Im Fokus: Politische Polarisierung

Klimakrise, Energieengpässe, Inflation: Bedrohen sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Sozialwissenschaftler Jochen Roose im Gespräch.

Eine Demonstration in Leipzig im September 2022 abends gegen die Energie- und Sozialpolitik der Bundesregierung.
Eine Demonstration in Leipzig im September 2022 abends gegen die Energie- und Sozialpolitik der Bundesregierung. © dpa | Jan Woitas/picture alliance

Herr Roose, viele Menschen blicken mit Sorge auf die kommenden Monate, sie befürchten, dass steigende Energie- und Lebensmittelpreise zu sozialen Unruhen führen könnten. Manche Politiker und Politikerinnen warnen sogar vor Volksaufständen. Teilen Sie diese Befürchtungen?

Solche Prozesse lassen sich nicht vorhersagen, weder in die eine noch in die andere Richtung. Sie können eine starke Eigendynamik entwickeln. Darüber hinaus habe ich großes Vertrauen in unseren Sozialstaat, dass der mit so einer Situation…

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Darüber hinaus habe ich großes Vertrauen in unseren Sozialstaat, dass der mit so einer Situation relativ adäquat umgehen kann. Gleichzeitig wird sich nicht jede Unwägbarkeit des Lebens abfedern lassen.

Ukrainekrieg, Klimakrise, Energieengpässe – in Krisenzeiten ist schnell die Rede davon, der soziale Frieden sei in Gefahr und so schlimm wie derzeit sei es noch nie zuvor gewesen.

In der Gegenwart ist die Dimension einer Krise schwer einschätzbar. Krisen erscheinen im Rückblick immer deutlich kleiner und weniger bedeutsam als in der Gegenwart. Andersherum ist es deswegen auch besonders schwierig, aktuelle Entwicklungen einzuordnen und festzustellen, ob wir jetzt wirklich in einer sehr großen Krise leben. Ich kann eben auch nicht sagen: „Na ja, in der Vergangenheit hat sich bei vielen Krisen gezeigt, so schlimm war es nicht, und deshalb gilt das jetzt auch.“

Was ist wichtig, damit eine Krise nicht den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet?

Vertrauen ist eine ganz wichtige Ressource in Krisen, und zwar Vertrauen in alles Mögliche: in seine Mitmenschen, in politische Akteure und Institutionen. Auch die Zivilgesellschaft ist eine enorme Ressource – kurzfristig Hilfe zu mobilisieren, für was auch immer. Bei der Flut im Ahrtal zum Beispiel haben wir gesehen, dass ganz unterschiedliche Hilfen sehr kurzfristig mobilisiert wurden: Katastrophenschutz, Feuerwehr, Bundeswehr, aber auch viele Privatpersonen, die in ihrer Freizeit geholfen haben, eingebunden über alle möglichen Arten von Zivilgesellschaft wie Sportvereine oder Kirchen.

Kann sich eine Gesellschaft auch polarisieren, wenn die Mehrheit ihrer Bevölkerung überhaupt nicht von einer Krise betroffen ist?

Ja. Nicht jede Krise führt zur Polarisierung und nicht jede Polarisierung benötigt eine Krise. Dabei ist auch ein Blick in die USA interessant. Die Abtreibungsfrage hat dort anfangs stark zur Polarisierungsdynamik beigetragen. Das ist natürlich eine hochmoralische Frage, egal in welche Richtung man argumentiert. Aber wenn man betrachtet, wie viele Menschen tatsächlich von dem Thema in ihrer Lebenswelt betroffen sind, ist es letztlich doch eine relativ kleine Gruppe.

Ist die Gesellschaft in Deutschland aktuell stark polarisiert?

Es gibt Ansätze einer politischen Polarisierung, die allerdings nicht so gesellschaftsprägend sind, wie wir das zum Beispiel in den USA sehen. Es sind Menschen, die der Politik tief misstrauen, unzufrieden mit der Demokratie sind und sich aufgrund ihrer politischen Meinung ausgegrenzt fühlen.

Ein wesentlicher Unterschied zu den USA ist, dass wir nicht eine Polarisierung zwischen der einen Hälfte und der anderen Hälfte der Bevölkerung haben. Es gibt in Deutschland eine politische Polarisierung zwischen der AfD mit ihrer Anhängerschaft auf der einen Seite und Grünen und Linken mit ihren Anhängerschaften auf der anderen Seite. Wobei sich die übrigen Parteien auch tendenziell von der Seite der AfD distanzieren und sich durchweg näher am Pol der Grünen sehen.

Ist das ein Problem?

Wichtig ist, zwischen zwei verschiedenen Arten der politischen Polarisierung zu unterscheiden, die nur bedingt etwas miteinander zu tun haben. Auf der einen Seite reden wir von einer inhaltlichen Polarisierung. Das heißt, in politischen Fragen gibt es relativ wenige, die eine Mittelposition vertreten, und relativ viele an den Rändern, also mit besonders konsequenten Positionen, die aber nicht extrem sein müssen. In der Klima- und der Migrationspolitik werden beispielsweise solche konsequenten Randpositionen häufiger vertreten als in der Sozialpolitik.

Zum Beispiel?

16 Prozent meinen, der Klimaschutz solle unbedingt Vorrang haben, auch wenn das auf Kosten des Wirtschaftswachstums geht. Auf der anderen Seite wollen fünf Prozent dem Wirtschaftswachstum unbedingt Vorrang vor Klimaschutz geben. Die übrigen ordnen ihre Einstellung bei dieser Frage zwischen diesen konsequenten Randpositionen ein.

Was ist die zweite Form der Polarisierung?

Die zweite Form ist eine affektive Polarisierung, also die emotionale Ablehnung von Parteien und Menschen, die mit ihnen sympathisieren. So lehnten 2020 beispielsweise von allen, die am nächsten Sonntag die AfD wählen wollten, 72 Prozent die Grünen sehr ab. Andersherum lehnten 95 Prozent der Grünen-Wähler die AfD sehr ab.

Wenn sich inhaltliche politische Positionen unversöhnlich gegenüberstehen, entwickelt sich daraus nicht immer auch eine emotionale Ablehnung?

Das könnte man vermuten, aber das ist keineswegs zwingend. Eine inhaltliche Polarisierung muss nicht zu einer affektiven führen. Nicht jedes polarisierte Meinungsbild muss den gesellschaftlichen Zusammenhalt infrage stellen. Wenn man unterschiedliche Meinungen hat, kann man die miteinander diskutieren, man kann auch inhaltliche Kompromisse finden, selbst bei hochkontroversen Fragen und selbst wenn diese Kompromissposition am Anfang keine Seite vertreten hat.

Die Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland kommt einem solchen Kompromiss schon recht nah. Es gibt Fristen, es ist verboten, wird aber nicht bestraft. Das alles sind Elemente von einem Kompromiss in einer Frage, die erst einmal nicht sonderlich kompromissfähig erscheint.

Gilt denn umgekehrt: Wenn zwei Gruppen emotional polarisiert sind, beruht das darauf, dass sie sich in inhaltlichen Fragen unvereinbar gegenüberstehen?

Einer affektiven Polarisierung muss nicht unbedingt eine inhaltliche Polarisierung zugrunde liegen. Es gibt sogar politische Konstellationen, in denen die Akteure zwar emotional hochpolarisiert sind, aber in inhaltlichen Fragen eigentlich gar nicht so weit auseinanderliegen. Auch hier ist ein Blick in die USA interessant. Die affektive Polarisierung hat in den letzten Jahren in den USA deutlich zugenommen, die inhaltlichen Unterschiede in vielen zentralen Fragen sind dagegen kaum größer geworden.

Ist eine gewisse politische Polarisierung nicht auch wichtig für eine Demokratie? Konsequent seine Meinung zu vertreten muss ja nicht schlecht sein.

Richtig, man kann sogar sagen: Demokratie braucht das. Inhaltliche Unterschiede und damit ja auch eine Auswahl gehören dazu und sind gut für sie. Inhaltliche Polarisierung ist also per se kein Problem für eine Demokratie. Im Gegenteil: Mit unterschiedlichen Positionen, Sichtweisen und Interessen umzugehen und diese friedlich zu verarbeiten ist ja gerade eine Stärke dieser Regierungsform.

Werden konträre Positionen in Diskussionen sogar zu wenig wertgeschätzt und zu schnell als Problem betrachtet?

Es ist gut, sich immer wieder daran zu erinnern, dass es ganz normal ist, dass Menschen unterschiedliche Werte und Interessen haben, weil wir in unterschiedlichen Situationen leben, unterschiedlich geprägt wurden und Unterschiedliches erlebt haben. Sich dieser Pluralität bewusst zu sein und sie als Faktum anerkennen, aber auch als etwas, was das Leben und die Gesellschaft bereichert, damit müssen und damit können wir auch umgehen. Das Problem ist die affektive Polarisierung, wenn sich Teile der Bevölkerung unversöhnlich gegenüberstehen.

Gefährlich für den Zusammenhalt der Gesellschaft wird es also erst, wenn Meinungsunterschiede auch emotional aufgeladen werden – wie in den USA, wo die Situation eskalierte, als im Januar 2021 das Kapitol angegriffen wurde?

Grundsätzlich ist es so, dass die affektive Polarisierung die deutlich größere Brisanz bietet – wahrscheinlich noch stärker, wenn ihr tatsächlich eine inhaltliche Polarisierung in als zentral angesehenen Themen zugrunde liegt. Insbesondere bei Themen, die stark moralisch sind. Wobei natürlich alle möglichen Fragen von einem moralischen Blickpunkt aus betrachtet werden können.

Welche Themen eignen sich denn besonders gut, um eine Gesellschaft zu spalten?

Eine These ist, dass Fragen der Identität eine Polarisierung wahrscheinlicher machen. Ich persönlich bin da aber sehr skeptisch. Mein Eindruck ist, dass es nicht bestimmte Themen gibt, die Polarisierung wahrscheinlicher oder weniger wahrscheinlich machen. Letztlich lässt sich alles identitätsbezogen aufladen, selbst welche Frisur ich habe oder wie ich meinen Kaffee trinke. Dann wird beispielsweise die Latte-Macchiato-Fraktion als Marker benutzt, um sich oder andere abzugrenzen.

Wann kommt es zu einem Kipppunkt, an dem konträre Meinungen zu einer Gefahr für die Demokratie werden?

Ich kann Ihnen nicht sagen, wann ein Prozess einsetzt, der sich nicht mehr bremsen lässt. Es hängt an so vielen Einflussfaktoren gleichzeitig, dass sich dieser Kipppunkt nicht identifizieren lässt. Allerdings ist es so, dass Polarisierung eine sich selbst verstärkende Eigendynamik hat, besonders die affektive. Sie kann auf niedrigem Niveau entstehen, aber wenn sie dann stetig gefüttert wird, kann sie schnell hochschaukeln.

Deswegen stellt sich die Frage relativ früh, ob man in eine Eskalationsspirale gerät, auch wenn es noch harmlos aussieht und man denkt: „Ach, so schlimm ist es nicht.“ Wenn die Eskalationsspirale erst einmal an Fahrt aufgenommen hat, lässt sie sich nicht mehr aufhalten.

Welche Mechanismen treiben eine Polarisierung voran?

Sie wird wahrscheinlicher, wenn neue politische Akteure auf den Plan treten, und besonders dann, wenn populistisch argumentiert wird. Populistisch heißt, es wird unterstellt, es gebe ein homogenes Volk, das als ein wahres, reines Volk gesehen wird, dem korrupte Eliten mit bösen Absichten gegenüberstünden, die es dementsprechend zu bekämpfen gilt. Der populistische Akteur beansprucht für sich, die wahren Interessen des reinen Volkes zu vertreten. Er vertritt also eine stark antipluralistische Vorstellung. Wenn der Akteur dann noch Interesse daran hat, die Eskalationsspirale in Gang zu halten, weil er dadurch seine Anhängerschaft stabilisieren und mobilisieren kann, verstärkt er den Prozess der Polarisierung.

In Ihrer Studie „Politische Polarisierung in Deutschland“ kommen Sie zu dem Ergebnis, dass die breite Mitte der Bevölkerung in Deutschland moderate Ansichten hat und sich weitgehend einig ist.

Bei inhaltlichen Fragen, beispielsweise zu Sozialpolitik, Immigrationspolitik oder Klimaschutz, findet man große Mehrheiten in der Mitte, die viel Vertrauen in Institutionen und in andere Mitmenschen haben. Wir haben eine relativ starke Zivilgesellschaft und gut funktionierende Institutionen. Gleichzeitig haben wir eine Minderheit, die gekennzeichnet ist durch ein hohes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen, Medien, oft auch der Wissenschaft und ihren Mitmenschen. Ob und wie sich diese Situation weiter polarisiert, hängt von so vielen Faktoren ab, dass ich da keine Prognose wage.

Auch in den USA gibt es bei inhaltlichen Fragen eine große Mehrheit für Mittelpositionen. Trotzdem haben wir dort einen Putschversuch erlebt, der das Ergebnis einer sehr starken politischen Polarisierung war.

Auch wenn es also hierzulande einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt, können wir nie sicher sein, dass die Situation nicht auch eskaliert wie in den USA.

Ja, so ist es. Und genau das macht auch die Ambivalenz aus: Sollen wir warnen oder nicht? Es gibt keine richtige Antwort darauf. Ist eine Gesellschaft sensibel für Polarisierungsdynamiken, kann das erheblich dazu beitragen, eine Dynamik abzuschwächen. Wenn man besonders erfolgreich gewarnt hat, hat man im Rückblick das Gefühl, das wäre gar nicht nötig gewesen. Wenn man allerdings nicht ausreichend achtgibt und einer Polarisierungsdynamik freien Lauf lässt, fragt man sich im Rückblick: Warum haben wir nicht früher eingegriffen, als es noch leichter möglich war?

Es stellt sich aber auch die Frage, inwieweit Politiker und Medien, die vor möglichen Protestszenarien warnen, die Probleme erst herbeireden und damit jenen in die Hände spielen, die von der Angst profitieren. Sehen Sie derzeit einen Alarmismus?

Seine Unzufriedenheit durch Protest zu artikulieren ist erst einmal Teil einer Demokratie. Dass darüber derzeit in den Medien diskutiert wird, ergibt sich auch einfach daraus, dass das Thema die Menschen interessiert. Die Spekulation über eine Protestwelle mag diesen Protest wahrscheinlicher machen. Ob das dann Alarmismus ist, mag ich nicht beurteilen. Ich sehe unsere Gesellschaft insgesamt ganz gut gewappnet für das, was kommt. Das heißt nicht, dass es einfach wird. Aber ich denke, unsere Gesellschaft ist relativ stark darin, auch mit schwierigen Situationen umzugehen.

Wie können wir einer demokratiefeindlichen Polarisierung entgegenwirken?

Es ist wichtig, der Eskalationsdynamik zu widerstehen, auch wenn wir Ansichten begegnen, die uns auf die Palme bringen. Das geht nicht immer und es ist auf keinen Fall einfach, denn die Verletzung von moralischen Vorstellungen löst Emotionen aus.

Trotzdem wäre es hilfreich, selbst auch immer wieder zu reflektieren, was der richtige Weg ist, wie ich damit umgehe, wann ich zurückschlage oder wann ich meinen Ärger runterschlucke und versuche zu deeskalieren. Wann ist es richtig, das Gespräch weiterzuführen oder abzubrechen? Gesprächsabbruch ist ein typisches Merkmal der affektiven Polarisierung. Jenseits der Auseinandersetzung ist es wichtig, für Verständnis dafür zu werben, dass wir unterschiedlich sind. Wir haben unterschiedliche Ansichten, und das ist auch nicht schlimm – eigentlich ist es sogar ganz spannend.

Dr. Jochen Roose ist Soziologe mit Schwerpunkt auf empirischer Sozialforschung und Partizipation. Er war Professor an der Universität Breslau und der Freien Universität Berlin. Jetzt arbeitet er in der Wahl- und ­Sozialforschung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2022: Angstfreier leben