Was sehen Sie hier, Thomas Suddendorf?

Ein Bild, zwei Fragen: Zwei Personen beim morgendlichen Zeitunglesen vielleicht? Thomas Suddendorf nimmt uns mit in die Geschichte von Zeitreisenden.

Die Illustration zeigt ein Mann, der eine Zeitung liest und eine Frau, die gegenübersitzt und auf ein Klavier schaut
Zwei Menschen beim Zeitunglesen: Kommen sie vielleicht von einer anderen Zeit? © Andrea Ventura für Psychologie Heute

„Sie befanden sich nun irgendwo in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Kein Computer. Keine Bildschirme. Er hatte sich eine Zeitung besorgt – bedrucktes Papier, das die Nachrichten von gestern übermittelte. Über die Zukunft war wenig zu lesen – ein Artikel spekulierte über Siedlungen auf dem Mars, ein anderer über interkontinentale Post via Atomraketen. Ansonsten gab es noch ein Horoskop, welches die Menschen in zwölf verschiedene Schicksale aufteilte und nur vage Andeutungen vorhersagte. Über das, was die Zukunft wirklich bringen würde – Internet, Biotechnologie und Klimawandel –, war nichts zu lesen; geschweige denn von Zeitreisenden wie ihnen.

Sie hatte sich damit abgelenkt, zu verstehen, wie die Partitur in Musik umzusetzen sei. Aber das Konsumieren von Musik stellte sich als viel einfacher heraus als das Produzieren. Wie würden sie den heutigen Zeitgenossen beibringen können, dass sie einiges radikal anders machen müssten, um die Zukunft besser zu gestalten? Sicher nicht mit Musik. Sie könnten versuchen, eine Anzeige in die Zeitung zu setzen, die akkurate Prognosen enthielte. Aber wer würde ihnen glauben? Und selbst dann, wer würde die notwendigen Änderungen herbeiführen, wenn die Zeitung voller anderer akuter Probleme und Konflikte ist?

Er las weiter über Drohungen und Krieg. Sie dachte an eine Melodie in Moll.“

Was könnte Ihre Bildbeschreibung mit Ihnen persönlich zu tun haben?

„Der menschliche Geist ist eine virtuelle Zeitmaschine, mit der wir vergangene Ereignisse wiedererleben und uns zukünftige Situationen vorstellen können. Seit 30 Jahren erforsche ich diese Fähigkeit, auf mentale Zeitreisen zu gehen: wie sie sich in Kindern entwickelt und welche Rolle sie in unserer ­Evolution spielte und was wir besser machen können. Natürlich sind wir keine Wahrsager und brauchen Notfallpläne. Paradoxerweise leitet sich ein Großteil der Kraft der Voraussicht aus unserer eigenen Bewusstheit ihrer Grenzen ab.“

Thomas Suddendorf ist Psychologieprofessor an der University of Queensland in Australien. Seinem erfolgreichen Buch Der Unterschied folgte 2022 das bisher nur in Englisch erhältliche The Invention of ­Tomorrow. A Natural History of Foresight.

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