Frau Grassinger, wir stehen kurz vor einer Bundestagswahl. Nutzen die Politiker der etablierten Parteien Ihrer Meinung nach eine falsche Sprache?
Ja, weil sie sich noch immer zu sehr auf die Frames der Rechtspopulisten beziehen und zu wenig über die eigenen Werte und ihre Weltsicht sprechen.
Die Frames? Was ist das?
Frames sind sprachliche und kognitive Deutungsrahmen, die wir nutzen, um Informationen zu verstehen. Sie sind eine Art Filter, über die wir Informationen Bedeutung beimessen. Je nachdem, welchen…
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zu verstehen. Sie sind eine Art Filter, über die wir Informationen Bedeutung beimessen. Je nachdem, welchen Frame ich verwende, kann ein und dieselbe Information unterschiedlich erscheinen. Es gibt beispielsweise ein beliebtes Fotomotiv in den sozialen Medien. Da werden die eigenen nackten Beine am Strand fotografiert und gepostet. Das sind natürlich Beine. Aber wenn ich Sie frage, sind das Beine oder Hotdogs, dann fangen Sie an zu überlegen – Beine sehen dann wie Hotdogs aus. Und so habe ich einen neuen Frame eingeführt, der Sie plötzlich ein Bild anders sehen lässt. Immer wenn jemand ein Wort sagt oder schreibt, kann er im Kopf des Zuhörers bestimmte Frames aktivieren – und somit unbewusste Schlussfolgerungen anregen, die sich auf das Verhalten der Menschen auswirken.
Was passiert, wenn Rechtspopulisten beispielsweise Begriffe wie Flüchtlingstsunami, Flüchtlingswelle oder Flüchtlingskrise in die politische Arena werfen?
Das erklärt ein relativ neuer Forschungsansatz, die kognitive Linguistik. Sie betrachtet Sprache nicht als reines Ornament unseres Geistes, sondern als fundamental für unser Denken und Verhalten. Das heißt: Worte sind immer in irgendeiner Art körperlich und erfahrungsbasiert verankert und mit Bedeutung aufgeladen. Der Tsunami zum Beispiel, das ist das körperlich abgespeicherte Gefühl einer riesigen Welle, die uns von außen überkommt, die uns für eine Zeit die Kontrolle nimmt und uns bedroht. Das ist der Frame, den die Rechtspopulisten im Zusammenhang mit Flüchtenden bedienen.
Sie benutzen den Ausdruck Flüchtende statt Flüchtling. Warum?
Weil im Deutschen der Anhang -ling schwierig ist. Das erinnert an Eindringling, Fiesling. Viele negative Begriffe im Deutschen tragen am Ende ein -ling. Selbst der Schönling. Deshalb nutze ich den Begriff Flüchtling nicht.
Gibt es konkrete Studien, die zeigen, wie man das metaphorische Denken mit Worten beeinflussen kann?
Inzwischen gibt es einige. US-Forscher haben Teilnehmer Texte lesen lassen, in denen metaphorische Begriffe wie Alter oder Pension vorkamen. Und die andere Hälfte der Teilnehmer hat einen Text gelesen, in dem es um Jugend, Beweglichkeit und Flexibilität ging. Dann wurde gesagt, das Experiment sei vorbei und die Teilnehmer sollten zum Aufzug gehen. Und dann wurde gemessen, wie lange sie dafür brauchten. Die, die sich sprachlich mit dem Alter beschäftigt hatten, waren langsamer als die anderen. In diesem Falle haben die Wissenschaftler einen Frame mit allen seinen Verhaltenskomponenten bewusst durch ihre Wortwahl aktiviert.
Aber wirken Frames auch auf die Bewertung politisch-gesellschaftlicher Fragen?
Der kognitiven Linguistik zufolge eindeutig. In einer Untersuchung hat eine Hälfte der Studienteilnehmer einen Text über eine fiktive Stadt gelesen, in der die Verbrechensrate gestiegen war. Die andere Hälfte der Teilnehmer hat genau die gleichen Informationen bekommen. In der ersten Gruppe aber wurde das Verbrechen metaphorisch als wildes Tier beschrieben und in der anderen Gruppe als Virus, das die Stadt befallen hatte. Es wurden also unterschiedliche Frames gesetzt. Das hat die Haltungen der Teilnehmer zu Kriminalität beeinflusst. Diejenigen, die den Wildes-Tier-Frame erhalten hatten, forderten sehr viel striktere Gefängnisstrafen, während die anderen sich dafür aussprachen, Kriminelle wieder viel früher in die Gesellschaft zu integrieren, zu rehabilitieren – ein Virus ist eben etwas, wofür wir nichts können. Da gibt es keine böse Absicht dahinter. Dann wurde gefragt, warum haben Sie sich so entschieden, und da hat keiner gesagt: weil Verbrechen als Virus bezeichnet wurde.
Die Rechtspopulisten scheinen diese Lektionen prima begriffen zu haben, oder?
Die sind exzellente Experten darin. Marine Le Pen zum Beispiel macht das in ihren Reden genial. Sie spricht beispielsweise ausführlich darüber, dass Solidarität etwas ist, woran man gemeinsam arbeiten muss. Dass Solidarität ein gemeinsames Gefühl ist. Eine Rede, von der man denken könnte, das hätte auch ein progressiver Politiker so sagen können. Erst am Ende, in den letzten drei Sätzen, führt sie den Frame ein, dass der natürlichste Rahmen für eine Familie, die wir ja irgendwie als Gesellschaft sind, die Nation ist. Und dass alles, was sich von außen in diese Familie einschleicht, ein Eindringen darstellt. So schafft sie es, eine Idee einzuführen, die die Zuhörer in ein rechtes Spektrum bewegt, indem sie Solidarität mit Protektionismus verknüpft. Sie schafft es im ersten Teil, mit einer Weltsicht so zu überzeugen, dass man den letzten drei Sätzen wie von selbst zustimmt.
Da wird ja auch viel mit Werten gespielt. Was hat Sprache im politischen Kontext mit unseren Werten zu tun?
Die Frames, die wir im Kopf haben, sind wesentlich von unserer Sicht auf die Welt geprägt und mit ihnen verbunden. Diese Werte wiederum werden beeinflusst von den sozialen, kulturellen und emotionalen Erfahrungen, die wir vom ersten Tag unseres Lebens an machen. Ein Beispiel: Eine abstrakte Idee wie „Steuer“ wird nur spürbar, wenn man sie mit der eigenen ideologischen Sicht unterlegt – zum Beispiel indem wir sie als Steuerlast beschreiben. Beschreibt man sie aber als Steuerbeitrag, vermittelt sich sofort eine ganz andere Werthaltung. Unser Gehirn baut dabei eine neuronale Verbindung zwischen den zwei Konzepten auf, die stärker wird, je häufiger wir diese Kombination – Steuerlast oder eben Steuerbeitrag – hören und erfahren. Sie sehen, wie Frames die wertebasierte Sicht eines Menschen prägen, aber auch, wie sie die Weltsicht verändern können.
Was sind vor diesem Hintergrund gängige Frames, auf die Rechtspopulisten abzielen?
Wir haben die Frames verschiedener europäischer Parteien ausgewertet. Ihnen liegen Werte wie Geschlossenheit, Strenge, Tradition, Familie, Demokratie, Reinheit, Integrität, Voraussicht, Aufrichtigkeit und Autorität zugrunde. Der Frame des „verlorenen Paradieses“ etwa zielt auf Werte der Tradition und Integrität ab. Die Populisten aktivieren ihn, indem sie vom Verlust einer stabilen und zuversichtlichen Nation sprechen, die von einer Elite, vor allem der Europäischen Union, korrumpiert wurde, die den Kontakt zum Volk verloren hat. Sie wenden diesen Frame für etliche soziale Herausforderungen an: Kriminalität, Einwanderung, antisoziales Verhalten, Menschenrechte für Minderheiten und so weiter. Ein anderer, auch bei der AfD beliebter Frame ist Ordnung versus Chaos: Eigentlich liegt alles in Scherben, und wir müssen die Ordnung wiederherstellen, die die Dinge wieder kontrollierbar macht.
Infiltriert die Sprache der Rechtspopulisten vor diesem Hintergrund bereits unsere Alltagssprache?
O ja. Es ist erstaunlich, wie sich ihre Worte in unsere Sprache eingeschlichen haben. Man findet sie in Zeitungen, man findet sie jetzt in Reden von Politikern. Das heißt, er hat sich etwas dahingehend verschoben, dass teilweise dramatisch wirkende Worte durch diesen Gebrauch plötzlich attraktiv erscheinen. Aber selbst Metaphern wie „Abschiebung“ von Flüchtlingen oder das Wort Flüchtling stoßen uns inzwischen überhaupt nicht mehr auf, weil sie uns umgeben. Weil Sprache eben fundamental mit Denken und Fühlen verbunden ist, kann man den Bogen weiterspannen: Diese Worte beeinflussen, wie wir über Flüchtende denken, wie wir über Migration denken, welche Bedürfnisse das bei uns auslöst, nach Sicherheit, nach Abschottung. Eine Welle von Flüchtenden löst ja auch automatisch bei uns die Vorstellung aus, man könne sie nur mit dichten Grenzen verhindern. Und diese Diskussion um Mauern und Zäune ist ja ganz real.
Warum scheint es so kinderleicht zu sein, die Sprache der Rechtspopulisten in das eigene Reden zu übernehmen?
Weil es einfacher ist, sich auf die Sprache der Rechtspopulisten zu beziehen, sie etwa zu verneinen, anstatt unsere eigene Weltsicht zu reflektieren. Wir haben gelernt, Bezug zu nehmen. Das heißt: Wenn ein Populist das Wort Verbrechen in den Mund nimmt, sagen wir im Impuls: Nein, das ist kein Verbrechen. Schon sind wir in die Falle getappt.
Was können wir gegen die Sprache der Rechtspopulisten tun? Sie mit ihren eigenen Mitteln schlagen?
Ja. Das Erste: Wir sollten damit aufhören, uns auf die rechtspopulistischen Frames zu beziehen. Das heißt auch, dass man sie nicht verneinen sollte. Also zum Beispiel: „Migranten nehmen unsere Jobs weg“ – dadurch wird ein Frame aktiviert, der Migranten als Diebe versteht. Wir sollten aufhören zu sagen: „Migranten nehmen uns nicht die Jobs weg.“ Denn was dadurch passiert: Ich benutze die Worte „Migrant“ und „Jobs wegnehmen“, und schon habe ich einen Frame betont und aktiviert, den ich eigentlich vermeiden wollte. Das heißt: Wenn wir kommunizieren, ist es erstmals wichtig, zu reflektieren und zu identifizieren, was eigentlich unsere Sicht auf die Dinge ist. Warum ist uns dieses oder jenes Argument wichtig? Nur so kann man es schaffen, sich nicht auf diesen Frame zu beziehen. Und nur so können wir ihn so verschieben, dass wir unsere eigene Weltsicht in einer Weise kommunizieren, die uns naheliegt und bewegend ist für die Zuhörenden. Im konkreten Fall könnte das etwa lauten: „Wir alle möchten ein Teil dieser Gesellschaft sein. Neuankommende schaffen als Teil unserer Gesellschaft neue Arbeitsplätze und tragen zu unserem Wohlstand bei.“
In der schriftlichen Kommunikation erscheint mir das recht einfach, aber was mache ich in einem hitzigen Gespräch, in dem ich intuitiv reagiere? Muss ich mir da ein ganz neues Verhalten antrainieren?
Ja. Das ist auch sehr schwierig. Wir halten Workshops mit verschiedenen Entscheidungsträgern ab, um neue Formen der Sprache zu finden. Und das bedarf ganz detaillierter Vorbereitung und vor allem Einübung. Es verlangt eine enorme Sensitivität gegenüber der eigenen Sprache, um den Autopiloten abzuschalten und innezuhalten. Das kann bedeuten, eine Frage einzuführen, die erst mal nichts mit dem Frame zu tun hat, den das Gegenüber verwendet hat. Letztendlich: Man muss das üben! Und man muss sich sehr gut überlegen, was Konzepte wie Gerechtigkeit für uns bedeuten. Warum ist uns eine gerechte Gesellschaft wichtig? Und wenn man beginnt zu reflektieren, dann überträgt sich das auch leichter in das verbale Kommunizieren. Aber es braucht Zeit.
Das heißt, man muss sich der Haltung, die man hat, sehr bewusst sein. Und man muss sich überlegen, wie man diese Haltung an den Mann und an die Frau bringt?
Wenn Sie sich Ihrer Haltung bewusst sind, folgt die richtige Sprache oft automatisch. Wenn ich mit Entscheidungsträgern arbeite, dann geht es mir nicht so sehr darum, ihnen eine bestehende Sprache vorzugeben, sondern tatsächlich Zeit darauf zu verwenden, was sich richtig anfühlt. Und wenn sich etwas richtig anfühlt, redet man automatisch nicht über Flüchtlingswellen.
Dazu muss man aber dieses Wissen über Frames und kognitive Linguistik haben, so wie die Rechtspopulisten.
Jedenfalls im Kern. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, wie Sprache unsere Gedanken- und Gefühlswelt beeinflusst. Das ist enorm wichtig. Und der nächste Schritt ist dann, die eigenen Weltansichten zu definieren und sie sprachlich umzusetzen. Da ist es hilfreich, an ganz konkreten Sprachbeispielen zu arbeiten, um hilfreiche Frames zu finden und weniger hilfreiche zu vermeiden.
Was bedeutet es zum Beispiel, wenn man über Dinge reden will wie Familie und Tradition, die ja gerade vielen Menschen wichtig sind, die eine liberale, progressive und offene Gesellschaft eher misstrauisch betrachten? Vordergründig sind das ja sehr konservative Werte, die Rechtspopulisten gern vereinnahmen.
Offenheit an sich ist ja schon mal ein Wert. Wenn man den durch verschiedene Frames betrachtet, kann man Offenheit auch im Zusammenhang mit Tradition sehen. Dann könnte man überlegen, inwiefern Offenheit in unserer Gesellschaft eine Tradition ist. Inwiefern man sich beziehen könnte auf die geschichtliche Offenheit. Man könnte darauf anspielen, dass wir als Europäer seit der Gründung der EU eine offene Gesellschaft waren – offen für neue Erfahrungen, neue Kulturen, für Austausch. Man kann sich überlegen, wie man durch die Perspektive der Tradition Offenheit verstehen könnte. Bei der Familie würde man überlegen: Inwiefern ist die Gesellschaft eine Art Familie, und was würde das bedeuten? Nämlich dass wir füreinander einstehen, dass wir uns gegenseitig unterstützen, dass wir uns umeinander kümmern. Das bedeutet aber auch, dass wir uns streiten, dass wir uns auseinandersetzen. Und so könnte man überlegen, Offenheit in einer Gesellschaft zu verankern, die eigentlich eine Art Familie ist. Und das könnte man so konkret in Worte umwandeln.
Entscheiden Programme oder die richtige Sprachwahl über den Ausgang der Bundestagswahl?
Beides natürlich. Programme mit Fakten sind sehr wichtig. Fakten bringen aber nur etwas in einem guten Rahmen, in dem sie wahrgenommen werden. Nehmen wir mal ein klassisches Plakat der SPD. Da gibt es dann Martin Schulz zu sehen, er lächelt. Und es steht womöglich Gerechtigkeit darauf. Eigentlich aber sollte darauf ersichtlich sein, was die SPD unter einer gerechten Gesellschaft versteht. Was für eine Gesellschaft wäre aus Sicht der SPD eine gute Gesellschaft? Und man sollte sich dann überlegen, wie man das kommuniziert. Einige Politiker machen das sehr gut – etwa Emmanuel Macron in Frankreich. Aber wenn man sich Talkshows anschaut, da sieht man eben schon, dass wir noch viel zu starr in der Sprache der Rechtspopulisten verharren, anstatt ideenreicher mit ihr umzugehen.
Hinweis: In unserer vierteiligen Serie zur Bundestagswahl 2017 sind bisher erschienen:Heft 07/2017: „Noch immer autoritär“. Die Aktualität von Adornos Thesen zum „autoritären Charakter“. Heft 08/2017: „Wähler entscheiden gegen ihre eigenen Interessen“.
Ulrike Grassinger ist Sozialpsychologin und systemische Beraterin. Sie hat sich intensiv mit den Themen Sprache, Framing und Metaphern beschäftigt. Derzeit arbeitet sie in London für eine Forschungsgesellschaft, die sich mit sozialen und kulturellen Entwicklungen befasst, und berät Unternehmen, Politiker und NGOs.