Herr Bröckling, was macht eine Heldin, einen Helden aus?
Zunächst mal ganz simpel, dass eine Heldengeschichte über sie oder ihn erzählt wird. Heldentum ist ein narratives Phänomen.
Was sind gängige Bausteine dieser Heldinnengeschichten?
Erstens braucht es eine Heldentat, eine außerordentliche Leistung, welche die Menschen bewegt und die auf irgendeine Weise die Dinge zum Guten wendet.
Ein zweites Merkmal ist die sogenannte Agonalität: Was auch immer Heldinnen und Helden tun, es gerät ihnen zum Kampf. Das…
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wendet.
Ein zweites Merkmal ist die sogenannte Agonalität: Was auch immer Heldinnen und Helden tun, es gerät ihnen zum Kampf. Das Modell des Kriegshelden strahlt weit über den Bereich des Militärischen hinaus. Selbst Wissenschaftshelden oder auch Liebesheldinnen müssen äußere oder innere Feinde bezwingen und übermenschliche Kräfte mobilisieren.
Drittens gehört Opferbereitschaft dazu. Das muss nicht gleich heißen, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, aber letztlich gipfelt unsere Vorstellung von Heldentum doch im Heldentod.
Viertens sind Helden Figuren, die sich über die geltenden Normen hinwegsetzen und ihren eigenen Regeln folgen.
Und schließlich fordern uns die Geschichten von Heldinnen und Helden nicht nur emotional-affektiv, sondern auch moralisch heraus. Heldenfiguren gegenüber ist man selten gleichgültig. Nicht immer finden sich all diese Bausteine in einer Heldengeschichte, aber sie stecken doch einen Kernbereich des Heroischen ab.
Kann nur ein Aufschneider sich selbst zum Helden ernennen?
Einem Donald Trump wäre das zuzutrauen. Aber in der Tat ist Heldentum fast immer eine Fremdzuschreibung. Der Satz „Ich bin ein Held“ funktioniert allenfalls ironisch, als ernsthaftes Eigenlob dementiert er sich selbst.
Wie muss jemand beschaffen sein, damit sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass andere ihn zum Helden erheben?
Das ist nicht auf einen Nenner zu bringen. Oft suchen diejenigen, die zu Helden gemacht werden, sich das ja gar nicht selbst aus. Denken Sie an die sogenannten Coronaheldinnen: Pflegekräfte und die Kassierenden im Supermarkt. Die waren eher genervt von dem ganzen Heldenbrimborium und haben stattdessen gefordert: Bezahlt uns lieber ordentlich und tut etwas für unsere Sicherheit.
Zurück zu Ihrer Frage: Heldenfiguren changieren generell zwischen Außerordentlichkeit und Beispielhaftigkeit. Entweder sind sie unerreichbar groß, so dass man sie zwar bewundern, aber nicht nachahmen kann. Oder – das ist der andere Pol – es handelt sich um exemplarische Gestalten, die besonders ausgeprägt etwas tun, das von allen erwartet wird.
Auch heute noch?
In der Gegenwart franst das völlig aus. Da wird der Begriff der Heldin geradezu inflationär verwendet. Wie in der Werbung, wo Leute zum Grillhelden werden, wenn nicht gleich die Produkte selbst heroisiert werden – in einem Aldi-Prospekt firmierte vor einigen Jahren mal eine Kuchenglasur als Heldin des Alltags.
Ist das ein Merkmal der sogenannten postheroischen Gesellschaft?
Diese Veralltäglichung und auch die ironische Verwendung, das sind tatsächlich Kennzeichen der postheroischen Gesellschaft. Heldengeschichten haben etwas Unzeitgemäßes: Sie wissen nichts von komplexen Organisationen, die komplexe Probleme arbeitsteilig und auf der Grundlage geregelter Verfahren bearbeiten, sondern erzählen von einer außerordentlichen Person, die Außerordentliches vollbringt, etwa ein Leben rettet oder einen Schurken besiegt. Mit der Realität moderner hochtechnisierter Gesellschaften hat das wenig zu tun. Da kommt kein weißer Ritter und wendet im Handstreich alles zum Guten.
Aber haben wir nicht die Sehnsucht nach exakt diesem weißen Ritter?
Genau. Und umso mehr, wenn eine Krise auf die nächste folgt. Da wächst der Heldenhunger, obwohl alle wissen, dass die starken Männer und die mutigen Frauen oft mehr Probleme machen, als sie lösen können. Dieses Spannungsfeld kennzeichnet postheroische Gesellschaften.
Postheroisch meint ja keineswegs, dass es keine Heldinnen und Helden mehr gibt, sondern dass sie fragwürdig und in sich gebrochen sind oder man sich ihnen gegenüber eben nur noch ironisch verhält. Außerdem ist umstritten, wer überhaupt als Heldin durchgehen kann und wie viele derjenigen, die lange als Helden gefeiert worden sind, nicht doch nur brutale Killer waren.
Also wer taugt heute als Held?
Über die Alltagsheldinnen haben wir schon gesprochen. In der Coronakrise waren das bestimmte Berufsgruppen, das systemrelevante Personal. Dann vor allem Sportheldinnen, die eine enorme Begeisterung auslösen. Zum Sport gehört das Moment des Wettkampfs, die außergewöhnlichen Anstrengungen und Leistungen, auch die Bereitschaft, sich für den Erfolg zu schinden.
All das lässt sich trefflich heroisieren, ohne dass sich damit solche moralischen Probleme auftun wie bei Kriegshelden, vom Doping mal abgesehen. Ganz wichtig sind auch die fiktionalen Heldinnen der Populärkultur. Die Superheldenfilme brechen einen Kassenrekord nach dem anderen.
Und in all diese feinen postheroischen Prämissen bricht auf einmal brachial die Wirklichkeit des Krieges ein. Wir blicken auf Gesellschaften im Osten Europas, die die Modellgestalt des Heroischen, den Krieger so feiern, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Was passiert da jetzt?
Die russische Regierung, der Aggressor, bemüht massiv Heldenmythen für ihre militärische Mobilmachung und die Legitimation des Angriffskrieges gegenüber der eigenen Bevölkerung. Aber auch die Ukraine setzt für den Verteidigungskampf in hohem Maße auf heroische Vorbilder und Leidenschaften. Die Soldaten und Freiwilligen werden als Helden des Vaterlandes geehrt, erst recht gilt das für die Getöteten.
Ich glaube nicht, dass heroisches Kämpfertum einzelner Soldaten kriegsentscheidend sein wird. Am Ende werden die hochtechnisierten Waffensysteme den Ausschlag geben. Aber natürlich spielt auch das eine Rolle, was man die Moral der Truppen und der Bevölkerung nennt.
Die der ukrainische Präsident Selenskyj geradezu beschwört …
Selenskyj wird stark heroisiert, auch bei uns. Er verkörpert in einer besonders sichtbaren Weise das Idealbild der ukrainischen Nation von sich selbst. Seine Onlineauftritte haben weit über die Ukraine hinaus eine enorme politische Wirkung – da ist Heroisierung nicht nur symbolisch, sondern hochpolitisch und sogar militärisch wirksam.
Weitaus befremdlicher und entsetzlicher wirken die archaischen Muster des Heroismus in Russland, eingespannt in die Propaganda.
Die Kolleginnen und Kollegen, die das erforschen, berichten von der Wiederbelebung nationaler Heldenkulte aus der Zeit der Sowjetunion. Putin knüpft ganz gezielt an diese Traditionen an, vor allem an die des Großen Vaterländischen Krieges gegen das nationalsozialistische Deutschland.
Vor diesem Hintergrund: Sind wir in Westeuropa mit unserer postheroischen Attitüde isoliert in der Welt?
Das kann man so nicht sagen. Die Rede vom postheroischen Zeitalter kam zuerst in den USA auf. Nach dem Ende des Vietnamkriegs stellte sich dort die Frage: Ist die US-amerikanische Gesellschaft noch willens, ihre Söhne und auch ihre Töchter massenhaft in einen Krieg zu schicken? Was geschieht, wenn die Soldaten in Leichensäcken zurück nach Hause kommen?
Postheroisch meinte in diesem Zusammenhang, dass die Gesellschaft eben dazu nicht mehr bereit ist. Die Konsequenz war keineswegs ein Verzicht auf militärische Einsätze, sondern die Umrüstung auf neue Waffensysteme. Den vorläufigen Endpunkt dieser Entwicklung bildet der Drohnenkrieg, der vor allem dadurch motiviert ist, die eigenen Truppen zu schützen.
Ließe sich unsere „Heldenmaschine“ jetzt wieder zum Laufen bringen, wenn das nötig würde?
Wir wissen nicht, was geschähe, wenn Deutschland nicht nur spezielle Einsatzkräfte, sondern eine große Anzahl an Truppen in einen verlustreichen Krieg schicken würde. Wenn dieser Krieg auch geografisch näherrücken würde. Ich bin eher skeptisch, ob eine Gesellschaft wie unsere mit unseren historischen Erfahrungen sich dazu durchringen könnte. Es liegt eine lange Periode wirtschaftlicher und politischer Stabilität hinter uns, die auch mit einer basalen Pazifizierung im Alltag einherging.
Heldengeschichten mag man im Kino oder im Fußballstadion konsumieren, selbst möchte man von heroischen Anforderungen allerdings verschont bleiben. Ich halte das für einen zivilisatorischen Fortschritt. Andererseits haben wir gerade zu Beginn des Ukrainekriegs erlebt, wie rasch und weitgehend widerspruchslos jahrzehntelange Grundprinzipien der Außen- und Militärpolitik über Bord geworfen wurden. Unter dem Eindruck eines Angriffskriegs können die Dinge blitzartig kippen; selbst die Möglichkeit einer atomaren Eskalation steht plötzlich – wieder – am Horizont.
Hat der Soldat als Inbegriff des klassischen Helden bei uns in Deutschland ausgedient?
Mit Kollektivbegriffen wie „wir“ oder „uns“ sollte man grundsätzlich vorsichtig sein. Die Sache ist komplizierter: Wenn man die Berichte über die Auslandseinsätze der Bundeswehr liest und auch die Erinnerungen von Soldaten, die in Afghanistan waren, dann gab es in den Einheiten durchaus so etwas wie eine heroische Gemeinschaftskultur.
Eine weitgehend postheroische Gesellschaft delegiert ihre Kriegführung an professionelle Militärs, die fernab des zivilen Alltags heroische Gemeinschaften herausbilden. Vergessen werden sollte außerdem nicht, dass in rechten Gruppen ein militärisches Heldentum hochgehalten wird. Deren Mitglieder zieht es deshalb auch in die Bundeswehr.
Warum werden Soldaten im Krieg so oft heroisiert?
Es ist alles andere als selbstverständlich, dass sich Menschen für einen Krieg einspannen lassen, dass sie bereit sind, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen und andere zu töten. Eine größere Zumutung vonseiten des Staates an seine Bürger ist kaum denkbar.
Heroisierung ist gewissermaßen die symbolische Kompensation für diese Zumutung. Da werden Orden verliehen, Denkmäler errichtet und feierliche Reden gehalten. Dabei geht es einerseits um die Mobilisierung von Opferbereitschaft, andererseits darum, die Opfer nachträglich zu rechtfertigen. Militärische Heldenverehrung ist immer auch Totenkult.
Es gibt aber zugleich zahlreiche Beispiele in der Geschichte, wo der Lack des Heldentums schnell ab ist, sobald der ordinäre Soldat zurückgekehrt ist. Da zählt der Held dann oft nichts mehr.
Viele Kriegsheimkehrer sind traumatisiert. Die Erfahrungen, die diese Menschen gemacht haben, dementieren den Mythos vom Krieg als Bühne heroischen Kämpfertums. Ihre Geschichten will freilich kaum jemand hören.
Ich will ja gar nicht mit Taxi Driver und Travis Bickle anfangen, dem Vietnamveteranen, der sich nicht mehr in der Gesellschaft zurechtfindet – und der Gesellschaft ist das reichlich egal.
Die Veteranen beklagen, dass sie nicht ausreichend medizinische und psychologische und auch finanzielle Unterstützung bekommen, um wieder ins zivile Leben zurückzufinden. Noch mehr klagen sie allerdings darüber, dass ihnen die gesellschaftliche Anerkennung versagt wurde. Postheroische Gesellschaften wie die Bundesrepublik neigen dazu, die Realität des Krieges zu exterritorialisieren.
Das darf weit weg in Afghanistan stattfinden, aber nicht bei der Gartenparty, wo der gerade zurückgekehrte Nachbar mir seine gruseligen Kriegsgeschichten erzählen will. Dagegen gibt es eine Abwehr. Das haben die Soldaten, die zurückgekehrt sind, oft zu spüren bekommen.
Wenn wir Menschen zu Heldinnen und Helden machen, was passiert eigentlich aus psychologischer Sicht?
Es gibt psychoanalytische Interpretationen, die Heldenverehrung als eine narzisstische Identifikation deuten – dass Menschen ihre unbewussten und bewussten Größenfantasien in einen Helden verlegen. In der Entwicklungspsychologie heißt es, Kinder bräuchten Vorbilder. Sie orientieren sich an dem Ideal-Ich einer Heldenfigur, um so ein verinnerlichtes Ideal ihrer selbst aufzubauen.
Das ist sicher nicht falsch – Heldengeschichten können Menschen zweifellos nachhaltig prägen. Doch auch für Kinder und Jugendliche sind Heldengeschichten höchst ambivalent, weil diese ihnen auch vor Augen führen, wie klein sie selbst doch sind. Aufblicken nach oben zu den Großen, das müssen Kinder ohnehin den ganzen Tag. Insofern haftet Heldengeschichten immer auch etwas Frustrierendes an. Dass Heldenfiguren eine Vorbildfunktion besitzen, dass man so werden will wie sie, das ist nur die eine Seite.
Denn psychologisch gesehen trifft auch das Gegenteil zu: Heldinnengeschichten können uns von der Mühe entlasten, es ihnen nachzutun. Helden sind auch Figuren, bei denen ich sagen kann: Super, der macht das. Dann brauche ich es ja nicht zu machen. So toll wie er bekäme ich das ohnehin nicht hin. Ein Beispiel: Sportheldinnen. Da setzt man sich ins Sofa und verfolgt begeistert den Wettkampf im Fernsehen. Und weiß: Eigentlich täte auch mir Bewegung gut – ist aber viel zu anstrengend.
Doch wodurch entsteht diese Sehnsucht nach Heldengeschichten? Das wird ja nicht nur manipulativ von oben eingebläut …
Da sind wir wieder beim Punkt, dass Heldentum etwas mit gesellschaftlichen Zumutungen zu tun hat. Aus der Kluft zwischen dem, was den Einzelnen abverlangt wird, und dem, was sie selbst zu leisten bereit und fähig sind, entsteht dieser Heldenhunger, die Sehnsucht nach solchen Figuren in diesen einschlägigen Geschichten, Filmen und Büchern. Sie sollen uns anspornen; zugleich befriedigen sie – wenigstens imaginär – den Wunsch nach einfachen Lösungen.
Durch die Heldenbrille betrachtet, erscheint die Welt in Schwarz und Weiß. Das entlastet ungemein, hilft aber nicht wirklich weiter. Kurzum: Wir brauchen Heldinnen allenfalls so, wie der Junkie den nächsten Schuss braucht. Wir werden die Heldinnen aber auch nicht los, weil jede Gesellschaft uns mit irgendwelchen Zumutungen konfrontiert.
Und wenn dann einer zum Helden erklärt wird, was macht das mit dem oder der?
Vielen Helden stellt sich diese Frage gar nicht, weil sie tot sind und ihr Tod Voraussetzung für die Heroisierung war. Das ist das Erste. Alltagsheldinnen ist der Rummel um ihre Person oft eher lästig. Sie sind überzeugt, gar nichts Besonderes getan zu haben.
Für andere ist es schwierig, den einmal erlangten Heldenruhm aufrechtzuerhalten, die Bewunderung des Publikums weiter auf sich ziehen zu können. Das macht sie zu traurigen oder lächerlichen Gestalten, die verzweifelt versuchen, ihr eigenes Denkmal zu dekorieren.
Haben Sie ein Beispiel?
Man denke nur an die Heldinnen der Arbeit in der ehemaligen DDR, die oft riesige Probleme in den Betrieben hatten und nach dem Ende der DDR in der Versenkung verschwunden sind. Die noch zu DDR-Zeiten, wenn sie älter wurden, die einstmalige Leistung oft nicht mehr bringen konnten und zum Beispiel Alkoholprobleme bekamen. Heroentum kann zu einer ziemlichen Belastung werden.
Heldinnen und Helden altern selten in Würde. Je früher sie abtreten, desto strahlender glänzt ihr Bild. Am besten sterben sie jung. Wer noch einen Grund sucht, von heroischen Ambitionen Abstand zu halten – hier wäre er.
Ulrich Bröckling lehrt an der Universität Freiburg und forscht dort unter anderem zur Anthropologie und zur Soziologie des Krieges und des Militärs. Im Jahr 2020 erschien sein Buch Postheroische Helden.