Konflikte um Identitäten sind nicht verhandelbar

Warum Streit und Gewalt zwischen Nationen und anderen großen Gruppen so schwer zu lösen sind, erklärt der Politikwissenschaftler Andreas Heinemann-Grüder.

Streit und Gewalt zwischen Nationen und anderen großen Gruppen sind schwer zu lösen © © Orbon Alija/Getty Images

Kriege sind Konflikte zwischen großen Gruppen, beispielsweise Ethnien oder auch ganzen Nationen. Wie definieren Sie einen Konflikt zwischen „Gruppen“ aus soziologischer und sozialpsychologischer Sicht?

Zu unterscheiden ist zunächst zwischen imaginierten, gesellschaftlich konstruierten Großgruppen, also Nationen, Religionsgemeinschaften, Geschlechtern oder der Klassifizierung nach Hautfarbe, und real existierenden, soziologisch und politisch beobachtbaren Gruppen, die durch Kollektivhandeln verbunden sind, also etwa Institutionen, Unternehmen, Vereine, Parteien politischen Bewegungen.

Viele „Gruppen“ existieren nur dadurch, dass über sie geschrieben wird, durch Zuschreibungen, durch Fremdbilder, mit denen sich die so Bezeichneten dann auseinandersetzen müssen. Bei Gruppenkonflikten werden Erwartungen nicht individuell, sondern für Gruppen generiert, im Namen eines Kollektivs.

Gesellschaftliche Gruppenkonflikte sind von Identitätspolitik geprägt, von der Exklusivität bestimmter Identitätsmerkmale. Viele Teilidentitäten werden auf die Loyalität zu einer Großgruppe reduziert. Diese Zugehörigkeit ist nicht verhandelbar. Ein Verlassen der Großgruppe ist mit massiven normativen und faktischen Sanktionen verbunden. Die individuellen Kosten eines Aussteigens können existenziell sein. Der Druck, dem „Vaterland“, einer religiösen Gemeinschaft, einer Sekte oder einer bewaffneten Gruppe gegenüber treu zu bleiben, ist in der Regel enorm, wer aussteigt, wird geächtet.

Ein einzelner Aussteiger wird zum Ketzer, Märtyrer und Verräter. Gruppenkonflikte umfassen immer Kontrolle der Individuen. Es geht stets um Aufrechterhaltung von Hierarchien, Abhängigkeiten und Loyalitätsnormen. Es werden Regeln gesetzt, wer dazu gehört und wer ausgeschlossen werden muss. Die oberste Gruppennorm ist das 1. Gebot: „Ich bin der Herr, Dein Gott, Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. “ Die „Volksgemeinschaft“ oder der Staat fungieren als Gott.

Was sind die wichtigsten Unterschiede zwischen Gruppen- und Personenkonflikten?

Personenkonflikte werden häufig ausgetragen, als seien es Gruppenkonflikte. Das Gegenüber repräsentiert dann quasi eine Gruppe, etwa die aller Frauen oder Männer in einem Beziehungskonflikt. Gibt es eine imaginierte oder tatsächliche Gruppe im Hintergrund, lassen sich die eigenen Machtmittel stärken. In einem Personenkonflikt ist das Ich jedoch in hohem Maße autonom und eigenverantwortlich. Das ist in einem Gruppenkonflikt anders, hier kann die Verantwortung delegiert werden. Was es dem Individuum erlaubt, sich auch unabhängig von eigenen Meriten mächtig zu fühlen.

„Stolz“ auf die Zugehörigkeit zu einer Nation (oder anderen Großgruppe) ist gänzlich unabhängig von eigener Leistung. Auch der Ruf nach Anerkennung lässt sich vom eigenen Beitrag trennen. Der Ruf nach Anerkennung einer Gruppe reklamiert eine „Goldmedaille“ unabhängig davon, ob jemand eine Olympiade gewonnen hat. Großgruppen sehen den Kampf um Anerkennung als einseitigen Vorgang, wer nach Anerkennung ruft, muss mitnichten selbst anerkennen.

Gibt es Typen von Konflikten?

Werden Konflikte um teilbare Güter geführt (Macht, Ressourcen), dann sind sie grundsätzlich verhandelbar. Für sogenannte Identitätskonflikte gilt das nicht. Loyalität, affektive Bindungen und andere Normen und Werte sind zum einen notwendig, damit die Gruppe zusammenhält und zum anderen Voraussetzung dafür, dass politische Ziele erreicht werden.

Was ist Konfliktmanagement?

Konfliktmanagement möchte Konflikte dadurch bewältigen, dass sie thematisiert werden, die Art der Kommunikation angesprochen wird, Regeln für das Konfliktverhalten vereinbart und Strategien zur Deeskalation gesucht werden sowie eine Beteiligung aller Konfliktparteien ermöglicht wird. Konfliktmanagement strebt danach, die Intensität oder die Austragungsform eines Konfliktes zu ändern.

Die Kosten von Eskalation oder Repression sollen gesenkt werden. Konfliktmanagement ‑ auch als Instrument der Unternehmensführung ‑ ist nicht gleichzusetzen mit Konflikttransformation. Bei letzterem geht es darum, dass die strukturellen Konfliktursachen – etwa extreme Ungleichheit, Hierarchien, mangelnde Partizipation – überwunden werden.

In internationalen Konflikten oder inneren Kriegen besteht Konfliktmanagement oft in Beobachtung, Shuttle-Diplomatie, in „Friedensmissionen“ oder in Treuhandregimen.

Wann ist Konflikttransformation der bessere Weg?

Zunächst gilt, dass Krieg jeden Konflikt transformiert, also umwandelt. Eine Rückkehr zum vorherigen Zustand ist danach ausgeschlossen. Dies gelingt, wenn frühere Gegner in einer Wirtschafts- und Werteunion wie der Europäischen Union oder in einer Allianz wie der NATO vereint sind. Sie führen dann zumindest untereinander keine Kriege mehr. Da autokratische Regime die innere Gewaltkultur nach außen tragen und Übergangsregime nur über schwache Institutionen verfügen, trägt gemeinhin die Festigung von Demokratie zur Konflikttransformation bei.

Machtteilung, also die Beteiligung der Kriegsgegner am politischen System, transformiert Gewaltkonflikte auch, selbst wenn sie die Kriegsfürsten bevorzugt oder diese nur ihre Klientel bedienen. Ein Gewaltkonflikt kann dann als transformiert gelten, wenn keine Seite den Status quo fundamental revidieren möchte, das heißt ihn akzeptiert. Gelingt dies nicht, sinnt die eine oder andere Seite auf Revanche, so wie Deutschland nach dem Versailler Vertrag oder Putins Russland, das sich nicht mit der Auflösung der Sowjetunion abfinden kann.

Was kann man mit Konfliktmanagement erreichen?

Das Ziel ist ein Einfrieren von Gewalt, um darüber Zeit für Diplomatie, zivile Konfliktbearbeitung und Wiederaufbau zu gewinnen. Ob es funktioniert, das hängt von der Natur eines Konfliktes ab und der Machtkonfiguration der beteiligten Parteien.

Konfliktmanagement in den internationalen Beziehungen verwaltet das Elend, in der Hoffnung, dass zwischenzeitlich eine Beruhigung der Affekte stattfindet, Kommunikationskanäle und „Vertrauen“ entstehen. Eine reine Verwaltung des Elends führt jedoch häufig zu Enttäuschungen, das erhöht die Frustration und es kann erneut zu Gewalt kommen.

Was sind die Voraussetzungen dafür, dass Konfliktmanagement zu einer Lösung führt?

In den internationalen Beziehungen sind entscheidend die Koordination der „Konfliktmanagerinnen“, ein Konsens oder Kompromiss über die angestrebten Ziele, Zwangsmittel gegen Regelverletzung, die Abstimmung und Integration der verschiedenen Maßnahmen und die Fähigkeit, „Spielverderber“ zu fragmentieren oder zu marginalisieren. Moderaten Politikerinnen und Politikern muss geholfen werden, den Frieden zu verkaufen. Konfliktmanagement scheitert, wenn es zu viele Konfliktmanager gibt.

Wie sehen Lösungen aus?

Das Wort „Lösungen“ passt nicht. Es geht um Prozesse, die angestoßen werden können. So ein Prozess beginnt beispielsweise mit der Segmentierung der Parteien mittels Demarkationslinien, führt über humanitäre Korridore zu Waffenstillständen, zur Etablierung von Kommunikationskanälen und mündet möglicherweise in eine politische, wirtschaftliche oder militärische Machtteilung oder Machtbegrenzung.

„Lösungen“ kommen in Gang, wenn eine Partei unmissverständlich überlegen ist, wenn die Parteien keine Gewinne mehr auf dem Schlachtfeld zu erwarten haben oder die Gewaltressourcen erschöpft sind oder eine dritte Partei den Frieden diktiert. Langanhaltende Gewaltkonflikte ohne Gewinne ermüden und untergraben die Legitimation der Kriegsherren. Nicht gewonnene oder verlorene Kriege können Revolutionen auslösen. Der Imperativ des Regimeerhalts wird dann bedeutsamer, als den Krieg zu gewinnen.

Unter welchen Bedingungen erreichen externe Akteurinnen und Akteure nichts?

Externe Akteurinnen und Akteure fürchten stets einen Kriegsherrn mit Massenvernichtungsmitteln mehr als einen regionalen oder lokalen Kriegsfürsten, den sie besiegen können. Die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates können Resolutionen durch ein Veto blockieren und alle können mit Atomwaffen drohen. Völkerrechtsbruch durch die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates ist praktisch nicht sanktionierbar. Wenn also externe Akteurinnen und Akteure in Verhandlungen keine extrem attraktiven Angebote unterbreiten können, ist der Anreiz gering, die Macht aus dem Gewehrlauf preiszugeben: Frieden muss sich auszahlen.

Sofern in einem Gewaltkonflikt unvereinbare Identitäten aufeinanderprallen, die die Auslöschung des Gegners anstreben, lassen sich Konfliktgüter nicht teilen. Gewalt erzeugt diese fundamentalistischen Identitäten, sie produziert das eigene Narrativ. Mit Massenverbrechern ist heutzutage kaum ein Friedensschluss möglich, sondern nur Frieden nach der Kapitulation. Darum geht es auch im Krieg gegen die Ukraine: Für wen ist Putin noch satisfaktionsfähig?

Was ist, wenn einer der Beteiligten mauert, nicht reden will?

„Mauern“ ist eine Konfliktstrategie neben anderen. Jemand kann mauern, weil er oder sie Identitätsverlust oder Abstrafung für Kompromisse befürchtet. Eine Person kann auch mauern, weil sie denkt, dass die andere Partei unter dem Konflikt mehr leidet als man selbst. Oder eine der beiden Parteien fragt sich: Worüber und wie soll ich reden, wenn das Gegenüber mich auslöschen will? Mauern kann auch Ausdruck einer tiefen Enttäuschung darüber sein, wie die Kommunikation vorher gelaufen ist.

Eine Partei, die über rechtliche, politische und materielle Ressourcen verfügt, kann es sich leisten, nicht zu reden. Das kann erst überwunden werden, wenn gleiche Spielregeln gelten oder eine Gleichheit der Waffen besteht. Das Sprichwort sagt: „hohe Zäune, gute Nachbarn“. Eine Segmentierung – die Mauer – kann einen negativen Frieden bewirken. Manche Parteien haben sich auch nichts mehr zu sagen, es ist alles gesagt.

Andreas Heinemann-Grüder ist Politikwissenschaftler und Professor am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Bonn. Er forschte in zahlreichen Ländern über Konflikte und Frieden und ist in der Politikberatung tätig.

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