Lügen bis zum bitteren Ende?

​Wie sich der emotionale Umgang mit Krebs im 20. Jahrhundert verändert hat, zeichnet die Historikerin Bettina Hitzer in ihrem neuen Buch nach. ​

Am 26. August 2013 schießt sich Wolfgang Herrndorf mit einem Revolver in den Kopf. Dort hatte sich ein bösartiger Tumor eingenistet. Der Schriftsteller (Tschick) hat vor diesem Suizid sein Leben mit Krebs in einem Blog protokolliert – drei Jahre lang.

Auch der Schweizer Maler Ferdinand Hodler protokollierte einen nahenden Tod, indem er seine Geliebte malte. Zunächst schön, aufrecht und stolz, mit großen Augen. Zwei Jahre später malt er sie wieder, dieses Mal, nachdem sich erste Krankheitszeichen gezeigt hatten. Dann malt und zeichnet Hodler die krebskranke Valentine wie besessen bis zu ihrem letzten Tag: Über 50 Ölgemälde und über 100 Zeichnungen entstehen vom allmählichen Verfall und zeugen von Augen, die sich immer mehr nach innen wenden. Am 25. Januar 1915 stirbt Valentine.

Ein Jahrhundert liegt zwischen diesen beiden einzigartigen Zeugnissen, die zugleich das Schicksal ungezählter Krebskranker widerspiegeln. Es ist ein vielversprechender Auftakt des Buchs Krebs fühlen der Historikerin Bettina Hitzer. Der Untertitel verheißt „eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts“. Doch löst das Buch sein Versprechen ein? Welche Gefühle hat der Leser nach 500 Seiten? Zwiespältige, zweifelnde. Vielleicht liegt das auch daran, dass nie ganz klar wird, ob es nicht doch eine Medizingeschichte der Krebskrankheit ist statt der angekündigten Geschichte der Emotionen. Einleitend schreibt Hitzer, dass sie den historischen Zusammenhang von Krankheit und Gefühlen durchleuchten will, sie nennt Angst, Trauer, Hoffnung, Scham, Ekel, Wut.

Der Leser durchquert in diesem Buch das Jahrhundert viermal. Das ist mitunter ermüdend, denn es wird zu viel wiederholt. Hitzer benützt die Metapher „Raum“ und lässt uns vier Räume durchschreiten. Da sind zunächst die realen Labore der Forscher, Diagnose- und Behandlungszimmer; dann sind da die eher symbolischen Räume, in denen über Krebs geschwiegen oder gesprochen wird.

Orientierungsverlust auf langen Klinikfluren

Leider verliert die Autorin in den langen Klinikfluren ein wenig die Orientierung. Deshalb suchen wir Leser die Ausgänge aus Strahlenbunkern oder OP-Sälen – und fahnden nach den Emotionen, um die es doch gehen soll. Stattdessen sehen wir Grundrisse von Krankenhäusern und erfahren, wie teuer radioaktive Stoffe sind.

Unmengen an historischen Dokumenten hat die Autorin ausgewertet, Archive durchforstet, Briefe, Tagebücher und Literatur mit Selbstzeugnissen gesucht. Immer wenn Hitzer von konkreten Patienten berichtet, nimmt das Buch Fahrt auf. Erschütternd etwa das Erlebnis einer 29-Jährigen, die 1974 in die Heidelberger Uni-Klinik kommt, um abklären zu lassen, ob sie Gebärmutterhalskrebs hat. Sie gerät ohne jegliche Aufklärung in die Fänge eines Psychosomatikdoktoranden, der sie mit Rorschachtests und 114 Fragen traktiert. Er arbeitet an einer Studie, die herausfinden will, ob Seelenschmerz Krebs auslösen kann. Dieses Ausgeliefertsein an Wissenschaft und Medizin erfuhr auch die an Brustkrebs erkrankte Hildegard Knef. Wir lesen ihre bitteren Klagen darüber, wie sie als Kranke an der Pforte des Krankenhauses entmündigt wurde.

Ebenfalls gut sind die Passagen über Sprechtabus und das Verschweigen von Krebsdiagnosen, um Patienten die Hoffnung nicht zu nehmen. Lügen bis zum bitteren Ende war jahrzehntelang Usus. Heute, da es immer mehr und immer bessere Therapien gibt, bekommt die Hoffnung ein noch stärkeres Gewicht. Denn niemand kann wissen, ob Heilung erreicht ist oder sich nur ein Zwischenraum öffnet, der einer Remission.

Es gibt hinreichend Gründe, warum sich auch Historiker, nicht nur Psychologen oder Neurologen mit Emotionen befassen. Sie werden deutlich, wenn wir von Krebskranken im Dritten Reich lesen, wo nur der gesunde Volksgenosse wertvoll war. Was fühlte eine Frau mit Gebärmutterkrebs, die dem Führer keine Kinder schenken konnte? Ein anderes Beispiel ist die 68er-Generation, die mit bürgerlichen Strukturen aufräumen wollte. Wie Fritz Zorn, der eigentlich Fritz Angst hieß und der seinen Krebs im Hals als Metapher des Runterschluckens von Gefühlen deutete. Der Millionärssohn rechnete in seinem Kultbuch Mars mit der gefühlskalten Erziehung ab, in der es nur um Schein, Geld und Erfolg ging.

Krebs fühlen ist eine Fundgrube, in der man viel Wissenswertes entdecken kann und gleichzeitig untergeht in einer akademischen Faktensammlung. Dem Buch hätten stringentere Thesen, Kürzungen und mehr Leserführung gutgetan.

Bettina Hitzer: Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Klett-Cotta, Stuttgart 2020, 540 S., € 28,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2020: Meine Zeit kommt jetzt
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