„Bleiben wir zusammen!“ Das Ende der ersten Neujahrsansprache des Bundeskanzlers Olaf Scholz zum Jahreswechsel 2021/2022 war der vorläufige Höhepunkt einer Diskussion und einer Angst, die uns seit etwa 15 Jahren begleitet. Es geht um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und das Gefühl, dass er in Zeiten wie diesen verschüttgehen könnte – mit unabsehbaren Folgen für den Staat Bundesrepublik Deutschland und seine Bürgerinnen und Bürger.
In der Krise, zumindest darin scheinen sich alle einig zu sein, ist…
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sich alle einig zu sein, ist der gesellschaftliche Zusammenhalt eine der gefragtesten und nützlichsten Ressourcen. Um sie zu mobilisieren, werden sogar im Hightechzeitalter abgemilderte Formen von Churchills Blut-Schweiß-und-Tränen-Reden ausgepackt. Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel appellierte zu Beginn der Coronapandemie an Verstand und Disziplin ihrer Landsleute, als in Bergamo die Covidtodesopfer mit Lastwagen zu den Friedhöfen gefahren wurden. „Da haben sich für ein paar Monate in unserer Gesellschaft die Reihen massiv geschlossen“, sagt der Soziologe Kai Unzicker von der Bertelsmann-Stiftung.
Diese organisiert regelmäßig eine der größten Umfragen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt – auch in der Coronapandemie, als das Drama um den sozialen Zusammenhalt in eine nächste heiße Phase ging: Es begannen die Proteste gegen Anti-Corona-Maßnahmen – vordergründig gegen die Impfkampagne. Hintergründig „gegen den Staat, der hart durchgreifen will“, wie Unzicker sagt, „gegen die Eliten, gegen die Medien und so weiter. Es ist der perfekte Sturm, der viele der bekannten Protestgruppen in unserem Lande aktiviert hat. Denn das Thema Corona betraf ja alle Bürgerinnen und Bürger.“
Keine klare Lagerbildung – auch nicht bei Corona
Dies schloss die Behauptung mit ein, die Gesellschaft sei in Coronafragen und vor allem durch die Impffrage tief gespalten. „Das wieder und wieder zu verkünden“, sagt Kai Unzicker, „gehört zum Narrativ dieser Szene“.
„In der öffentlichen Wahrnehmung und dadurch, dass die Medien dieses Narrativ aufgenommen haben“, erklärt der Soziologe weiter, „hat das alles den Charakter der Zuspitzung.“ In diesem Vorgehen der selbsternannten „Querdenkerinnen“ stecke aber eine Täuschung, weil es erstens eine klare Lagerbildung in unserer Gesellschaft gar nicht gebe: Sie sei deutlich komplexer als eine Aufteilung in Impfbefürworter und Impfgegner – zumal beide Gruppen, auch die der Impfgegner, in sich heterogen sind. Und zweitens sei das Narrativ der gesellschaftlichen Spaltung schon deshalb eine Mär, weil die überragende Mehrheit der erwachsenen Deutschen sich habe impfen lassen – und die Gegner mit einem Bevölkerungsanteil von 10 bis 20 Prozent nicht mehr als eine Minderheit seien.
„Gespalten“ sind wir also nicht. Dennoch zeigt sich nach vielen Jahren enormer Stabilität nach drei Coronajahren und der nächsten Krise – Russlands Angriffskrieg in der Ukraine – eine ungewohnte Dynamik im gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das untermauern die Daten der Bertelsmann-Stiftung: Bundesweit befragten die Gütersloher Forschenden über 600 Personen im Februar, März, Juni und Dezember 2020.
Insgesamt bezeichnete Unzicker die damalige Lage als noch „relativ robust“. Allerdings bewerteten seinerzeit schon Personen unter 30 Jahren und vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen aus bildungsfernen Schichten die Zukunftsaussichten kritischer als etwa die Mittelschicht. Ganze zwei Drittel der Befragten unter 30 Jahren äußerten große Zukunftssorgen, und 71 Prozent fühlten sich einsam. Interessanterweise war aber gerade in dieser Altersgruppe die Unterstützung der Coronamaßnahmen am größten.
Sorge um Zusammenhalt vor allem bei jüngeren Menschen
Schon besorgniserregender klingen die Befunde der Studie Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Baden-Württemberg 2022, in der Umfragen aus 2017 und 2019 mit Zahlen vom Jahreswechsel 2021/2022 verglichen wurden. Resultat: Der Index für Zusammenhalt, der Werte von 0 bis 100 annehmen kann, war von 64 auf 54 Punkte deutlich gesunken. „Einen solchen Rückgang“, sagt Unzicker, „konnten wir noch nie verzeichnen.“
Zwei Drittel der Befragten meinen, vermehrt Konflikte in der Bevölkerung wahrzunehmen. Rund 60 Prozent sind der Ansicht, die Pandemie habe den gesellschaftlichen Zusammenhalt geschwächt. Ein Drittel der Bevölkerung glaubt inzwischen, geheime Organisationen übten im Hintergrund großen Einfluss auf politische Entscheidungen aus. Erstmals auch empfand eine Mehrheit Zweifel in Bezug auf den Zusammenhalt in der eigenen Wohngegend.
Waren 2019 noch 80 Prozent der Befragten der Auffassung, der Zusammenhalt im eigenen Umfeld sei gut oder sogar sehr gut, sagen dies in der jüngsten Befragung gerade mal noch 47 Prozent. Und wiederum zeigte sich, dass jüngere Menschen belasteter sind durch die Pandemie als Ältere und dass sie den Zusammenhalt als besonders gefährdet sehen. Die Forschenden deuten die Ergebnisse zumindest als Warnung.
Will heißen: Auch wenn die Menschen „nicht an den totalen gesellschaftlichen Zusammenbruch glauben“, wie die Psychologin Jule Specht von der Berliner Humboldt-Universität nach repräsentativen Umfragen versichert, und auch wenn der Soziologe Olaf Groh-Samberg vom Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt noch immer „kein zweigespaltenes Land“ sieht: Die dauerkrisengeschüttelte Wirklichkeit könnte, wenn es schlecht läuft, die seit vielen Jahren tiefe Sorge um den Zusammenhalt einholen.
Denn Polarisierungen mit deutlich abgegrenzten radikalen Rändern sehen Forschende schon seit langem. Polarisierung bedeutet, dass Menschen nicht nur bei einem Thema – zum Beispiel Klimaschutz – völlig konträrer Meinung sind, sondern auch bei vielen weiteren Themen (Haltung zu Russland, Impfen gegen Corona und so weiter). Und dass sich die übereinstimmenden Haltungen in diesen Wertefragen entlang bestimmter gesellschaftlicher Gruppen häufen. Die unterschiedlichen Grundauffassungen gehen also mit sozialstrukturellen Unterschieden der Lager einher, und die Menschen dieser Lager begegnen sich in ihren alltäglichen sozialen Netzwerken kaum noch, so dass kein Austausch mehr stattfindet.
Werte verschiedener Gruppen gehen auseinander
In einer Pilotstudie für eine großangelegte Untersuchung des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt treten derlei Polarisierungen deutlich zutage – vor allem bei der Bewertung kultureller Vielfalt, im Wunsch nach autoritärer Ordnung und in der Einschätzung und Bewertung sozialer Ungleichheit in Deutschland. Die Meinungen zu diesen Wertefragen hängen der Studie zufolge nicht nur vom Einkommen und der Bildung ab, sondern auch von den „sozialen Flugbahnen“, also der bisherigen und erwarteten Entwicklung des Lebensstandards und des Aufwands, den die Menschen dafür erbracht haben. Die mit der Polarisierung verbundenen gesellschaftlichen Ränder machen sich gerade in Krisenzeiten doppelt lautstark bemerkbar, verstärkt durch die Berichterstattung von Medien.
In der Sorge um den Zusammenhalt steckt ein Stück weit die Sehnsucht nach der heilen, harmonischen Welt in der Heimat. Hinzu kommt, dass diese Sehnsucht befeuert ist durch nostalgische Ideen, wonach der Zusammenhalt vor vielen Jahrzehnten gefühlt besser war – und dass die Menschen sich näher waren, vereint etwa durch einen sinnstiftenden westlichen Wertekanon. Aber: „Erstens war er nicht besser“, sagt Nicole Deitelhoff, Soziologin von der Universität Frankfurt. Und zweitens könne davon heute sowieso keine Rede mehr sein, „weil sich unsere Gesellschaft kulturell, religiös und vom Lifestyle her so pluralistisch entwickelt hat, dass kein Wertekanon mehr eine einigende Klammer sein kann“.
Das bedeutet: In der Ausgabe 2023 des Staates Deutschland koexistieren mehr denn je unterschiedlich große Gruppierungen, die ihre eigenen Interessen verfolgen und mehr oder minder mit den anderen kooperieren. Die Dynamik dieser Gruppen untereinander ist vielleicht die entscheidende Stellschraube des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalts. In der Sozialpsychologie ist längst weithin bekannt, „dass Individuen in Gruppen oder Gesellschaften vollkommen anders denken, fühlen und handeln als in interpersonalen Beziehungen“, erklärt der Sozialpsychologe Jonas Rees von der Universität Bielefeld.
Die Gruppe wird wichtiger als ich
Einer einflussreichen Theorie des britischen Sozialpsychologen Michael Hogg zufolge kommt Zusammenhalt in Gruppen zustande, wenn Individuen ihr Selbstkonzept durch die Gruppe definieren und sich mit ihr identifizieren. In dieser Identifikation werden die individuellen Eigenschaften einer Person weniger wichtig als das Konzept der jeweiligen Gruppe. Die sozialen Normen der Gruppe dominieren das Denken der einzelnen Mitglieder. Dies geht einher mit einem Vergleich der Ingroup mit anderen relevanten Fremdgruppen, den Outgroups.
Aus dem positiven Vergleich der Ingroup mit einer Outgroup stärken sich die Identifikation sowie Prozesse der Konformität: Die Gruppe werde für ihre Mitglieder bedeutender als die persönlichen Bedürfnisse oder Beziehungen. Weil die soziale Identität der Gruppenmitglieder einen Teil ihres Selbstkonzeptes ausmacht, verlören individuelle Identitätsmerkmale im Gruppenkontext ihre Bedeutung.
Diese Intergruppentheorie des Zusammenhalts wird durch viele empirische Belege gestützt. Andreas Zick von der Universität Bielefeld und seine Kollegin Beate Küpper haben zum Beispiel ermittelt, dass Befragte eines repräsentativen Bevölkerungssurveys, die Vielfalt ablehnten, auch den Zusammenhalt der Gesellschaft bedroht sahen und Minoritäten ablehnten, die sie als fremd beurteilten.
Zusammenhalt lässt sich in modernen pluralistischen Gesellschaften mithin nicht definieren, ohne zu beschreiben, mit wem nicht zusammengehalten wird. „Der Zusammenhalt“, so Rees weiter, „lebt vom Konflikt und wie die Menschen mit diesem Konflikt umgehen. Entsprechend ist der gesellschaftliche Zusammenhalt ein Objekt von Konflikten um unterschiedliche Identitäten, Werte und Ressourcen.“ Und es geht um das Gefühl, dass diese im Gesamtkonstrukt Gesellschaft berücksichtigt werden. Sozialpsychologisch befeuert dies den Selbstwert des Einzelnen. Das Individuum will sich zugehörig fühlen nach dem Motto „Ich lebe gerne in dieser Gesellschaft“ – mit einem entsprechenden Vertrauen in deren Institutionen und ihre Regeln und Gesetze.
Vertrauen bildet die Basis für Zusammenhalt
Zusammenhalt in Gesellschaften hängt davon ab, inwieweit gute, das heißt konfliktbeladene wie konstruktive Beziehungen zwischen Gruppen bestehen. Eben diese Fähigkeit, auch über Zugehörigkeitsgrenzen hinweg geteilten Interessen zu vertrauen und zu kooperieren, ermöglicht erst das Zusammenleben in diversen Gesellschaften; jedenfalls jener mit einer demokratischen Grundordnung.
Konflikte und Kooperation wiederum können Zusammenhalt herstellen, wenn soziales Vertrauen, insbesondere in Umbruchzeiten hergestellt wird. Demokratiemisstrauen, Distanz gegenüber Institutionen und ihren Vertretungen und vor allem gegenüber Fremden kann dazu führen, dass Menschen sich bedroht fühlen und Ideologien der Ungleichwertigkeit, die ihnen angeboten werden, adaptieren. Vertrauen in die Gesellschaft, ihre Institutionen, die Regeln und Verfahren des Austausches von Ressourcen, Identitäten wie Fairness und Gerechtigkeit sind maßgeblich für den Zusammenhalt.
In diesem Sinne spricht Kai Unzicker davon, „dass wir eine Vorstellung von Zusammenhalt brauchen, die nicht so voraussetzungsvoll ist und nicht so romantisiert überhöht“. Basierend auf dieser Maxime wird für die Bertelsmann-Stiftung Zusammenhalt aus drei Bereichen gespeist:
erstens stabilen, vertrauensvollen und vielfältigen sozialen Beziehungen;
zweitens starken Gefühlen von Verbundenheit und Zugehörigkeit zum Gemeinwesen;
drittens der Bereitschaft, sich für das Gemeinwohl einzusetzen.
Wenn das schwere Sofa in den dritten Stock muss
Diese drei Bereiche splitten sich nochmals in neun „Dimensionen“: die Verbundenheit zum Gemeinwesen, das Vertrauen in die gesellschaftlichen und politischen Institutionen, das Empfinden, ob die Güter in der Gesellschaft gerecht verteilt sind, Hilfsbereitschaft und Solidarität für andere, die Anerkennung sozialer Regeln, die Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben, die Akzeptanz von Menschen mit anderen Wertevorstellungen als den eigenen, Vertrauen in die Mitmenschen und ob die Menschen stabile soziale Netze haben.
„Hinter diesen Parametern“, so Unzicker, „steckt kein politisches Programm, keine Ideologie und kein Wertebild, aber die Notwendigkeit von Kooperation der Bürgerinnen und ihrer Interessengruppen im Kleinen. Auf dem Land und in der Stadt, in der Nachbarschaft, überall dort, wo Fremde sich begegnen und den Kitt schaffen müssen, der das große Ganze einigermaßen stabilisiert. Das ist in einer offenen Gesellschaft nicht wenig.“
Sind die Werte für die einzelnen Bereiche hoch – wie es derzeit noch der Fall ist –, dann ist zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit groß, dass eine Frau egal welcher Herkunft von ihren Nachbarn Hilfe bekommt, wenn sie allein mit ihrem schweren neuen Sofa vor ihrem Hauseingang steht und das gerade gelieferte Teil in den dritten Stock hochbekommen muss. „Der Zusammenhalt im Großen muss im Kleinen von uns allen täglich aufs Neue gelebt werden. Etwa indem wir aufeinander zugehen, uns dafür interessieren, wer nebenan wohnt, und uns für die Angelegenheiten im eigenen, überschaubaren Umfeld einsetzen“, sagt der Bertelsmann-Soziologe.
Die Stiftung Bürgermut hat jüngst in einer Broschüre beispielhafte Projekte vorgestellt, die in diesem Sinne den Zusammenhalt befördern. So zum Beispiel „Bürger für Bürger“ in Daun in der Eifel. Dieser ehrenamtliche Verein leistete erst Nachbarschaftshilfe im Lockdown, dann entstanden Angebote für Betroffene der Flutkatastrophe im Ahrtal. Derlei Initiativen stärken in der diversen Gesellschaft von heute die Akzeptanz einzelner Interessengruppen.
Raus aus der Bubble und gemeinsam anpacken
„Bürgerschaftliches Engagement bedeutet: raus aus der Bubble!“, erklärt Uwe Amrhein vom Vorstand der Stiftung, „Engagement für Zusammenhalt muss zugleich einladend gestaltet sein, einfach in der Sprache, leicht zugänglich.“ Auf Basis derlei zusammenführender Initiativen muss der gesellschaftliche Zusammenhalt mangels sinnstiftenden Wertekanons „immer wieder neu und für den Moment erzeugt werden“, wie Nicole Deitelhoff sagt.
Das bedeutet: „Wir müssen die Differenzen immer wieder neu auf den Tisch legen und uns immer wieder damit auseinandersetzen und brüchige und kurzweilige Arbeitskompromisse finden, die im Hier und Jetzt ein Zusammenleben ermöglichen.“ Das sei anstrengend für die Menschen und zum Beispiel Grund dafür, dass es immer wieder Widerstände gegen Zuwanderung gebe. Das sei auch der Grund dafür, dass rechtskonservative bis -extreme Kräfte eine national getriebene Einheit anstrebten, die sich durch Abgrenzung nach außen und eine Abwertung andersdenkender Menschen definiere.
„Aber faktisch ist es so, dass es diese Auseinandersetzungen auch unter den Alteingesessenen schon immer gab, auch lange vor der Zuwanderung“, sagt Deitelhoff. „Was momentan unter der Chiffre Identitätspolitik firmiert, ist nichts anderes, als immer wieder die Differenzen unter den Menschen auszupacken und zu sagen: So geht das nicht weiter. Ich möchte anerkannt werden als eine Person mit Ansprüchen, Rechten und Pflichten. Das ist genau diese Aushandlung des gesellschaftlichen Zusammenhalts für den Moment. Diese mühsame Aushandlung ist unumgänglich. Das ist das Prinzip moderner Gesellschaften.“
Zum Weiterlesen
Nicole Deitelhoff, Olaf Groh-Samberg, Matthias Middel (Hg.): Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Ein interdisziplinärer Dialog. Campus, Frankfurt 2020