Das Gespräch – ein Plädoyer ​

​Chatten, twittern, talken: Statt miteinander zu sprechen, reden wir heute häufig aneinander vorbei. Doch was macht ein gutes Gespräch eigentlich aus?

Die Illustration zeigt Menschen, die sich in verschiedenen Situationen miteinander unterhalten, beim Kaffee, am Tisch, auf der Bank, als Paar, unter Freunden und beim Vorstellungsgespräch
Ein gutes Gespräch ist weit mehr als nur ein Austausch von Informationen. © Michael Szyszka

Eine Zeitlang lebte ich in einem Dorf, in dem es einen kleinen Lebensmittelladen gab. Er wurde von einer älteren Frau geführt, und da ich fast jeden Tag hineinging, um etwas einzukaufen, kam ich mit ihr oft ins Gespräch. Wir sprachen übers Wetter, über Ereignisse im Dorf, über die stets gleich schlechte Geschäftslage, über kleine Veränderungen im Laden. Von politischen oder gar persönlichen Dingen anzufangen wäre uns nicht in den Sinn gekommen.

Unsere Unterhaltungen liefen immer in einem relativ genau…

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relativ genau abgezirkelten Themenspektrum ab. Damals wurde mir klar, dass der Austausch über das Nächstliegende und angeblich Belanglose schon immer eine elementare Rolle im sozialen Leben gespielt haben muss.

Im Verständnis vieler Zeitgenossen ist ein persönliches Gespräch dann auch ein ungezwungener Austausch über alltägliche Dinge. Es soll der Entspannung und der Unterhaltung dienen. Unterredungen dieser Art werden ohne Zielsetzung begonnen, können jeden nur vorstellbaren Verlauf nehmen und jederzeit abgebrochen oder beendet werden. Sie dienen der Pflege der Gemeinschaftlichkeit unter Freunden und Bekannten. Gerne wird dabei gegessen und getrunken.

Chatten und Twittern

In letzter Zeit erlebte man die Ausweitung der privaten Konversation auf größere Kreise von „Freunden“. In den digitalen Medien wird gechattet und getwittert. Viele freuen sich über die Möglichkeit zur potenziell unendlichen Vergrößerung der Zahl der Gesprächsteilnehmer. Andere verachten das angebliche Geschwätz, das dabei entsteht. Wieder andere fürchten die stillen Teilhaber, die unsere Daten sammeln und das freimütig Preisgegebene auswerten.

Unermüdlich schauen wir heute auch anderen beim Plaudern und Streiten zu, in den täglich präsentierten Diskussionssendungen. Der ein wenig aus der Mode gekommene Ausdruck „Talkshow“ deutet auf die Inszenierung hin, der die Gespräche hier unterliegen. Sie dient bei allem thematischen Anspruch gleichermaßen der unterhaltsamen Informierung derer, die nicht daran teilnehmen, und der öffentlichen Profilierung derer, die darin auftreten.

Der Zauber des Schweigens

Wenn Gespräche vor allem mit Small Talk und aller Art von Palaver gleichgesetzt oder in routinierter Inszenierung als Infotainment vorgeführt werden, versteht man, dass manche Zeitgenossen den Niedergang der gegenwärtigen Gesprächskultur beklagen. Aus dem Übermaß an oberflächlicher Konversation erwächst das Verlangen nach einem richtigen, einem intensiven, einem „guten“ Gespräch. Festzustellen, was ein Gespräch für alle Teilnehmenden lohnenswert macht, ist alles andere als einfach. Die Zwiesprache zwischen Bekannten hat von vornherein eine andere Bedeutung als eine zwischen Fremden, die sich zum ersten Mal treffen.

Unterhaltungen zwischen zwei miteinander befreundeten Menschen weisen einen anderen Charakter auf als die Gespräche zwischen einem Therapeuten und seinem Patienten oder zwischen Goethe und Eckermann. Und dann sind da noch die berüchtigten Gespräche zwischen Eheleuten, die von Statistikern gerne in Zeitspannen vermessen werden.

Gerade Menschen, die den Alltag teilen, können den Gesprächsfaden verlieren und müssen vielleicht die Hilfe Dritter bemühen, um ihn wiederzufinden. Ebenso klar ist, dass Paare, die schon länger zusammen sind, anders miteinander reden als solche, die gerade zu einem Paar werden. Gar nicht zu überschätzen ist in manchen Momenten der Zauber des Schweigens.

Für jede Situation gibt es eine kommunikative Norm

Von Prüfungs-, Vorstellungs- und ­Eignungsgesprächen über Verkaufs-, Markt- und Koalitionsgespräche bis zu Verhören, Verhandlungen, Sitzungsdiskussionen und Beichtdialogen – es gibt kaum eine Situation, die nicht eine ihr entsprechende kommunikative Norm kennt. Wer in die Welt der funktionalisierten Gespräche eintaucht, sollte realisieren, in welcher Lage er oder sie sich konkret befindet, und fähig sein, zwischen den unterschiedlichen Positionen und Hierarchien in offiziellen Formaten zu unterscheiden und die jeweils angemessene für sich zu wählen.

Letzten Endes bewegen wir uns zwischen zwei Extremen, wenn wir in diese Sphäre eintreten; wir schwanken zwischen dem Stress, die eigene Rolle zu finden, und dem Spiel, das wir spielen müssen, um sie auszufüllen. Dabei müssen wir die strategischen Rollen der Mit- und Gegenspieler immer wieder neu überprüfen. Rede ist hier zumeist Widerstreit und Überzeugungsarbeit. Wer die Lust am Streiten und die Bereitschaft für diese Arbeit aufbringt, wird darin besser bestehen als die Verzagten, die schon vorher wünschen, es möge vorbei sein. Es liegt auf der Hand, dass man gerade auf diesem Gebiet lebenslang dazulernt.

Solche normierten Diskurse sind im sozialen Verkehr notwendig, geistige Anregungen oder Erlebnisse von echtem Austausch erwarten wir jedoch noch immer woanders, vom Zusammenleben. Intensiver Austausch bietet die Aussicht auf die spontane Öffnung eines Zwischenraums der individuellen Verständigung, ja Übereinstimmung zwischen zweien oder mehreren.

Neue Perspektiven, lebendiger Austausch

Gespräche nehmen in realer Gegenwart eine zentrale Rolle im Selbstverständnis des Individuums ein. Sie stellen das Selbstbild auf die Probe und kontrastieren es mit anderen Positionen. In ihnen arbeitet das Ich mit seinem Gegenüber an sich selbst. Standpunkte, Meinungen, Vorurteile werden zur Disposition gestellt und büßen nicht selten ihre Standhaftigkeit ein. Neue Perspektiven entstehen oft erst, während man miteinander spricht. Wir suchen den lebendigen Austausch, um nicht im Selbstgespräch zu erstarren und die eigene Entwicklung in der Auseinandersetzung mit anderen offenzuhalten.

Mit der Aufklärung begann die Zeit der Idealisierung und Kultivierung der Wechselrede zwischen gleichberechtigten Menschen. Im intensiven Dialog, der sich oftmals in Briefwechseln niederschlug, und in kleineren Gesprächszirkeln ging es vor allem um Gefühle. Miteinander sprechen und Freundschaft schließen wurden in eins gesetzt.

Erst das Gespräch bringt die Seelenverwandtschaft ans Licht, auf der eine Freundschaft gegründet werden kann – das war die Maxime, und sie ist es immer noch. Vielleicht nur im Gespräch entfalten sich die Bedingungen der Möglichkeit, einander zu erkennen. Auch eine Liebe auf den ersten Blick müsste in einer eigenen Form von Gespräch noch kommuniziert werden.

Die Öffnung der Ich-Kapsel

Kürzlich zog ich ein Buch aus dem Regal, das mir Jahre zuvor ein langjähriger Freund geschenkt hatte. Es enthielt eine Widmung: „dass ein Gespräch wir sind“. Dabei handelt es sich um einen Vers aus Friedrich Hölderlins Gedicht Die Friedensfeier, also um ein Zitat aus der Zeit, in der man das Gespräch als Modus der inneren Übereinstimmung und Praxis der Seelenverwandtschaft entdeckte. Die wiedergefundene Widmung ließ mich innehalten. Ich dachte zurück an die zahllosen Unterhaltungen, die ich mit dem Freund geführt hatte, und auch daran, dass ich den Eintrag des Mottos in das Buch damals als Bestätigung eines lange gehegten Gefühls der Übereinstimmung wahrgenommen habe.

Sich immer wieder zu einem gemeinsamen Dialog zusammenzufinden, ja gar nichts anderes miteinander tun zu wollen, als sich stundenlang miteinander zu unterhalten, ist eine ganz außergewöhnliche Erfahrung, die wir mit bestimmten Menschen jeder Zerstreuung vorziehen. Vermutlich liegt dieser Reiz in der Balance zwischen der Bereitschaft zuzuhören und dem Begehren, sich mitzuteilen, die von beiden Seiten im selben Maß angestrebt wird. Allein dieses gemeinsam zu erzielende Gleichgewicht herzustellen und aufrechtzuerhalten ist eine Wohltat. Dabei kommt es im Idealfall zur Auflösung der mentalen Wappnung, die im Alltag dazu verhilft, das Ich von den anderen abzugrenzen.

Dieses Visier einmal ganz zu öffnen bedeutet nicht, dass man alles vorbehaltlos preisgibt, was einem im Innersten betrifft. Ganz im Gegenteil. Die Öffnung der Ich-Kapsel tritt ein, wenn man sich dazu in der Lage sieht, in eine gemeinsame Choreografie der Wechselrede zu kommen, eine Art gedanklichen und sprachlichen Tanz, in dem es darum geht, dass man das, was zum Ausdruck gelangt, gemeinsam hervorbringt und zugleich auch weiß, dass man diesen Akt jetzt und hier zusammen vollzieht.

Gesteigerte gemeinsame Gegenwärtigkeit

Ein solches ideales Zwiegespräch organisiert sich selbst. Es findet seine Wege, indem es voranschreitet. Der Genuss besteht darin, dass die Gedanken nicht von mir oder dir allein, sondern von beiden in eine sprachliche Form gebracht werden. So entsteht die gesteigerte Erfahrung des Zusammenseins zugleich mit der Fortführung einzelner Gedanken und ganzer Themen. Die Erfahrung gesteigerter gemeinsamer Gegenwärtigkeit reizt zur Abschweifung und zum Scherzen, wodurch der Genuss nochmals gesteigert wird. Ein solcher Dialog ist dazu geeignet, das Selbstwertgefühl beider Teilnehmer zu stärken, und verlangt nicht zuletzt deshalb nach Wiederholung.

Gewiss machen wir die Erfahrung einer Idealkommunikation im Dialog nur selten. Auch unter guten Freunden wird sie oft nicht erzielt. Sie zu erwarten wäre sicherlich falsch und würde jede Gesprächssituation von vornherein überfordern. Es passiert stattdessen oft, dass man den Eindruck gewinnt, was in den anderen von der eigenen Rede reflektiert wird, sei in einem Zerrspiegel gelandet. Dann wird man sich um eine Korrektur bemühen. Im Prinzip gilt: Nicht die ideale Übereinstimmung ist der Normalfall, sondern die Arbeit am Dialog, an der grundlegenden Verständigung der Teilnehmenden.

Hin und Her der Stimmen und Meinungen

Jenseits der seltenen Erlebnisse von Übereinstimmung ist das Gefühl, nicht oder nur teilweise verstanden zu werden, auch eine Bedingung dafür, ein Gespräch weiterzuführen. Wir sprechen miteinander, weil wir uns noch nicht richtig verstanden haben. Und wir wissen, dass der Punkt, an dem wir das getan haben werden, das Ende des Gesprächs markieren würde. Genau deshalb ist nicht davon auszugehen, dass dieser Punkt überhaupt erreicht werden soll.

Indem die Debatten und Diskussionen immer neuen Bedarf an Widerrede, Korrektur, Erweiterung und Vertiefung erzeugen, kommt das Hin und Her der Stimmen und Meinungen überhaupt erst zustande, in das man sich je nach Lust und Bedarf einschalten kann. Ob Diskurse ein Ziel oder ein Ergebnis haben, bleibt offen. Meist hören sie einfach auf, schlafen ein oder werden von anderen Debatten verdrängt.

Gespräche sind fragile Prozesse, die häufig scheitern. Ich allein habe es nicht in der Hand, wie sich eine Unterhaltung gestalten wird. Was ich zuvor mir zurechtlege und von dem ich überzeugt bin, es einzubringen, kann einfach außen vor bleiben, wenn das Wechselspiel von Rede und Gegenrede in Gang kommt.

Alltägliches Live-Erlebnis ohne Drehbuch

Deshalb ist es nicht sinnvoll, mit einer Themenliste in eine private Unterhaltung zu gehen. Nicht weniger abwegig erscheint es, ein in der näheren Zukunft liegendes Gespräch im Geiste vorwegzunehmen und durchzuspielen, auch wenn sich das manchmal gar nicht vermeiden lässt. Das Wesen des Gesprächs liegt im Augenblick seines Stattfindens. Es ist das alltägliche Live-Ereignis, das kein Drehbuch kennt.

Auch schon in der Antike wusste man um die zentrale Bedeutung des Gesprächs für das soziale und kulturelle Leben. Platons Dialoge sind archetypische Formen einer das Denken Europas prägenden Praxis des Philosophierens. Das Gespräch ist bei ihm eine unübertreffliche Methode der Erkenntnis. Seine Kunst sollte aber auch schon im Altertum vor allem erlernt werden, um den Austausch miteinander angenehmer zu gestalten.

Im Gespräch zeige sich demnach das Ethos der Teilnehmenden, also ihre innere Haltung dem Leben und den Mitmenschen gegenüber. Es sollte so geführt werden, dass sich bestimmte Formen des Umgangs miteinander bewähren und zur Wiederholung einladen. Aristoteles nennt Freundlichkeit, Aufrichtigkeit und Heiterkeit als Voraussetzungen, um dieses Ziel zu erreichen. Insgesamt steht bei ihm das Gespräch unter der ­Maxime der Angemessenheit, womit vor allem die Einfühlung in die jeweilige ­Situation und in die Gestimmtheit der ­Gesprächsteilnehmer gemeint ist, verbunden mit dem Verzicht, das eigene Ego in den Vordergrund zu rücken.

Das Gerücht setzt die Gemüter unter Strom

Gespräche sollten auf einer mittleren Gemütsebene geführt werden, weder zu erregt noch zu entspannt, weder besonders eifrig noch zu zurückgenommen. Aristoteles sieht das Gespräch als unterhaltsame und kreative Beschäftigung an, die vor allem der Erholung dient. Dazu sollte es einen jederzeit kontrollierten Rhythmus von Ernst und Scherz entfalten und am Leitfaden einer rücksichtsvollen Ironie verlaufen. Ziel sei nicht das Überzeugen, Rechthaben oder die Erlangung der Meinungshoheit, sondern das allseitige Wecken der Lust auf Wiederholung.

Im Alltagsgespräch reden wir am liebsten immer noch darüber, was es Neues gibt. Neuigkeiten zu erfahren oder mitzuteilen sind zwei gleich stark ausgebildete Bedürfnisse. Ihr Zusammentreffen in einer Begegnung hält das Gespräch erst einmal aufrecht. Eine noch stärkere Wirkung entfaltet das Gerücht. Es setzt die Gemüter oft regelrecht unter Strom, auch wenn man in der Folge damit beschäftigt ist, es zu widerlegen, abzuschwächen oder das Reden darüber als unstatthaft zu tadeln. Gerüchte, so könnte man meinen, werden vor allen Dingen deshalb in die Welt gesetzt, um Gespräche anzuregen.

Teilnehmer und zugleich Rezensent

Ein einmal begonnenes Gespräch geht weiter, wenn einer seine Meinung zu einer Sache äußert und diese dann begründen muss. Dabei hören ihm die anderen zu und beobachten ihn zugleich. Schafft er es, überzeugende Argumente zu liefern, oder scheitert er bei diesem Versuch?

Dasselbe gilt für Erzählungen, die in Unterhaltungen eingeflochten werden. Auch sie unterliegen einer spontanen, oft gar nicht bewusst durchgeführten Plausibilitätsprüfung. So sind die Teilnehmenden immer zugleich auch Rezensenten des Gesprächsverlaufs. Sie beurteilen, ob eine bestimmte Art, miteinander zu reden, die Qualität der angerissenen Themen, bestimmte Witze überhaupt passen und hinnehmbar sind. Sobald man in ein Gespräch eintritt, findet man sich in einem Wettstreit von Urteilen wieder, die permanent über seine Qualität und seine ­Lebensdauer befinden.

Dieser Wettstreit war anscheinend immer schon entschieden gewesen, als ich früher in meinen kleinen Dorfladen kam und mit der Ladenbesitzerin sprach. Unser Gespräch übers Wetter ist uns damals eigentlich immer geglückt.

Prof. Dr. Christian Schärf leitet seit 2013 das Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität Hildesheim. Er hat verschiedene Sachbücher veröffentlicht, darunter 2013 den Band Der Wunsch zu schreiben. Zudem ist er als literarischer Autor tätig; 2016 erschien sein Roman Die Reise des Zeichners

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2019: Stille