Ohne Smartphone fühle ich mich nackt

Die Angst, nicht auf das Smartphone zugreifen zu können, ist weit verbreitet und hat auch einen Namen: Nomophobie, kurz für no mobile phone phobia.

Die Illustration zeigt eine Mädchen, dass an einem Kabel zieht, das mit einem Smartphone verbunden ist
So nah wie das Smartphone ist uns nichts und niemand. © Matthias Seifarth für Psychologie Heute

Das Smartphone ist ein Teil von mir. Wenn der Akku nur noch 20 Prozent hat, wird mir unwohl. Bei sechs Prozent würde ich nicht aus dem Haus gehen“, sagt Kathrin Fehlau (Name geändert) und muss über sich selbst lachen. Dahinter stehe das Gefühl, immer erreichbar sein zu müssen. Die 43-Jährige fühlt sich verantwortlich als Alleinerziehende einer 17-jährigen Tochter und als Abteilungsleiterin in einer Eventagentur. „Nichts geht ohne mich!“, sagt sie selbstironisch. „Aber das ist natürlich Quatsch. Das Kind ist…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

ist natürlich Quatsch. Das Kind ist alt genug und die Leute in der Firma könnten auch mal eine Stunde ohne mich auskommen. Wahrscheinlich will ich einfach überall die Kontrolle behalten.“

Die Angst, die manche Menschen befällt, wenn sie aus irgendeinem Grund nicht auf ihr Smartphone zugreifen können, hat einen Namen: Nomophobie. Das Wort setzt sich zusammen aus no mobile phone phobia oder übersetzt „Kein-Mobiltelefon-Phobie“. Sie kann beispielsweise entstehen, wenn man sich in einem Funkloch befindet, der Akku leer ist oder man das Gerät vergessen oder verlegt hat. „Hat jemand mein Handy gesehen?“ – den Schreckmoment, wenn das Smartphone nicht zu finden ist, kennen die meisten. Doch bei manchen Nutzerinnen und Nutzern löst dieser Verlust gesteigerte Angst oder sogar Panik aus.

Eine aktuelle Studie der Privaten Hochschule Göttingen ergab, dass diese Angst auch in Deutschland weit verbreitet ist: Fast die Hälfte der über 800 Befragten zeigte eine mittelstarke Nomophobie, vier Prozent sogar eine starke. Die Autorinnen der Studie, Melina Coenen und Yvonne Görlich, Professorin für psychologische Diagnostik und differentielle Psychologie, weisen jedoch darauf hin, dass ihre Studie nicht repräsentativ ist.

Nervosität, wenn der Akku leer ist

Viele der Teilnehmenden waren weiblich und zwischen 18 und 26 Jahre alt – und damit wahrscheinlich etwas anfälliger für Nomophobie als die Durchschnittsbevölkerung. Als digitale Alleskönner haben Smartphones unseren Alltag erheblich verändert. Sie haben die morgendliche Tageszeitung ebenso wie das Adress-, Telefon- und Notizbuch ersetzt. Für viele Nutzerinnen und Nutzer sind sie Uhr und Terminkalender, Zahlungsmittel, Bahn- und Busticket, Stadtplan und Landkarte geworden. Wer also nervös wird, wenn er plötzlich mit leerem Akku dasteht, reagiert durchaus rational. Wir sind schlicht auf das Smartphone angewiesen.

Doch Nomophobie geht darüber hinaus.„Ohne Smartphone fühle ich mich nackt“, sagte Kathrin Fehlau. „Das ist, als hätte ich vergessen, einen BH anzuziehen.“ Sie erzählt, wie sie Silvester zunächst bei Freunden zum Essen eingeladen war. Als sie anschließend auf einer Party in die Tasche griff, kam der große Schreck: Sie hatte das Smartphone dort vergessen. Mit dem Telefon ihres Partners konnte Fehlau die Gastgeber erreichen, die das Gerät schließlich an einem sicheren Ort vor Fehlaus Haus versteckten. „Ich konnte den Rest des Abends nur genießen, weil ich die Option hatte, es jederzeit abzuholen. Sonst hätte ich es nicht ausgehalten, ohne mein Handy zu sein.“

Auch in der eigenen Wohnung nimmt Kathrin Fehlau das Gerät immer mit, wenn sie das Zimmer wechselt. Der Blick aufs Smartphone ist das Erste, was sie tut, wenn sie morgens aufsteht, und es ist das Letzte, wenn sie abends zu Bett geht. Bevor sie das Licht ausmacht, legt sie das Mobiltelefon griffbereit auf den Nachttisch. „Meine abendliche Routine ist schon ein bisschen zwanghaft: Nach dem Zähneputzen überprüfe ich immer, ob der Herd ausgeschaltet ist. Und am Ende checke ich noch einmal die Chatnachrichten.“

In Verbindung bleiben

Das erste Mal wurde der Begriff Nomophobie 2008 in einer Studie in Großbritannien verwendet. Das internationale Markt- und Meinungsforschungsinstitut YouGov fand bei 53 Prozent der Teilnehmenden eine anhaltende irrationale Angst, von ihrem Smartphone getrennt zu sein. Seitdem ist das Phänomen in zahlreichen Studien untersucht worden. 2015 entwickelte ein Team an der Iowa State University einen Fragebogen, um das Problem näher zu untersuchen. Mittlerweile wurde der Test in zahlreiche Sprachen übersetzt und unter anderem in Brasilien, Indien und Spanien eingesetzt.

Interessanterweise sind Menschen in kulturell sehr unterschiedlichen Ländern betroffen, in wohlhabenden ebenso wie in ärmeren. Und überall scheinen vor allem junge Menschen zur Nomophobie zu neigen. „Die von uns Befragten haben vor allem Angst, die Verbindung zur Familie und zu Freunden zu verlieren. Oder sie fühlen sich ohne Smartphone unsicher und befürchten, dass sie orientierungslos irgendwo stranden könnten“, berichtet die Psychologin Yvonne Görlich.

Solche Gedanken kennt Kathrin Fehlau sehr gut. Am Handgelenk trägt sie eine schicke Apple Watch mit goldfarbenem Armband. „Ich glaube, seit ich die Uhr habe, ist meine Abhängigkeit vom Handy noch schlimmer geworden.“ Wenn Fehlau wach ist, trägt sie permanent ihre Smartwatch, egal ob sie konzentriert arbeitet, einen Waldspaziergang macht oder tanzen geht. An der Art des Vibrationssignals an ihrem Handgelenk erkennt sie, von wem eine reinkommende Nachricht stammt. „Die Uhr ist sehr praktisch. Damit kann ich auch während eines Geschäftsmeetings meine Nachrichten lesen – viel unauffälliger, als wenn ich jedes Mal das Handy in die Hand nehmen müsste. Ich beantworte alle Nachrichten eigentlich in weniger als einer Stunde.“

„Man zeigt damit ja auch, wie wichtig man ist“

Doch während unseres Gesprächs verspürt sie nach etwa 45 Minuten den starken Drang, auf ihr Mobiltelefon zu schauen. „Ich weiß, dass ich durchaus die Neigung habe, mich zu verlieren. Deshalb bin ich vorsichtig. Ich habe Instagram auf meinem Telefon gelöscht und TikTok gar nicht erst runtergeladen.“ Und trotzdem übt das Smartphone permanent einen Sog auf sie aus. „Ich will immer wissen, was da draußen gerade los ist.“ Das betrifft die aktuelle Nachrichtenlage in der Welt genauso wie die neuesten Beiträge in ihrem Lieblingsforum und natürlich Chats mit Freunden und Familie.

Wenn man Kathrin Fehlau fragt, ob sie schon einmal an eine Therapie gedacht habe, reagiert sie erstaunt. „In meinem Umfeld ist mein Verhalten relativ normal. Man zeigt damit ja auch, wie wichtig man ist“, sagt Fehlau mit einem Augenzwinkern. „Peinlich wäre mir dagegen, wenn ich stundenlang Zeit in sozialen Medien verbringen würde, wenn ich krankhafte Angst hätte, in ein Flugzeug zu steigen, oder aus Klaustrophobie nicht mit dem Fahrstuhl fahren könnte. Dass ich immer wieder meine Nachrichten checke, ist dagegen kein Problem.“

Nomophobie ist keine eigenständige Störung

Bislang gibt es offenbar keine Patientinnen und Patienten, die mit Nomophobie in Behandlung sind. Das Phänomen sei derzeit „klinisch nicht relevant“, meint etwa Andreas Ströhle, der die Angstambulanz an der Berliner Charité leitet. Das bestätigt auch Amir Yassari, Oberarzt der Angst- und Zwangsstation am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. „Das liegt wahrscheinlich daran, dass der Verlust des Smartphones im Vergleich zu anderen Phobien relativ gut kontrollierbar ist. Ich kann mir beispielsweise eine Powerbank besorgen, um die Stresssituation zu vermeiden. Und ich muss nicht zu Hause bleiben, wenn das Smartphone kaputt ist. Ich kaufe mir einfach ein neues.“ Yassari sieht in der Nomophobie keine eigenständige Störung. Auch der internationale Diagnosekatalog ICD-11 führt das Phänomen nicht als Krankheit auf.

Bislang ist einzig die Computerspielsucht als Pathologie eingestuft, die mit digitalen Aktivitäten einhergeht. „Die Angst vor dem Smartphoneverlust könnte aber bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung anderer psychischer Störungen eine Rolle spielen, etwa bei Depression oder bei sozialer Angst“, meint der Psychiater.

Vielleicht, vermutet auch Yvonne Görlich, würden Patientinnen und Patienten bislang noch zu selten gefragt, wie viel Zeit sie mit dem Smartphone verbringen. „Beispielsweise könnte ein möglicher Auslöser für depressive Symptome eine Nomophobie sein. In diesem Fall müsste die Therapie stärker auf dieses Thema fokussiert werden.“Doch auch wenn Nomophobie nur in den wenigsten Fällen mit Krankheit verbunden ist, könnte sie als Alltagsphänomen einer digitalisierten Gesellschaft besorgniserregende Nebenwirkungen haben.

Phantomschauen: Hat mein Handy gerade geklingelt?

„Dass das Smartphone ständig bei uns ist und dabei immer etwas passiert, ist uns in Fleisch und Blut übergegangen“, meint Catarina Katzer, Leiterin des Instituts für Cyberpsychologie und Medienethik in Köln. Ein Symptom dafür sei beispielsweise das Phantomschauen. „Ich unterlag selbst plötzlich diesem Automatismus, immer wieder nachzuschauen, weil ich mir einbildete, mein Handy habe vibriert oder geklingelt. Da war es an der Zeit, mein digitales Bewusstsein zu schärfen.“

Christian Montag, Professor für molekulare Psychologie an der Universität Ulm, warnt vor einer „Fragmentierung des Alltags“. Als er die Smartphoneaktivierungen von über hundert seiner Studierenden nachverfolgte, zählte er durchschnittlich fast hundert pro Tag. Mit anderen Worten: die jungen Erwachsenen griffen fast hundertmal täglich nach ihrem Smartphone und unterbrachen dabei wahrscheinlich ihre eigentliche Beschäftigung.

Brrr-brrr vibriert das Gerät: Eine Freundin erinnert an die Geburtstagsfeier am Wochenende. Brrr-brrr, jemand schickt Urlaubsfotos. Brrr-brrr, das Kind geht nach der Schule noch zu Freunden. Brrr-brrr, die Freundin verspätet sich um eine halbe Stunde. Und gleich hinterher, brrr-brrr, das tägliche Katzenvideo von der Oma. Solche Chatnachrichten vermitteln ein Gefühl der Verbundenheit. „Zugleich fühlen wir uns immer verpflichtet, sofort zu antworten“, gibt Medienexpertin Catarina Katzer zu bedenken. „Wir sind gefangen in einem Automatismus und geraten immer mehr in digitalen Stress.“

Konzentrationsräuber Handy

Nomophobie gäbe es nicht, wenn sich der Umgang mit dem Smartphone auf die praktischen Funktionen beschränken würde, meint Katzer. Es sind die schönen Gefühle, die uns an die Geräte binden. Eine wichtige Rolle spielen dabei die sozialen Medien. „Für viele sind die sozialen Medien ein digitaler Lebensraum geworden, durch den sie sich tagtäglich per Smartphone bewegen. Sie haben eine digitale Identität und möglicherweise Followerinnen und Follower. Sie teilen sich dort mit und bekommen Rückmeldungen. Natürlich sind sie beunruhigt, wenn sie davon abgeschnitten werden“, sagt Katzer.

Sogar wenn das Mobiltelefon ausgeschaltet ist, bindet es einen Teil unserer Aufmerksamkeit.

Das zeigt eine Studie an der University of Texas in Austin anschaulich. In zwei Experimenten wurden 800 Studierende gebeten, anspruchsvolle kognitive Aufgaben zu lösen. Ihr Smartphone sollten sie dabei ausgeschaltet entweder auf dem Tisch oder in der Tasche lassen. Ein Teil der Teilnehmenden wurde dagegen gebeten, das Gerät im Vorraum abzulegen. Diese Gruppe, die ihr Mobiltelefon nicht mit in den Raum brachte, schnitt bei den kognitiven Aufgaben deutlich besser ab. Auch die Studierenden, die das Smartphone in der Tasche gelassen hatten, waren konzentrierter als diejenigen, die das Gerät vor sich auf den Tisch legten.

Die Gefahr von digitalem Detox

Das Forschungsteam spricht von einem brain drain: Die ­bloße Anwesenheit des eigenen Smartphones lenke ab – selbst wenn es ausgeschaltet ist. Nomophobie ist ein schleichender Prozess. „Er läuft ab, ohne dass man sich dessen bewusst wird“, warnt Psychologin Yvonne Görlich. Deswegen sollte man hin und wieder den eigenen Umgang mit dem Smartphone hinterfragen. Muss ich das Gerät wirklich auf den Spaziergang mitnehmen oder am Esstisch nutzen? Was könnte ich stattdessen mit meiner Zeit anfangen?

Immer beliebter wird das sogenannte digitale Detox. Doch Yvonne Görlich rät davon ab, weil sich ähnlich wie bei einer Diät ein Jo-Jo-Effekt einstellen kann. Sie empfiehlt dagegen eine „kontrollierte Nutzung“:

  • Das Smartphone nur zu festen Zeiten und nicht länger als zwei Stunden täglich in die Hand nehmen.

  • Das Smartphone nicht als Wecker nutzen, denn der Blick fällt damit noch vor dem Frühstück auf Mails und Nachrichten. Alle Pushnachrichten abstellen, problematische Apps löschen.

  • In den Schwarz-Weiß-Modus wechseln. Das macht das Smartphone weniger attraktiv und die analoge Welt gleich ein bisschen bunter. Hin und wieder mal telefonieren, statt zu texten.

  • Sich bewusstmachen, wie viel Zeit man mit dem Smartphone verbringt, um sich dann die Frage zu stellen: „Was könnte ich stattdessen mit meiner Zeit anfangen?“

Smartphones fressen Zeit und Aufmerksamkeit, sagt auch Kathrin Fehlau. Was sie am meisten vermisst, sind Bücher. Ausgerechnet sie, die als Teenager ein Bücherwurm war und dann Literatur studierte, hat aufgehört zu lesen. „Ich habe Romane geliebt. Jetzt kann ich mich nicht mehr darauf einlassen, Bücher fesseln mich einfach nicht mehr. Ich glaube, das Handy hat mir die Aufmerksamkeit geklaut. Das finde ich wirklich schlimm.“

Quellen

Christian Montag: Homo Digitalis. Smartphones, soziale Netzwerke und das Gehirn. Springer 2018

Catarina Katzer: Cyberpsychologie. Leben im Netz: Wie das Internet uns verändert. Dtv 2016

Melina Coenen, Yvonne Görlich: Exploring nomophobia with a German adaption of the nomophobia questionnaire: https://doi.org/10.1371/journal.pone.0279379

Ana C León-Mejíaet al: A systematic review on nomophobia prevalence: Surfacing results and standard guidelines for future research https://doi.org/10.1371/journal.pone.0250509

Caglar Yildrim, Ana-Paula Correia: Exploring the dimensions of nomophobia: Development and validation of a self-reported questionnaire https://doi.org/10.1016/j.chb.2015.02.059

Adrian F. Ward et al.: Brain Drain: The Mere Presence of One’s Own Smartphone Reduces Available Cognitive Capacity https://www.journals.uchicago.edu/doi/full/10.1086/691462

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2023: Dinge weniger persönlich nehmen