Tanzen – aus Freude und aus Trauer

​Tanzen hilft uns, Lebensübergänge zu meistern, Ängste zu mildern und unsere Gefühle besser zu kommunizieren.

Ein junges Paar tanzt fröhlich in einem Club und kann ohne Worte ausdrücken, was es fühlt
Tanzen erzeugt Nähe, die sich positiv auf die Schmerzempfindung auswirkt. © DEEPOL by plainpicture/Inuk Studio

Alma streckt einen Arm über den Kopf in die Höhe, dreht sich ein paar Mal um sich selbst und hüpft den Bürgersteig entlang. „Ich bin ein Einhorn“, ruft sie und lacht. Gerade hat die vierjährige Berlinerin eine Stunde kreativen Kindertanz hinter sich und demonstriert ihrer Mutter, was sie dabei gelernt hat. In ihrem Kurs trainieren die Kleinsten, sich mit viel Fantasie und spielerisch nach verschiedenen Musikstilen zu bewegen.

Vom leichtfüßigen Trippeln bis zum wilden Zucken und zum eleganten Balancieren ist…

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etanzt, sobald Musik eingeschaltet wurde. „Besonders nach einem langen Kitatag hilft ihr der Kindertanz, überschüssige Energie rauszulassen und Kompetenzen wie Gleichgewichtssinn und Beweglichkeit zu lernen“, sagt Almas Mutter.

Getanzt wird, seitdem es Menschen gibt, und zwar in allen Kulturen und zu vielfältigen Anlässen. Tanzen ist laut Tanzforscher Edgar Becker eines der ursprünglichsten Ausdrucksmittel für Freude und für Trauer. Es wird getanzt, um Fruchtbarkeit zu signalisieren, um in religiöse Ektase zu verfallen, um ohne Worte zu kämpfen wie beim Breakdance, um das Wir-Gefühl zu stärken oder um sich von schlechten Gefühlen zu befreien. Der Drang zu tanzen ist uns angeboren. Der Rhythmus der Musik bringt den Körper automatisch dazu, sich zu bewegen. Bereits ab dem fünften Monat, sagen Forscher, beginnen Kinder, spontan zu tanzen, wenn sie eine Melodie hören.

Ich bin doch immer stark gewesen

Henri, 16, steht auf einer improvisierten Matte aus Pappkartons in seinem Zimmer und bewegt sich zu Hip-Hop-Rhythmen von einem Fuß auf den anderen. Irgendwann landet er im Schulterstand, drückt sich hoch in den Kopfstand und von dort aus in den Handstand. Dann beginnt er auf den Händen stehend zu hüpfen und wippt dabei mit den Füßen zum Takt der Musik hin und her. „Das tut megagut“, sagt er.

Seit rund fünf Jahren trainiert der Berliner Teenager seine besondere Mischung aus Streetdance mit Akrobatik. Wenn es mal wieder so richtig stressig sei mit den Oberstufenklausuren, dann bringe ihn das Breaken jedes Mal wieder runter. „Das ist eine extreme körperliche Herausforderung, die einen irgendwie auch selbstbewusster macht.“

Die heilsame Wirkung des Tanzens ist vielfältig erforscht: Die Tanztherapeutinnen Iris Bräuninger und Sabine Koch haben sich damit beschäftigt, wie es Stress reduziert, Emotionen regelt und gegen Depressionen hilft. Der Psychologe William Brown hat gezeigt, dass der Paartanz innige Nähe herstellt und als Beziehungshelfer taugt. Die Bewegungsexpertinnen Vera Schewe und Heike Schwiertz haben heraus­gearbeitet, dass es Schmerzen positiv beeinflusst.

Bewährte Erfahrungen

Und der Tanzpsychologe Peter Lovatt betont, dass Tanzen bei der Bewältigung von Angstzuständen helfen kann. Darüber hinaus wird die Bewegungsart seit den Untersuchungen der Hirnforscher Steven Brown und Michael Martinez auch noch als Verjüngungskur fürs Gehirn gehandelt und der Neurologe Notger Müller hat beschrieben, wie es Demenz vorbeugen kann.

Paulina, 19, hat gerade ihr Studium in Hamburg begonnen. In der Anfangszeit fällt es der jungen Frau schwer, sich an die neuen Herausforderungen zu gewöhnen. Sie kann sich schlecht konzentrieren, macht sich Druck, nimmt sich viel zu viel vor und erlebt erstmals so etwas wie Panikgefühle. „Das bin doch nicht ich“, wundert sie sich. „Ich bin doch immer stark gewesen und Lernen konnte ich ohne Probleme.“

Sie sei wohl in einer krisen­haften Situation, verbunden mit einer Anpassungsschwierigkeit, erklärt ihr eine Mitarbeiterin der psychologischen Studentenberatung. Neben dem Studentenleben solle sie sich auch auf bewährte schöne Erfahrungen konzentrieren. Dazu fällt Paulina sofort ihre Leidenschaft fürs Tanzen ein, die sie in den letzten Monaten völlig vernachlässigt hat.

Den Druck quasi wegtanzen

Paulina tanzt, seitdem sie vier Jahre alt ist, zuerst Ballett, später auch Modern, drei- bis viermal pro Woche – bis zum Umzug. Erst in ihrer Krise wird der Studentin bewusst, wie sehr ihr das Tanzen gefehlt hat: für ihre Power, für ihr Selbstwertgefühl und für ihre seelische Widerstandskraft. „Es ist für mich wie Fliegen. Wenn man es schafft, den Kopf komplett abzuschalten und sich einfach den Tönen, Emotionen und der Bewegung hingibt, dann ist das die beste Medizin“, erklärt sie. „Gegen alles!“ Man könne den Druck, der auf den Schultern lastet, quasi wegtanzen. Und das will sie jetzt auch wieder versuchen.

Studien der letzten Jahre haben gezeigt, wie Tanzen das seelische Wohlbefinden, die Konzentrationsfähigkeit und das Selbstbewusstsein fördert. Auch die Selbstwirksamkeit wächst; damit ist die Überzeugung gemeint, neue, schwierige Anforderungen bewältigen zu können. Das macht das Tanzen auch zu einem wirkungsvollen Begleiter von Veränderungs­prozessen und Übergängen zwischen verschiedenen Lebensphasen.

Vom ersten Wippen bis zum Seniorentanz

Viele dieser Phasen vollziehen sich unbemerkt: Wir kommen in den Kindergarten, zur Schule, werden Studenten, finden Freunde, Lebenspartner, bekommen Kinder, müssen sie loslassen und uns wieder auf uns selbst besinnen. Hinzu kommen Lebensübergänge, die durch tragische Erfahrungen verursacht werden: Krankheiten und Unfälle, Trennungen von Freunden oder dem Partner, der plötzliche Tod eines nahen Menschen und der Verlust des Arbeitsplatzes.

Tanzerfahrungen können uns durch Herausforderungszeiten wie diese begleiten, vom ersten Wippen nach Musik im Säuglingsalter bis zum Seniorentanz – die Bewegung macht uns körperlich fitter und lässt uns im Laufe des Lebens einen eigenen Rhythmus finden. Gunter Kreutz, Musikwissenschaftler an der Universität Oldenburg, bringt das Phänomen in seinem neuen Buch Tanzen. Glücklich mit Tango, Salsa und Co auf den Punkt.

Also: Breakdance in der Pubertät, Foxtrott bei der Partnersuche oder Pogo zum Streit in der WG? Von einer solchen Zuordnung hält der Forscher nichts. Was auf den ersten Blick verlockend klingt, ist zu simpel und nicht belegt. „Tänze spiegeln zwar immer ein wenig die Gefühle der Tanzenden. Warum ein bestimmter Tanz jedoch in einem Moment besonders gut passt, das lässt sich nicht so leicht beantworten“, meint Kreutz. Es sei jedoch wundervoll, wenn wir passende Optionen haben, um in unserem Leben unsere Ziele zu erreichen und Erfahrungen zu verarbeiten. „Und da gehört das Tanzen uneingeschränkt dazu, ohne dass wir selbstverständlich davon ausgehen müssen, dass wir nur vom Tanzen allein glücklich werden.“

Das Hemd ist durchlässig, aber es schützt

Dr. Ragnar Beer, Psychologe und Wissenschaftler aus Göttingen, hat das Tanzen während der Gymnasialzeit für sich entdeckt. Heute ist der Beziehungs- und Sexualforscher, der die wahrscheinlich größte wissenschaftliche Studie zum Thema Beziehungsprobleme leitet, leidenschaftlicher Tangotänzer. „Argentinisch und zu hundert Prozent improvisiert, keine festen Abfolgen“, betont der Göttinger Forscher. Dabei gehe es sehr viel darum, sich in den anderen hineinzuversetzen, eine „Riesenaufgabe“. Das Stichwort sei „Spürigkeit“.

Spielt das Tanzen auch bei seiner Arbeit als Paartherapeut eine Rolle? Ja, er gebe den Paaren regelmäßig Körperübungen auf, die er auch vom Tanzen ableite. Dabei gehe es gezielt um die Technik des Führens und Folgens und um das Spüren. „Tanzen kann darüber hinaus ein Ausweg sein aus der Schweigsamkeit“, sagt Ragnar Beer. „Wenn das mit dem Sprechen nicht mehr klappt, ist Tanzen für die Betroffenen immer auch eine Chance, wieder in die Worte zu kommen.“ Natürlich sei es nicht so, dass man das Thema, über das man reden möchte, genauso gut auch tanzen könne. Es gehe mehr darum, durch das Tanzen die Einfühlung in den Partner zu trainieren. „Wenn man durchs Tanzen wieder zu einer neuen Nähe findet, kann man danach besser reden.“

Dass besonders die Paartänze des Tango Argentino heilsam sind, bestätigen auch die Studien der Frankfurter Wissenschaftlerin und Psychotherapeutin Dr. Cynthia Quiroga Murcia. Sie konnte zeigen, dass Tangotechniken wie der typische Blick- und Körperkontakt dabei unterstützen, über sensible Themen zu sprechen und in einen achtsameren Kontakt mit sich und zu anderen zu kommen.

Der „innere“ Tänzer

Gerade im mittleren Lebensalter, wenn man Bilanz zieht und sich überlegt, was war, was nicht gewesen ist und was vielleicht noch geht, können solche kommunikativen Techniken helfen, die nächsten Schritte im Leben bewusster zu gestalten. „Durch die aufmerksame und auf das Hier und Jetzt fokussierte harmonische gemeinsame Bewegung mit dem Partner werden Aspekte der Achtsamkeit integriert“, erklärt die Expertin in der Ankündigung zu einem ihrer Workshops.

Astrid, 57 Jahre alt und Musiklehrerin aus Hamburg, nutzt für sich die Kraft der wohltuenden Verbindung von Meditation und Tanz. Sie hat die sogenannten „5 Rhythmen“ für sich gefunden, eine besondere Bewegungs- und Meditationspraxis, die von der amerikanischen Tänzerin Gabrielle Roth (1941 bis 2012) in den 1970er Jahren entwickelt wurde. Dabei soll der „innere Tänzer“ nach außen finden, unabhängig von Alter, Fitness oder Erfahrung.

Vom „Wahrnehmen, was ist“ über das „Ausdrücken“, „Loslassen“ und „Transzendieren“ bis zum „Ankommen im Sein“ bewegt sich der Tänzer wie auf einer Welle in fünf heilsamen Schritten zu sich selbst. Zurückgehaltene Gefühle und Gedanken sollen auf diese Weise ihren Weg nach außen finden. „Die fünf Rhythmen sind für mich eine Möglichkeit, alles, was mir widerfährt und in mir arbeitet, auf eine körperliche Weise umzusetzen und zu verwandeln, und zwar vom Kopf in die Bewegung“, erklärt Astrid. Seit Jahren besucht sie gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester wöchentliche Kurse.

Dazu kommen ausgesuchte Workshops zum Thema. Besonders danach fühle sie sich oft sehr behütet und wie eingehüllt in ein „Elbenhemd“, so wie es in J.R.R.Tolkiens Klassiker Der Herr der Ringe beschrieben ist. „Das Hemd ist durchlässig, aber es schützt“, sagt sie. Gabrielle Roth hat es einmal so umschrieben: Wenn du deine Psyche auf diese Weise in Bewegung bringst, heilt sie sich selbst.

Wieder einfach loslaufen können

Tanzbewegungen und Heilsamkeit – gerade für ältere Menschen und besonders dann, wenn sie von einer chronischen Erkrankung betroffen sind, haben diese Begriffe manchmal etwas von Zauberworten. Karin, 76, leidet seit einigen Jahren unter dem Parkinsonsyndrom und hat mit den typischen Beschwerden wie verlangsamten Bewegungen, Muskelsteife und mangelnder Stabilität zu kämpfen. An diesem Montagnachmittag sitzt die pensionierte Sozialarbeiterin auf einem Stuhl im Berliner Studio TanzTangente und bewegt auf Zuruf des Kursleiters ihre Hände und Füße leicht zu Reggaeklängen und Jazz hin und her.

Dann steht sie auf und tanzt gemeinsam mit 16 anderen Betroffenen und einigen gesunden Angehörigen langsam durch den Raum, immer bilden sich Tanzpaare und gehen nach einer synchronen Bewegung wieder auseinander. Die Übungen sind Teil eines speziellen Tanzkurses für Parkinsonpatienten. „Es ist immer wieder erstaunlich, wie sicher wir hier manchmal nach dem Kurs aufstehen und loslaufen können“, berichtet Karin.

Das Parkinsontanzen helfe ihr aber nicht nur, ihrem Körper mehr zu vertrauen und sich flüssiger zu bewegen, das Miteinander sorge auch für eine bessere seelische Verfassung. Ähnliche positive Erfahrungen mit dem Tanzen werden von Krebspatienten berichtet.

Doch wo hört das heilsame Tanzen auf und wo beginnt das sogenannte therapeutische Tanzen? „Tanztherapie ist ein Angebot für Menschen, die mit psychischen Herausforderungen zu kämpfen haben“, erklärt die international renommierte Tanztherapeutin Susanne Bender. „Dabei geht es um das Finden von authentischen Bewegungen, die uns helfen, mit uns und anderen in Kontakt zu treten und alte Muster zu durchbrechen und gesündere zu entdecken.“ Mehr dazu erzählt sie im Interview auf der folgenden Seite.

ZUM WEITERLESEN 

theratalk.de/langzeitstudie_haeufigste_und_schwerste_beziehungsprobleme_top_10_2016.html

Aniko Maraz u.a.: Why do you dance? Development of the Dance Motivation Inventory (DMI). Plos One, 10/3: e0122866. DOI: 10.1371/journal.pone.0122866

Cynthia Quiroga Murcia u.a.: Shall we dance? An exploration of the perceived benefits of dancing on well-being. Arts & Health, 2/2, 2010, 149–163. DOI: 10.1080/17533010903488582

Susanne Bender: Systemische Tanztherapie. Ernst Reinhardt, München 2014

„Jedes Fingerzucken ist von Bedeutung“

Die Tanztherapeutin Susanne Bender über symbolische Bewegungen und das Unsagbare

Frau Bender, Sie arbeiten seit Jahrzehnten als Tanztherapeutin, haben diese Methode aus den USA nach Deutschland geholt. Hatte Tanzen nicht immer schon etwas Therapeutisches?

Das wird gerne behauptet. Tanzen macht glücklich, heißt es häufig. Aber so einfach ist das nicht. Da muss man sehr genau unterscheiden: Der eine geht tanzen, weil es ihm danach besser geht, der andere geht dafür joggen. Aber wenn jemand ernsthaft mit psychischen Problemen zu kämpfen hat, dann ist ihm nicht geholfen, wenn ihm einer sagt: Dann geh doch mal wieder in die Disko. Das wird den Menschen, die wirklich Hilfe suchen, absolut nicht gerecht. Wenn Leute eine Therapie aufsuchen, dann ist die Choreografie ihres Lebens aus dem Takt geraten, dann sind sie gestolpert. Jetzt geht es für sie darum, herauszufinden, wer sie eigentlich sind.

Tanztherapie ist also ein Hilfsmittel, um die Psyche ins Gleichgewicht zu bringen?

Ja, denn der Mensch hat bekanntlich schon immer getanzt, das Tanzen gehört zum Menschsein, darin liegt die Chance. In der Therapie geht es um das Tanzen als Ausdruck für das Unsagbare und das Tanzen als Kontaktaufnahme. Es ist also viel mehr als die reine Bewegung. Für einen Kontakt wiederum müssen wir einen gemeinsamen Rhythmus finden. Das gilt selbst für Alltagsbewegungen wie das Händeschütteln. Wenn wir da nicht gleich in einen gemeinsamen Rhythmus kommen, sind wir irritiert. Ohne diesen gemeinsamen Rhythmus kann überhaupt keine Beziehung entstehen.

Was bedeutet das für unsere seelische Gesundheit?

Wir brauchen diese Rhythmisierungen, wir brauchen diese Kontakte. Ohne leibhaftige Kontakte können wir nicht existieren. Im Tanzen gelingt uns diese lebensnotwendige Kontaktaufnahme leichter, und wenn ich eine Musik dazu habe, dann gibt mir diese schon mal eine Struktur vor. Das Tanzen ist also ein Instrument, um etwas sichtbar zu machen. Im Tanzen gehe ich aus den Alltagsbewegungen heraus und in die symbolischen Bewegungen hinein. Diese machen mir deutlich, was ich empfinde. Die Tanztherapie geht davon aus, dass alle Erlebnisse und jedes Trauma im Körper gespeichert sind. Mit dem Tanzen kann ich also ausdrü­cken, was mit mir los ist.

Viele Menschen behaupten, dass sie nicht tanzen können.

Sobald Kinder sitzen können und anfangen, zu einer Musik zu wippen, zeigen sie ein Gefühl dafür. In diesem Alter kommunizieren sie nur über Bewegungen. Bevor wir in die Sprache kommen, müssen wir uns körperlich verständlich machen. Diese nonverbale Kommunikation ist unser Lebensstart.

Ab welchem Alter ist Tanztherapie möglich?

Wir können bereits ab dem Säuglingsalter mit Kindern arbeiten, um beispielsweise ein Geburtstrauma zu bewältigen. Und durch Mutter-Kind-Arbeit können wir die Bindung festigen.

Wie unterscheidet sich die Tanztherapie von anderen psychologischen Körpertherapien?

Für uns ist der Ausdruck entscheidend. Was im Innen los ist, soll in einer Bewegung ausgedrückt werden, damit es sichtbarer wird. Mit Ballett oder Rock’n’Roll hat das nichts zu tun. Wir sprechen immer dann vom Tanzen, wenn wir durch eine Bewegung in einen Kontakt mit uns oder mit anderen gehen. Ein schönes Beispiel dafür ist das Glasanstoßen. Wenn wir das Glas in die Hand nehmen, weil wir Durst haben, dann ist das eine Bewegung. Wenn wir an einem Tisch sitzen und wir stoßen mit unserem Gegenüber an, dann kommt die Synchronisierung und es wird ein kleiner Tanz des Anstoßens. Die Tanztherapie sieht das Positive und zielt auf das ab, was trotz aller psychischen oder physischen Einschränkungen noch geht.

Jede kleinste Bewegung kann also zu einem therapeutischen Tanz werden?

Ja, jedes Fingerzucken ist von Bedeutung. Immer geht es dabei um kleine abgestimmte Choreografien der Kommunikation. Wenn sich beispielsweise in einem Raum ein Arbeitsteam zusammensetzt, dann entstehen Choreografien des Hinsetzens. Da müssen Sie mal drauf achten. In diesen Choreografien – wer setzt sich wohin – sind alle möglichen Themen drin.

Zum Beispiel die Abgrenzung gegenüber anderen oder bei Überforderung. Da gibt es folgendes Bewegungsmus­ter: Arme nach vorne und mit der Hand eine wegschiebende Bewegung ausführen. Wir nennen das eine Richtungsbewegung. Die Chance dabei ist, dass man im Kontakt Emotionen zeigen kann, ohne darüber sprechen zu müssen. Ich kann mich mit dieser Bewegung abgrenzen. Ich muss mich ja sogar abgrenzen, um ein Gegenüber zu sein.

Sie arbeiten mit der systemischen Tanztherapie. Was ist das Besondere daran?

Ich gehe nicht in das Leid hinein, sondern ich deute das Leid um. Aus einem „Ich habe keine freie Zeit mehr wegen meines Kindes“ kann auf diese Art ein „Mit dem Kind Zeit verbringen ist meine freie Zeit“ werden. Auf diese Art wird klar: Was ich denke, beeinflusst mein Fühlen. Und das bedeutet auch: Mit dem Tanzen habe ich die Möglichkeit, einen neuen Rhythmus für mein Leben zu finden. Wir müssen die Ressourcen aus dem Symptom herausholen und dann können wir an die gesunden Anteile andocken, damit wir das Symptom nicht mehr nötig haben. So können wir wichtige Ressourcen entdecken und diese in unserer Lebenschoreografie verankern. Das ist mein Ansatz.

Zu den Pionierinnen der Tanztherapie gehören Mary Whitehouse und Marian Chace. Was haben wir ihnen zu verdanken?

Dass wir seit Jahrzehnten ganz selbstverständlich von einer Einheit von Körper und Psyche ausgehen können. Bei beiden ging es darum, mit Menschen zu arbeiten, die einen Leidensdruck haben und die ihr Inneres suchen wollen. Mary Whitehouse hat dafür die „authentische Bewegung“ entwickelt, bei der man den Bewegungsimpulsen aus dem Inneren folgt, ohne auf die Ästhetik zu achten. Marian Chace hat die nach ihr benannte „Chace-Methode“ begründet, mithilfe der man in den Kontakt mit sich selbst und anderen kommt. Darin liegen unsere Perspektiven.

Über die Wirkungen des Tanzens auf Körper und Seele berichtet Tanztherapeutin Susanne Bender beim Women’s Health Day. Dieser findet vorraussichtlich im August statt, womenshealthday.de

Susanne Bender ist Tanztherapeutin, anerkannte Ausbilderin, Lehrtherapeutin und Supervisorin beim Berufsverband der TanztherapeutInnen Deutschlands. Sie hat in den USA studiert und die Tanztherapie nach Deutschland gebracht. 1987 gründete sie das Europäische Zentrum für Tanztherapie

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2020: Männer und ihre Mütter