Melanie Seeger, wie wir sie hier nennen wollen, hatte sich immer Kinder gewünscht. Aber als sie mit Mitte vierzig überraschend schwanger wird, folgt auf einen kurzen Anflug von Stolz über die eigene Fruchtbarkeit bald Panik. Sie fühlt sich zu alt für ein Kind, ihr Partner mit 46 ebenfalls. Sie fürchten, der Elternschaft körperlich und emotional nicht gewachsen zu sein. Melanies Partner drängt auf einen Abbruch. Er will seine Haltung auch nicht weiter diskutieren. Sie fühlt sich alleingelassen. Ständig ist…
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Ständig ist ihr nun übel von der beginnenden Schwangerschaft. Alleinerziehend zu sein traut sie sich nicht zu. Zu oft musste sie erleben, wie Frauen nach dem Mutterschutz im Beruf „auf dem Abstellgleis landeten“. Bei der Schwangerschaftskonfliktberatung hört ihr die Mitarbeiterin ruhig zu, wendet aber kaum etwas ein. Seeger fühlt sich in einer „Schockstarre“. Sie kann nicht mehr klar und vor allem weiträumig denken. Als sie in der neunten Schwangerschaftswoche zum Abtreibungstermin geht, zeigt ihr der Frauenarzt noch einmal den Fötus auf dem Ultraschallbild. Seeger hält diesen Moment kaum aus. Nur nichts denken, nichts fühlen, sagt sie sich. Dann setzt die Narkose ein.
2017 brachen in Deutschland 101 200 Frauen eine Schwangerschaft ab. Bis heute ist das Thema ein gesellschaftliches Tabu. Wer sich gegen das Austragen eines Kindes entschieden hat, schweigt darüber meist zeitlebens oder vertraut sich allenfalls sehr wenigen Menschen an. Vielleicht trägt auch dieses Schweigen zu der verbreiteten Annahme bei, von einer solchen schweren Entscheidung müsse eine Frau zwangsläufig seelische Verletzungen davontragen. „Viele – sogar manche Politiker – denken, etwas bleibt“, sagt Antonia Biggs, eine Reproduktionsforscherin an der University of California in San Francisco, die zum Thema Schwangerschaftsabbruch forscht.
Frauen schweigen aus Angst vor Abwertungen
Welche seelischen Auswirkungen eine Abtreibung hat, fragten Forscher allerdings schon viele Male in verschiedenen Studien ab. Das Ergebnis: Ein Schwangerschaftsabbruch ist zwar für viele eine einschneidende Lebenserfahrung, aber nur sehr wenige Frauen zerbrechen daran seelisch. Belastend ist jedoch für sehr viele die Stigmatisierung. Daher verheimlichen sie den Abort.
Eine genaue Analyse nahm zuletzt Antonia Biggs vor. Die Forscherin interviewte 863 Frauen über vier Jahre lang alle sechs Monate. Etliche von ihnen, rund zwei Drittel, hatten ihre Schwangerschaft abgebrochen. Das übrige Drittel wollte dies tun, durfte es aber in den Vereinigten Staaten aus rechtlichen Gründen nicht – etwa wegen des fortgeschrittenen Stadiums der Schwangerschaft. „Die Wahl der geeigneten Kontrollgruppe, nämlich Frauen, die ungewollt schwanger sind und das Kind trotzdem austragen, ist ganz entscheidend“, sagt Biggs. „Es reicht nicht, Frauen mit einem Schwangerschaftsabbruch mit der Normalbevölkerung zu vergleichen.“
Biggs’ Ergebnisse zeigen, dass die konfliktbeladene Entscheidung durchaus akute seelische Spuren bei vielen Frauen hinterließ: Eine Woche nach dem Abbruch oder nach dem abgelehnten Abort hatte mehr als jede dritte Frau mindestens ein Symptom – aber meist nicht das Vollbild – einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sie gaben beispielsweise an, dass ihr Selbstwertgefühl erschüttert sei. Sie waren unzufrieden mit dem Leben, hatten Angst oder fühlten sich gestresst. „Diese Belastungsreaktion war aber bei Frauen mit Abbruch nicht ausgeprägter oder häufiger als bei den anderen.“
Und als Biggs die Frauen fragte, worauf sie ihre seelisch angeschlagene Verfassung zurückführten, gab jede dritte die prekären Lebensumstände an: Gewalt und Stress zu Hause, Kriminalität und Missbrauch. Doch es gab auch 64 Frauen, die ihren Gemütszustand mit der Schwangerschaft erklärten. Für 19 der 863 Befragten war dabei der Abbruch selbst die Bürde. Die übrigen haderten eher mit der ungewollten Schwangerschaft davor. Vor allem aber belasteten sie die Reaktionen des Umfelds.
Je mehr Zeit zwischen dem Schwangerschaftsabbruch und den Befragungen verstrich, desto mehr hellte sich die Stimmung der Befragten allerdings auf. Nach vier Jahren führte nur noch ein Prozent der Frauen die momentane Belastung auf die ungewollte Schwangerschaft zurück. „Die Frauen sind auch nicht gefährdeter als andere, eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln“, ergänzt Biggs. Die Rate für Depressionen ist ebenfalls nicht erhöht, erbrachte eine weitere Untersuchung anderer Forscher, die 2017 erschien. Ängstlicher seien sogar zunächst jene Frauen, denen ein Abbruch verweigert worden war.
Es sind nicht die einzigen Studien, sondern nur zwei unter mehreren Dutzend, die alle in diese Richtung weisen. „In der Wissenschaft sind wir uns seit einiger Zeit einig: Ein Schwangerschaftsabbruch macht nicht seelisch krank. Das ist sehr gut belegt“, fasst Biggs zusammen.
Widersprüchliche Emotionen
Dass die Frauen auf lange Sicht gut im Leben zurechtkommen, bedeutet aber nicht, dass der Abbruch kein Einschnitt ist: Die Betroffenen leiden und trauern üblicherweise, mitunter erheblich. „Oft sind sie schon gestresst, aufgewühlt und erschüttert, nachdem sie erfahren haben, dass sie ungewollt schwanger sind“, schildert die Psychologin Frauke Petras, Beraterin bei pro familia in Berlin.
„Die Frauen gehen im Geiste alle Szenarien durch und wägen ab“, führt Anne Achtenhagen, Psychologin bei der Konfliktberatungsorganisation donum vitae aus. „Wenn etwa der Arbeitsvertrag gerade unterschrieben ist, bedeutet die Geburt eines Kindes unter Umständen eine existenzielle Gefährdung, ein Zunichtemachen der Zukunftspläne und eine Erschütterung der Identität.“ Es sind oft berufliche Gründe, die Frauen dazu bringen, sich für einen Abbruch zu entscheiden. Noch häufiger befinden sich die Betroffenen in instabilen Partnerschaften und möchten deshalb kein Kind. Auch mangelnde finanzielle Mittel spielen eine Rolle.
Das häufigste Gefühl unmittelbar nach dem Abbruch ist Erleichterung, stellte die Gynäkologin Corinne Rocca von der University of California in einer Befragung von 667 Frauen fest. In das positive Gefühl mischen sich jedoch nach und nach auch negative Empfindungen: Trauer über den Verlust des Kindes und manchmal Bedauern und Wut über die eigene Lebenslage, die eine Mutterschaft als nicht zu bewältigen erscheinen lässt. „Es gibt kaum eine Frau, die nicht diese widersprüchlichen Emotionen nach einer Abtreibung erfährt“, sagt Petras.
Über einen Zeitraum von drei Jahren verblassen die Emotionen allerdings. Und: 99 Prozent der Frauen halten ihre Entscheidung auch dann noch für richtig, ermittelte Rocca. Ein sehr kleiner Teil, eine unter hundert, bedauert jedoch, das Baby nicht zur Welt gebracht zu haben. Diese Frauen leiden.
Wenn Frauen den Entschluss bereuen
Als Melanie Seeger nach dem Abbruch nach Hause geht, fällt ihr blitzartig ein Name für das Kind ein. Warum nicht früher, fragt sie sich. Der Gedanke gibt ihr einen Stich, und sie empfindet die Entscheidung gegen das Baby zunehmend als falsch. Sie hätte es vielleicht doch geschafft, alleinerziehend zu sein. Sie habe sich zu sehr von ihrem Freund bedrängen lassen, sagt sie heute.
Sie entwickelt eine Depression, leidet unter Panikattacken und wird schließlich in eine Klinik aufgenommen. Als Auslöser sieht sie den Schwangerschaftsabbruch an. Obwohl sie heute, fünf Jahre nach dem Entschluss, den sie rückblickend als Fehlentscheidung wertet, wieder gesund ist und arbeiten kann, trauert sie noch immer. „An den Jahrestagen des Abbruchs trage ich Schwarz. Am errechneten Geburtstermin kaufe ich Blumen und ein kleines Geburtstagsgeschenk und spreche mit meinem Kind, so als wäre es da und wir würden Geburtstag feiern.“
Seeger gehört zu jener kleinen Gruppe von Frauen, die sich im Nachhinein für den Schwangerschaftsabbruch verurteilen und die – noch seltener – sogar seelisch krank werden. Besonders gefährdet sind Frauen, die ein Wunschkind erwarteten, aber aufgrund einer schweren Erkrankung des Fötus diesen abtreiben lassen, konnte Rocca in ihren Befragungen zeigen. Oft ist das Baby dann so weit entwickelt, dass nicht Tabletten oder eine Absaugung die Schwangerschaft beenden können. Bei dem dann erforderlichen Fetozid spritzt ein Arzt dem Baby ein Medikament ins Herz, das den Herzstillstand einleitet. Dann muss die Frau das Kind auf natürlichem Weg gebären. Diese Prozedur ist eine extreme seelische wie körperliche Grenzerfahrung, die niemand je vergessen kann.
Sie ist nicht mit einem medikamentösen oder operativen Abbruch in der Frühschwangerschaft zu vergleichen, den beiden gängigen Methoden. 61 Prozent der Frauen wählten 2016 hierzulande die operative Methode, nur 21 Prozent entschieden sich für eine medikamentöse Abtreibung – obwohl Frauen vor einer OP mehr Angst haben, wie der Reproduktionsmediziner Heribert Kentenich berichtet. Er hat 219 Frauen dazu befragt. Nach dem Abbruch verursachen die Medikamente aber stärkere Nebenwirkungen, vor allem über Wochen schmerzhafte Blutungen. Auf den Verarbeitungsprozess wirkte sich das allerdings nicht nennenswert aus – einige Forscher hatten gemutmaßt, die Abtreibungspille könnte psychisch strapaziöser sein, weil die Frau zur Handelnden wird, indem sie die Substanz schluckt.
In einigen Studien wurde auch erfragt, wie es sich auswirkt, wenn die Frau das Baby vor der Abtreibung noch einmal in einer Ultraschallaufnahme sieht. Seeger erlebte dies als besonders schrecklich. Der Arzt hatte ihr keine Wahl gelassen. Die meisten Frauen wollen den Fötus vor dem Eingriff nicht mehr anschauen. Jene, die sich dafür entschieden, verfolgte das Bild bisweilen in Albträumen und Flashbacks. Die Gynäkologin Kristina Gemzell Danielsson vom Karolinska-Institut in Stockholm ist jedoch der Auffassung, dass die Frauen damit eine Möglichkeit wahrnahmen, sich zu verabschieden. Langfristig könnten die Frauen den Eingriff damit besser in ihr Leben integrieren, schrieb die Ärztin 2014 in einem Fachartikel.
Eine andere Gruppe, die später oft mit einer Abtreibung hadert, sind Frauen, die sich wie Seeger vom Partner dazu überreden lassen, berichtet Petras. Bei minderjährigen Mädchen übernehmen Eltern oft diesen Part. Wenn die so Bedrängten sich insgeheim ein Kind wünschten, kommen später Gewissensbisse: Hätte ich es vielleicht doch allein geschafft – und wie wäre mein Kind geworden?
Gefährdung oder Panikmache?
Es gibt noch eine weitere Gruppe, die Gefahr läuft, den Abbruch später als Fehler anzusehen. Die Gesundheitswissenschaftlerin Inger Wallin Lundell von der schwedischen Linköpings Universitet ermittelte in einer Studie mit 1514 Frauen, dass jene besonders gefährdet sind, die schon vorher ausgeprägt ängstlich oder depressiv waren. Seelisch labile Frauen laufen dreimal so häufig Gefahr, den Einschnitt nicht zu bewältigen. „Dann ist der Abbruch wie ein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“, bestätigt Achtenhagen aus ihrer Beratungserfahrung.
Diese psychisch gefährdeten Frauen müssten im Schwangerschaftskonflikt besonders fürsorglich beraten werden, fordert Wallin Lundell. Sollten sie eine Abtreibung wünschen, könnte ihnen auch eine Nachsorge helfen. Aktuell passiert das nicht. Notleidende können allerdings in Deutschland aus freien Stücken eine Beratung in Anspruch nehmen. Einige, die danach Hilfe suchten, hat Achtenhagen schon betreut. „Wenn eine Frau den Abbruch im Nachhinein als falsch empfindet, sage ich zunächst immer: ‚Seien Sie vorsichtig mit sich. Sie waren damals in einer anderen Situation als heute und haben anders empfunden, aber Sie hatten sicher auch Ihre Gründe, zu dieser Entscheidung zu gelangen.‘“ Gemeinsam mit den Frauen arbeitet sie heraus, in welchen Punkten sie sich verurteilen, und versucht sie zu ertüchtigen, sich selbst zu verzeihen.
Dass es einzelne Frauen gibt, die die Abtreibung später bereuen und darunter leiden, hat den Lebensrechtsaktivisten Vincent Rue und die Psychologin Anne Speckhard aus den USA schon in den 1990er Jahren veranlasst, ein neuartiges Krankheitsbild, das „Post-Abortion-Syndrom“ auszurufen. Sie stellten es mit ausgewählten Fallbeispielen der Öffentlichkeit vor. Bis heute hält es sich hartnäckig im Internet und wird von Abtreibungsgegnern ins Feld geführt. Die Botschaft lautet: Wer abtreibt, wird psychisch krank.
Die Fachgesellschaften in Europa und den USA weisen diese These im Kleid der Wissenschaftlichkeit durchweg scharf zurück. Es gebe dafür keinerlei Belege, und die Diskussion sei Panikmache, sagt etwa die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Das „Post-Abortion-Syndrom“ ist international nicht als Krankheit anerkannt.
Das verinnerlichte Stigma
Hingegen ist die psychische Belastung durch Stigmatisierung bisher kaum untersucht. Erst in jüngster Zeit richten Forscher ihr Augenmerk darauf: Wie gut eine Frau, eine Abtreibung verkraftet hängt nämlich auch von ihrem Umfeld ab. „Freunde und Angehörige, denen sie sich anvertrauen kann, helfen, ein gravierendes Lebensereignis zu verarbeiten“, beobachtet Gemzell Danielsson. Das Problem ist aber, dass viele Frauen schweigen. Denn Schwangerschaftsabbrüche sind in allen Gesellschaften tabuisiert und werden mehr oder minder verachtet. In Internetforen wie urbia.de und profemina.org hierzulande sind Frauen nach einer Abtreibung regelmäßig üblen Beschimpfungen ausgesetzt, wenn sie sich anonym outen. Demzufolge kontrollieren viele Forenbetreiber die Posts vor der Veröffentlichung.
Der Psychologe Franz Hanschmidt an der Universität Leipzig ist der erste Wissenschaftler in Deutschland, der sich diesem Thema zuwendet. Im Jahr 2016 brachte er eine Übersichtsarbeit heraus, in der er 14 Studien zur Stigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in verschiedenen Ländern auswertete. Demnach ist die Abwertung von Frauen nach einem Abbruch allgegenwärtig. Allerdings untersuchten die Studien in der Regel keine konkreten Verurteilungen durch Mitmenschen. Diese sind selten, weil die allermeisten Frauen ihren Abbruch geheim halten. Vielmehr erkundigten sich die Forscher nach der Sorge der Frauen vor übler Nachrede und einem schlechten Ansehen. Sie fragten auch danach, ob die Frauen sich selbst abwerteten, sofern sie die Abtreibung als verwerflich ansahen. Psychologen sprechen hierbei von „internalisierter Stigmatisierung“: Die Betroffene brandmarkt sich selbst, weil sie nach ihren eigenen Maßstäben eine unethische Handlung vollzogen hat.
Heraus aus der Anonymität
Stigmatisierung führe „zu einer Kultur der Scham und des Schweigens“, berichtet Hanschmidt. „Die Frauen sind auch viele Jahre nach dem Abbruch in einem Bedrohungszustand, weil sie um ihr Ansehen fürchten, wenn der Abbruch bekannt würde. Sie müssen ihn verheimlichen und ihre Energie darauf verwenden.“ Das Schweigen ist fatal, denn ein Austausch mit anderen ist ein wichtiger Mechanismus, um tiefgreifende Ereignisse hinter sich zu lassen. So begeben sich die Frauen mit der Erfahrung der Abtreibung in die Isolation. Das befördert das Grübeln und „kann zu Symptomen von Angst und Depressivität beitragen – bei den allermeisten Frauen nicht so, dass sie krank werden, aber durchaus bei einigen in belastender Weise“, berichtet Hanschmidt. Die Stigmatisierung ist wahrscheinlich das größte Risiko für eine seelische Bürde nach einem Abbruch.
Der Psychologe konnte auch belegen, dass eine restriktive Gesetzgebung mit mehr Abwertung einhergeht. Denselben Effekt hat eine ausgeprägte Glaubenskultur, jedoch nur dann, wenn die Religion die Abtreibung moralisch verurteilt. Für die katholische Kirche ist sie selbst zu einem sehr frühen Zeitpunkt tabu. Für das Judentum hingegen beginnt Leben erst 40 Tage nach der Zeugung, und laut Islam kommt die Seele in den 120 Tage alten Embryo.
Abtreibungen aus sozialen Gründen werden nicht akzeptiert
Die „Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ fragt in regelmäßigen Abständen unter anderem nach den Einstellungen der Bevölkerung zum Schwangerschaftsabbruch. Daraus geht hervor, dass die Beendigung noch am ehesten Frauen zugestanden wird, die vergewaltigt wurden oder medizinische Gründe vorbringen können. Dagegen finden fast 60 Prozent, dass es einer Frau verboten werden solle, aus Angst vor einer Situation als Alleinerziehende abzutreiben. Dabei belegt die Studie frauen leben 3 der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, dass eine schwierige Partnerschaft derzeit der Hauptgrund für die Beendigung von Schwangerschaften ist. „Es gibt ein verbreitetes gesellschaftliches Unbehagen in Deutschland über Schwangerschaftsabbrüche, besonders über jene aus sozialen Gründen. Das bedingt Stigmatisierung“, analysiert Hanschmidt.
In den USA formiert sich Widerstand gegen die Ausgrenzung der betroffenen Frauen. Die 1 in 3-Kampagne ruft öffentlich und über soziale Medien Frauen auf, die eigene Erfahrung mit einem Abbruch zu schildern. Sie hat mittlerweile 30 000 Facebook-Abonnenten. Doch wie sehr sich Frauen auch in Deutschland noch scheuen, über ihre Abtreibung zu reden, wurde bei der Recherche zu diesem Beitrag deutlich: Trotz Monaten der Suche über Internetforen, die Beratungsorganisationen pro familia und donum vitae sowie über private Kontakte und trotz Zusage der Anonymität meldete sich nur eine mutige Frau: Melanie Seeger. Hanschmidt fordert: „Wir brauchen mehr Raum für die individuellen Geschichten der Frauen. Es gibt nicht die Abtreibung. Jede Erfahrung, jede Motivlage ist in ihren Nuancen anders.“
Abtreibung trotz „Pille danach“
Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche ist seit 2015 wieder gestiegen. Die Rezeptfreiheit der „Pille danach“ ist laut dem Berufsverband der Frauenärzte indirekt dafür verantwortlich. Dies ist eine Notfallverhütung, kein Medikament zum Abbruch. Aber: Sie wird oft falsch angewandt, so dass es folglich mehr ungewollte Schwangerschaften und deshalb wiederum mehr Abbrüche gibt. Die Notfallverhütung bewirkt nämlich bei bereits bestehender Schwangerschaft nichts mehr. Es ist also fatal, wenn sie nur einige Stunden zu spät eingenommen wird. Auch muss nach der Anwendung der Notfallverhütung für den Rest des Zyklus unbedingt ein Kondom verwendet werden, da hormonelle Methoden generell nicht mehr funktionieren. Bei Frauen mit höherem Gewicht ist die Notfallverhütung weniger wirksam. Die Kundinnen in all diesen Punkten sorgsam aufzuklären, gelinge den Apothekern nicht immer, beklagt der Berufsverband der Frauenärzte.
Zum Weiterlesen
Die australische Sozialforscherin Erica Millar identifiziert in ihrem neuen Buch Happy Abortions (Wagenbach 2018) ein fatales „emotionales Skript“ in unserer Kultur, das besagt: „Frauen dürfen abtreiben, solange sie sich deshalb ‚richtig, richtig schlecht‘ fühlen.“