Im Angesicht der Katastrophe

Überschwemmungen, Terroranschläge, Viren oder Großbrände – was machen solche Katastrophen mit uns? Der Katastrophenforscher Martin Voss hat Antworten darauf.

Zwei Polizisten laufen durch das Hochwasser in einer Stadt mit Schutzkleidung
Polizisten gingen im Juni 2013 in Lauenburg an der Elbe (Schleswig-Holstein) durch die überflutete Unterstadt. © Marcus Brandt/dpa

Herr Professor Voss, was ist das eigentlich, eine Katastrophe?

Das ist ein sehr flexibler Begriff, sozialwissenschaftlich gesehen. Wir Katastrophenforscher definieren die Katastrophe nicht nach irgendwelchen objektiven statistischen Merkmalen, nach Schadenssummen oder Opferzahlen. Sondern wir schauen, was die Katastrophe für verschiedene Menschen bedeutet und was daraus für sie folgt. Und darauf gibt es ganz viele Antworten. Eine Katastrophe ist das, was Menschen als solche bezeichnen.

Und als solche empfinden.

Das ist eng miteinander gekoppelt. Die Bezeichnung gibt immer auch einen Modus des Empfindens wieder. Die Katastrophe konnotiert meist etwas Schicksalhaftes. Die Katastrophe legitimiert den Menschen zu weinen, zu leiden, zu trauern, zu verzweifeln. Man kann sogar sagen: Die Katastrophe lässt sich daran erkennen, dass Menschen die Sinnfrage stellen. Warum ist das passiert? Warum ist das mir passiert?

Sie meinen, dies ist ein einendes Element der Katastrophe?

Ja genau. Das ist das Globale an der Katastrophe, dass diese Frage überall gestellt wird: Warum? Bei den Antworten gehen Menschen entweder ins Spirituell-Mystische oder ins Rational-Technische. In diesem finden Sie ein weites Feld an Erklärungen, immer von der jeweiligen Kultur geprägt.

Machen wir es konkret und bleiben wir in Deutschland. Wie war das zum Beispiel nach dem Elbhochwasser im Jahr 2013 bei Fischbeck in Sachsen-Anhalt, als ein Deich gebrochen ist?

Da fragten sich die Leute, warum der Deich ausgerechnet an dieser Stelle gebrochen ist, wo er eigentlich gar nicht hätte brechen können, sollen, dürfen. Im kollektiven Gedächtnis war nicht mehr präsent, dass es dort vor längerer Zeit schon verheerende Hochwasser gegeben hatte. Und so findet man vor Ort die Vermutung, dass gezielt gesprengt wurde, um Wasser ablaufen zu lassen und Magdeburg zu schützen, und dass die Dörfer in der Gegend ‚geopfert‘ wurden. Daran koppelt sich alles Mögliche: Wer könnte konkret dafür verantwortlich gewesen sein? Letztlich lassen sich solche Theorien nicht völlig aus der Welt schaffen, selbst wenn überhaupt nichts an ihnen dran ist, weil man kaum den Gegenbeweis führen kann, dass nicht gesprengt wurde. Insofern bleibt immer etwas hängen, vor allem Vertrauensverlust und Skepsis gegenüber den Behörden.

Das Hochwasser dort ist ja schon einige Jahre her. Die Verarbeitung müsste doch langsam beendet sein?

Das glauben Sie vielleicht. Die Wahrheit sieht anders aus. Wir haben das untersucht und können sagen: Auch drei, vier, fünf Jahre danach merken wir, dass für viele Menschen die Katastrophe nicht vorbei ist. Wir haben es bei der Verarbeitung mit einem fortlaufenden Prozess zu tun, der wahrscheinlich kein wirkliches Ende hat. Viele der Betroffenen wollten drei Jahre später noch immer nicht über das Erlebte sprechen. Die Menschen leiden hinter ihren Vorhängen unter vielfältigen Konsequenzen – Alkohol, Konflikte in der Familie, zerbrochene Ehen. Manche mussten sich beruflich umorientieren. Wenige haben ihre Heimat verlassen.

Bedeutet eine Katastrophe dann so etwas wie eine psychosoziale Zäsur?

Ja, wir erkennen lauter Brüche, die zeigen, dass sich das soziale und psychologische Gefüge vor Ort deutlich verändert und noch nicht wieder in ein Gleichgewicht und eine Ordnung gefunden hat. Das soziale Gefüge wird immer noch ausgehandelt. Es sind aber auch Erinnerungskulturen erwachsen von der Art, dass man in dieser Zeit ein Gemeinschaftsgefühl erlebt hat, dass das Hochwasser die Menschen stark aneinander gebunden hat. Doch danach treten oft wieder alte Konflikte hervor, etwas verändert vielleicht, teils sogar verstärkt.

Wer leidet am stärksten unter einer Katastrophe? Menschen, die zuvor schon eher labil waren, die wenig Einkommen haben oder wenig innere Widerstandskraft?

Grob gesprochen: ja. Aber hinter dieser Matrix verbergen sich nicht selten Leidensstrukturen, die stark biografisch und kontextuell geprägt sind, individuell und kollektiv. Da kommen alte Konflikte hoch, aus Wendezeiten, aus DDR-Zeiten und noch viel weiter zurück. Landkonflikte zum Beispiel, die vor zig Jahren abgelaufen waren. Da brechen plötzlich soziale Konflikte auf, die auch Leute mit viel Hab und Gut sehr belasten, sie psychisch stark angreifen. Natürlich gilt in der Regel: Wer viel Geld hatte, war in der Katastrophe besser geschützt und konnte sie besser bewältigen. Doch zum Teil haben Menschen furchtbar gelitten, von denen man es nach rein statistischen Kriterien nicht erwartet hätte. Und sie tun es noch immer.

Und umgekehrt? Gab es Leute, die sich in der Katastrophe als unerwartet resilient erwiesen haben?

Auch in dieser Richtung haben wir Überraschungen erlebt. Es gab Menschen, die vor dem Hochwasser eher vulnerabel erschienen. Aber diese Leute hatten beispielsweise aufgrund einer bestimmten beruflichen Situation die Kompetenz, Menschen mehr zu helfen als andere. Sie hatten einen Berufsabschluss, der sie nicht gerade ökonomisch herausgestellt hätte. Aber dann wurden sie zu guten Samaritern, sind sozial gestärkt aus der Katastrophe hervorgegangen und gewannen an Ansehen im Dorf.

Wo wir bei Helden sind: Ist der Held des Alltags auch der Held in der Katastrophe?

Wir können nicht linear sagen, dass der, der im Berufsleben als Manager eine Führungsrolle innehat und Verantwortung für Menschen trägt, auch in der Katastrophe am rationalsten agiert und die Zügel in die Hand nimmt. Umgekehrt können wir sagen, dass Leute, die normalerweise nicht in Führungspositionen sind, diese Kompetenz in der Katastrophe entwickeln können. Da gibt es empirisch alle möglichen Beispiele für die eine wie die andere Richtung. Da ist etwa der Kellner, der beim Großbrand im Club immer wieder hineinrennt und Menschen herausholt, während der Geschäftsführer längst über alle Berge ist. Die Menschen verhalten sich in der Katastrophe nicht einfach, wie man es unter Alltagsbedingungen erwarten würde.

Was würde man denn erwarten?

Die meisten Menschen stellen sich vor, dass im Falle einer Katastrophe Panik ausbricht, Schockstarre, irrationales Verhalten, Plünderungen und egoistisches Gebaren auftreten und dass die Leute hilflose Opfer sind. Solche Vorstellungen bezeichnet die Katastrophenforschung als Desaster-Mythen. Die Empirie zeigt hingegen, dass diese Vorstellungen äußerst selten und nur unter sehr besonderen Bedingungen zutreffen. Solche Desaster-Mythen halten sich auch nach unseren Erkenntnissen beharrlich. In unserer repräsentativen Umfrage mit 1000 Berlinern erwarteten zum Beispiel fast zwei Drittel der Befragten eine Panik im Katastrophenfall.

Wie verhalten sich die Menschen denn tatsächlich?

Tatsächlich verhalten sie sich meist solidarisch. Von sozialen Normen abweichendes Verhalten ist nicht völlig ausgeschlossen, aber eben seltener als erwartet. Menschen verhalten sich allermeist nicht asozial, und sie bereichern sich auch nicht am Hab und Gut des Nachbarn, nur weil der sich hat evakuieren lassen.

Und was passiert während einer Massenpanik wie bei der Love-Parade 2010 in Duisburg?

Dass bei der Love-Parade im Gedränge Menschen über andere gestolpert sind, lässt sich nicht wirklich mit Panik erklären. Das passiert in der Regel weder aus egoistischen Motiven, noch weil Menschen vollkommen den Kopf verlieren. Da kann man nicht anders, man wird geschoben. Auch hier dominierte ganz klar das prosoziale Verhalten. Grundsätzlich: Man sucht nach Informationen und man informiert selbst, wen man erreichen kann. Und da ist plötzlich auch der Nachbarschaftskonflikt nicht mehr dominant. Man versucht herauszufinden, wo man aktiv werden kann. Vielleicht kann man den Feuerlöscher in die Hand nehmen. Es läuft also erst einmal ein sehr rationaler Katalog an Verhaltensweisen ab. Aus Sicht des Katastrophenschutzes ist es sehr wichtig, dass Menschen eine realistische Vorstellung davon haben, mit was sie in einer solchen Situation rechnen müssen, das ist dann sozusagen ein verstärkender Effekt, der die geringe Wahrscheinlichkeit abweichenden Verhaltens nochmals reduziert.

Die nächste Katastrophe, das nächste Hochwasser kann schneller kommen, als man denkt. Was sollte aus psychologischer Sicht besser gemacht werden?

Wir arbeiten eng mit Hilfsorganisationen wie dem Deutschen Roten Kreuz zusammen, das auch an unserem Hochwasser-Forschungsprojekt beteiligt war. Nach unseren Resultaten müsste in einer Katastrophenbewältigungssituation ein Betreuungsdienst dafür sensibilisiert sein, dass er es mit Menschen zu tun hat, bei denen psychisch gerade sehr viel in Bewegung gerät und eine große Verletzlichkeit besteht. Und dass gerade diese Verletzlichkeit die Aufmerksamkeit der Betreuer fordert und rechtfertigt.

Können das die Hilfsorganisationen überhaupt leisten?

Sie haben recht: Die Hilfsorganisationen haben nur begrenzte Ressourcen und können sich nicht um alles kümmern. Es sind ja fast alles Ehrenamtliche, die ohnehin schon viel Freizeit und Energie aufbringen, um das alles nebenher zu machen. Es ist uns dennoch wichtig, zu zeigen, dass man mit den vorhandenen Möglichkeiten sehr viel mehr für die psychischen Bedürfnisse der Opfer tun kann, wenn man weiß, was in deren Köpfen gerade vorgeht. Da schauen wir gemeinsam mit den Hilfsorganisationen, wie sie sich auf den nächsten Fall noch besser vorbereiten können. Zeitversetzte Angebote erscheinen beispielsweise angebracht, weil bei einigen Katastrophenopfern die psychische Verarbeitung erst Monate bis Jahre später einsetzt. Für die Lagebewältigung werden noch mehr Ressourcen benötigt – gerade bei psychosozialer Notfallbetreuung. Menschen brauchen oft viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte Unterstützung und gesellschaftliche Anerkennung ihres Leids. Das muss sich eine Gesellschaft aber leisten wollen.

Wie kann ich mich am besten auf die nächste Katastrophe vorbereiten? Indem ich mich besonders gut sozial vernetze, um Hilfe zu bekommen?

Tatsächlich ist das soziale Netzwerk auch im Katastrophenfall sehr wichtig, denn im Notfall ist es immer besser, Teil einer solidarischen Gemeinschaft zu sein. Das hat sich bei vielen Katastrophen gezeigt, vor kurzem etwa beim Hurrikan Irma in den USA. Ohne Nachbarschaftshilfe wäre die Zahl der Opfer vermutlich deutlich höher ausgefallen. Aber: Obacht bei der Auswahl der Freunde! Denn nicht jedes soziale Netzwerk ist per se gut. Wenn Sie sich zum Beispiel als Mensch mit Migrationshintergrund nur in Ihrer Muttersprache bewegen, dann bekommen Sie weniger der wichtigen Informationen, die relevant sind. Möglichst offene Netzwerke sind in Bezug auf Katastrophen wichtig.

Es gibt ja auch Menschen, die Katastrophen beharrlich ignorieren.

Ja, das sehen wir in einem laufenden Projekt zu Extremwetterwarnungen: Einige Menschen machen im Katastrophenfall dicht und wollen keine Informationen. Andere wiederum reagieren über. Das liegt unter anderem daran, dass wir durch die modernen Massenmedien bei fast jeder Katastrophe im letzten Winkel der Erde quasi in Echtzeit dabei sind, obwohl wir uns in Sicherheit befinden. Auch dadurch, also unabhängig von der Frage, ob Katastrophen tatsächlich mehr geworden sind, erscheint die Zukunft als zunehmend unsicher. Zwischen beiden Typen gibt es jedenfalls ein breites Spektrum der Katastrophen-Risikowahrnehmung. Wir klassifizieren diese Typen und denken über Wege nach, Informationen stärker zu personalisieren, dem jeweiligen Bedarf entsprechend. Mit einer App könnte man beispielsweise den individuellen Risikotyp erfassen und jeden Einzelnen im Falle des Falles mit passgenauen Informationen versorgen. So eine App könnte die Menschen zugleich in Hilfsmaßnahmen einbinden, gemäß ihren Fähigkeiten und Kompetenzen. Dazu haben wir in einem anderen Forschungsprojekt unter der Leitung eines Fraunhofer-Instituts gearbeitet, um die bereits verbreitete Katwarn-App weiterzuentwickeln.

Martin Voss ist Professor für ­sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung an der Freien Universität Berlin und leitet die dortige Katastrophenforschungsstelle (KFS)

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2019: Die Kunst des Aufgebens
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