Wer auf eine Fähre geht, verliert den festen Boden unter den Füßen. Egal ob es sich eher um ein Boot handelt, das bloß einen Fluss überquert, oder einen viele Stockwerke hohen Koloss, in den hunderte von Fahrzeugen und weit mehr als tausend Menschen passen – als Passagiere trennen uns nur wenige Zentimeter Metall vom meist kalten Wasser und von möglicherweise fernen Ufern. Sobald die Schotten dichtgemacht wurden und der Kahn abgelegt hat, sitzen dann alle im sprichwörtlichen gleichen Boot.
Nervenkitzel,…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
wurden und der Kahn abgelegt hat, sitzen dann alle im sprichwörtlichen gleichen Boot.
Nervenkitzel, Übelkeit, Angst
Die Fähre ist – wie alle Schiffe – ein ganz außerordentlicher Raum. In gewisser Weise ist sie stabil wie ein Gebäude: Es gibt Böden, Wände, Decken, Treppen und Türen.
Gleichzeitig ist ihr Zweck, Menschen von einem Ort zu einem anderen zu bringen. Das ganze Gebäude gerät dann in Bewegung, was unsere Sinne leicht durcheinanderbringen kann, noch viel stärker als dies im Auto oder Zug der Fall ist; und auf andere Weise als im Flugzeug. Denn an Bord können wir uns verhältnismäßig frei bewegen, unterschiedliche Orte aufsuchen und fast vergessen, dass wir nicht an Land sind. Aber wenn die See rau ist und der Wind die Gischt durch die Luft bläst, dann kann jeder Schlag einer hohen Welle gegen den Schiffsrumpf fühlbar machen, dass ich als einzelner Mensch den Gewalten der Elemente ausgeliefert bin, sogar in einem Riesen aus Stahl.
Die Reaktionen auf starken Seegang reichen von angenehmem Nervenkitzel über Übelkeit bis hin zu blanker Angst – je nach individueller Disposition des Fahrgastes. Die Gestaltung moderner Passagierschiffe strebt folglich danach, ein Gefühl von Sicherheit zu suggerieren.
Eine finnische Doktorarbeit hat Designkonzepte untersucht und festgestellt, dass etwa durch den Einsatz von Teppichen und speziellen Materialien die Motorengeräusche gedämpft werden sollen. Die Innenraumgestalter stehen dabei vor der Herausforderung, den Eindruck eines Bauwerks zu erwecken und gleichermaßen die Anforderungen des Verkehrs auf See zu berücksichtigen – in welchem Flur gibt es sonst Hinweise auf Rettungsboote und ein Geländer, an dem man sich bei starkem Schwanken festhalten könnte?
Gefangen im Café über dem Wasser
Der Raum der Fähre schließt uns zusammen ein, die Crew, die anderen Fahrgäste und uns selbst. Wir sind dazu genötigt, den gleichen Raum mit anderen zu teilen. Dies führt zu einer eigenartigen Vermischung von Privatheit und Öffentlichkeit. Ähnlich wie in einem Café oder einem Restaurant befinden wir uns in einer halböffentlichen und halbprivaten Situation. Anders als an Land können wir nicht einfach gehen. Das gemeinsame Erlebnis und die verbrachte Zeit an Bord verbinden auch. Egal ob ein mäßiger Kaffee aus dem Automaten, ein spektakulärer Sonnenuntergang oder der Einkauf im Dutyfree-Shop – diese Erfahrungen werden dann allen auf der Überfahrt zuteil.
Anthropologinnen wollten wissen, wie sich Berufspendler und -pendlerinnen verhalten, die sich regelmäßig auf einer kanadischen Inselfähre treffen. Diane Royal und Sharon Roseman stellten fest, dass die meisten Fahrgäste zielstrebig auf „ihren“ Platz zusteuerten. Zudem bildeten sich unter ihnen feste Gruppen, die sich zusammenfanden und plauderten. Dabei zeigten sowohl die Männer als auch die Frauen geschlechterstereotypische Verhaltensweisen: Die Männer spielten Karten, die Frauen strickten. Eine Erklärung hierfür blieben die Wissenschaftlerinnen schuldig.
Im Fluss der Zeit
Die psychologische Wahrnehmung der Passage wird auch durch die besondere Zeitlichkeit der Überfahrt geprägt. Denn im Verhältnis zu anderen modernen Fortbewegungsmitteln ist die Fähre vor allem eines: außergewöhnlich langsam. Allein schon die für das Anlegen und Ablegen verstrichene Zeit erscheint archaisch. Das kann ein Ärgernis sein – und als solches wird es auch erlebt, wenn es für Alltagspendler darum geht, rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Aber selbst auf sie wirkt die Passage nachweislich entschleunigend.
Unabhängig davon, ob man nur für 20 Minuten während der Überfahrt von Glückstadt nach Wischhafen aus dem Auto aussteigt, um eine Weile auf die Elbe zu blicken, oder in 20 Stunden von Kiel nach Oslo reist, statt in knapp anderthalb Stunden von Hamburg aus dorthin zu fliegen: In beiden Fällen entsteht eine undefinierte Zeit, die anders als im Auto, Zug oder Flugzeug Freiheiten bietet und die den Übergang von dem einen Ort zu dem anderen erfahrbar macht.
Ein weiterer Aspekt macht das Fährschiff zu etwas Besonderem: die Zeitlichkeit des Verhältnisses zwischen dem Schiffskörper und dem Ufer. Wer schon einmal jemanden verabschiedet hat, der mit einer Fähre abfährt, oder sich selbst an Bord langsam von einem Ort weggleiten sieht, an dem das Herz hängt, weiß, wie tief sich diese Erfahrung einer langsamen, aber unausweichlichen Trennung in das eigene Selbst einschreiben kann.
Ähnlich emotional kann natürlich auch die ersehnte Ankunft oder Rückkehr sein, bei der sich schon lange vor dem eigentlichen Erreichen des Ufers erst das Land, dann der Ort, dann vielleicht einzelne Menschen abzeichnen. Bis dann, endlich, wieder das gelobte Land unter den Füßen oder ein geliebter Mensch in unseren Armen liegt.
Lars Frers ist Professor am Institut für Kultur, Religion und Gesellschaftskunde an der Universität Sørøst-Norge in Notodden, Norwegen und leitet dort das Promotionsprogramm im Bereich Kulturstudien. Früher einmal war er Vogelwart auf einer Ostfriesischen Insel.
Quellen
Ahola, Markus: “Tracing Passenger Safety Perception for Cruise Ship Design,” Dissertation, Aalto University School of Arts, Design and Architecture, 2017
Lars Frers: Einhüllende Materialitäten – Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals. Transcript Verlag. Bielefeld, 2007
Diane Royal und Sharon R. Roseman: “Co-Passengering and the Gendering of a Mobile Ferry Space.” Journal of Transport Geography 92, 2021
Sang, Senyao, and Lingjun Huang: “Sea Ferry Travel: The Tourists’ Liminal Experience on the Ferry.” Tourism Review 78, no. 1: 260–72, 2023
Phillip Vannini: Ferry Tales. Mobility, Place, and Time on Canada’s West Coast. Routledge, 2012