit einem Vertrag mit der Schulkonferenz, der genau definiert, welche Macht die Schülerinnen erhalten – und welche nicht. An jeder Schule sieht dieser Vertrag in der Regel ein wenig anders aus, aber immer gibt er Schülern mehr Freiheit, als sie zuvor hatten.

Eine solche Änderung geht meist mit einer langsamen Änderung in der Schulkultur einher. Es braucht nach unserer Erfahrung etwa zwei Jahre, bis die Beteiligung wirklich stabil läuft. Dann wird sie zum selbstverständlichen Teil des Schulerlebens – und eben auch des Rollenbilds der Schülerinnen. Dabei ist es keineswegs so, dass das nur an gutsituierten Schulen funktioniert, wie viele Lehrer im Gespräch mit mir vermuten. Im Gegenteil. Bei einer Evaluation 2018 haben wir herausgefunden, dass der Effekt an Schulen am größten war, die man oft als „Brennpunktschulen“ bezeichnet. Dort brachte aula den größten Unterschied im Ernstgenommenwerden für die Schülerinnen.

Die Schüler haben mit den neuen Freiheiten an den verschiedenen Schulen unterschiedliche Projekte umgesetzt: Klimalerntage, Spiele in der Mensa, Bäume pflanzen, Unterricht mit Smartphoneeinsatz. In manchen Bereichen haben sie ihr Leben sichtlich verändert. In manchen haben sie scheinbar gar nichts verändert – so wurde an mehreren Schulen diskutiert, das Verbot von Kaugummikauen oder Smartphonenutzung zu kippen.

Nach langem und lebhaftem Austausch kamen die Schülerinnen dort jeweils zu der Entscheidung, die Verbote beizubehalten. Sie haben die Gründe für die Verbote nachvollzogen und sie als wertvoll betrachtet. Man könnte nun denken, sie seien da, wo sie ohne das Projekt wären. Aber im Gegenteil: Jetzt sind das ihre Regeln. Sie haben sie selbst beschlossen und folglich halten sie sich nicht nur sehr viel besser daran, sondern fühlen sich als aktive Gestalter ihrer gemeinsamen Regeln.

Darum geht es: dort, wo es irgendwie möglich ist, Räume zu schaffen, in denen Menschen diese Form von Erfahrungen machen können. Sie müssen verlässlich und verbindlich sein. Wenn ich Menschen Vorschläge einreichen lasse, die dann ignoriert werden, stärke ich nur Frust und erlernte Hilflosigkeit. Ein Beteiligungskonzept muss allen transparent sein und nach klaren Regeln funktionieren, die ohne Gatekeeperinnen auskommen.

Die Lösung: Volkshochkneipe

Das gilt nicht nur für die Kita und die Schule. Auch in unseren Kommunen sind wir zunehmend nur als Konsumenten unterwegs. Leute haben Angst, dass die Innenstädte aussterben, wenn Karstadt pleite geht. Aber was, wenn ich in der Innenstadt gar nicht als Kundin wäre? Sondern als Bürger? Als Gestalterin?

Was, wenn es „Volkshochkneipen“ gäbe, also Kneipen und Cafés mitten in der Innenstadt, die so offen wären, dass man eigentlich schon drin stünde, wenn man nur daran vorbeiginge. Und daran angeschlossen wären die Bibliothek und die Volkshochschule. Hier könnte ich hinkommen, um einen Kurs zu besuchen oder Nachhilfe zu erhalten oder meine Neugier zu befriedigen. Hier gäbe es Videostudios und Werkbänke und Nähmaschinen und öffentliche Gärten. Hier kämen alle meine Nachbarn zusammen, aus allen Hintergründen, aus allen Einkommensklassen, denn sie dürften ihr eigenes Essen mitbringen. Wir könnten sogar gemeinsam kochen. Wir brächten uns gegenseitig Dinge bei. Wir wären Menschen, beieinander. Wie vielen Problemen – wie der Einsamkeit, dem ungleichen Zugang zu Bildung oder der Armut – könnten solche Konzepte begegnen?

Wir leben in Frieden in einem friedlichen Land. Wir können uns auch hier die Plätze unserer Städte und Dörfer zu eigen machen, um solidarisch zu sein. Wir brauchen dazu keine Revolution, keine Waffen. Wir brauchen die menschlichsten Dinge, die wir haben: Solidarität, Neugier, Kreativität, Zusammenarbeit, Rücksicht und Mut.

Diese Eigenschaften, wenn sie nur gelebt werden, übersetzen sich aus dem Kleinen bis hinauf auf die Bundesebene, in unser Regierungssystem hinein, in die Geopolitik. Und wir können sofort anfangen.

Marina Weisband wurde in Kiew geboren und kam als Kind nach Deutschland – wegen gesundheitlicher Probleme, ausgelöst durch die Katastrophe von Tschernobyl. Ihr Engagement in der Piratenpartei machte sie hierzulande bekannt, mittlerweile leitet sie ein Beteiligungsprojekt an Schulen. Dieser Text ist eine überarbeitete Version des Vortrags, den sie im November 2022 bei der Herbsttagung der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie in Lindau gehalten hat.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2023: Das ewig hilfreiche Kind