Die Geister aus der Flasche

Wie entsteht eine Alkoholsucht und kann sie therapiert werden? Juliane und Marius berichten, wie es ist immer mehr an die Abhängigkeit zu verlieren.

Eine Frau hält sich einen Leuchtstab vor die Augen, hinter ihr ist eine Thekenbar mit vielen alkoholischen Getränken in Flaschen
Ob mit einem geplanten Entzug oder allein im Geheimen: Aus der Sucht zurück ins Leben zu finden ist ein harter Kampf. © Jannis Chavakis für Psychologie Heute

Es ist der Moment der Entscheidung, der ihn berauscht. Mehr noch als die Flasche Wein und die drei Flaschen Bier, die er sich danach im Supermarkt hinter seinem Haus besorgt. „Na komm – nur drei Bier. Du musst ja nicht gleich ausflippen“, flüstert das Teufelchen auf seiner Schulter. „Du bist abhängig“, warnt ihn das Engelchen. „Trink einen Liter Wasser oder geh kalt duschen, dann denkst du nicht mehr dran.“„Keine Lust“, entgegnet das Teufelchen. „Ich weiß was Einfacheres.“„Was willst du denn noch…

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mehr dran.“„Keine Lust“, entgegnet das Teufelchen. „Ich weiß was Einfacheres.“„Was willst du denn noch verlieren?“, fragt das Engelchen. „Reichen Führerschein, Job und Gesundheit nicht?“„Diesmal passiert nichts. Ja, diesmal wird es anders.“

Er weiß, es wäre unvernünftig. Eigentlich hat er es sich verboten. Aber irgendwie fühlt es sich auch aufregend an, fast wie eine kleine Revolution. Zumindest für den Moment, bevor der Kick zum Zwang wird. Den zweiten Gang zum Supermarkt kann er schon nicht mehr genießen. Aus Bier und Wein wird Gin, aus dem Moment werden Tage, die vorbeirauschen, während er sich in seiner Wohnung einschließt. Die Wochen der Nüchternheit sind langsam vergangen, der Rückfall geht ganz schnell.

Ein paar Wochen später steht Marius Steiger vor dem Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Berlin und zieht an seiner E-Zigarette, während er sich erinnert. Er trägt Schiebermütze und Lederstiefel, durch seine Hornbrille schaut der Mittdreißiger auf die große Glastür der Notaufnahme, durch die er im Dezember seinen fünften Entzug antrat. 0,17 Promille, fast nüchtern, nur so viel Alkohol im Blut, dass er das Zittern und Schwitzen in den Griff bekam.

3,8 Promille

Zwei Tage zuvor hatte er einen Termin zur Aufnahme vereinbart und danach begonnen, den Alkohol abzusetzen, „das Gröbste hinter sich zu bringen“, wie er sagt. Hauptsache nicht noch einmal mit 3,8 Promille dort aufschlagen und vom Krankentransport auf die Entzugsstation gebracht werden. Nicht noch einmal von der Security zur Straßenbahn begleitet werden, weil er aggressiv wurde. Nicht noch einmal in der geschlossenen Psychiatrie aufwachen, weil er im Rausch Suizidgedanken äußerte.

Marius ist einer von 1,6 Millionen Menschen in Deutschland, die alkoholabhängig sind. Er gehört außerdem zu den rund 163.000 Menschen, die deswegen in ärztlicher Behandlung sind. Sein erster Entzug war 2020, sein letzter liegt zu diesem Zeitpunkt erst wenige Wochen zurück. Aktuell steht er auf der Warteliste für seine zweite mehrwöchige Langzeittherapie, die sogenannte Entwöhnungsbehandlung, die Betroffene zusätzlich an den deutlich kürzeren Entzug anhängen können, um nicht nur körperlich zu entgiften, sondern sich auch psychologisch mit ihrer Sucht auseinanderzusetzen.

Er ist 35 Jahre alt und macht eine Ausbildung zum Erzieher; gerade arbeitet er aber nur die halbe Woche in der Kita, die Berufsschule hat er für ein paar Monate pausiert. Offizieller Grund: Depression. Marius heißt in Wirklichkeit anders, aber möchte nicht erkannt werden, weil weder sein kleiner Sohn noch die Mutter seines Sohnes und auch nicht der Arbeitgeber von seiner Krankheit wissen.

Wodka auf der Toilette

Juliane Reinhardt balanciert zwischen matschigen Pfützen über einen Trampelpfad, der den See hinter der Klinik einrahmt. Sie muss kurz stehenbleiben, legt ihre Hand auf den Bauch und atmet einmal tief durch. Eben hat sie noch erzählt, wie sie vor sechs Jahren heimlich den Obstler aus den Schreibtischschubladen ihrer Kollegen in den Kaffee schüttete und in der Mittagspause kleine Flaschen Wodka besorgte und auf der Toilette trank, in der Hoffnung, es würde niemand riechen.

„Mir wird schlecht, wenn ich daran denke“, sagt sie und schüttelt sich. Auch Juliane ist alkoholabhängig und auch sie heißt eigentlich anders. Sie ist im Programm der Anonymen Alkoholiker und möchte deshalb nicht erkannt werden. Ihr letzter Rückfall liegt schon fast fünf Jahre zurück. Damals kam sie im Anschluss an ihren Entzug hierher nach Lindow, etwa eine Autostunde von Berlin entfernt, und begann in der Salus-Klinik eine dreimonatige Entwöhnungsbehandlung.

Auf einem Steg, der von Schilf umgeben in den See ragt, setzt sie sich auf eine der Holzbänke. Fast so wie damals, im Sommer 2018, da saß sie hier und weinte. „Ich hatte den schlimmsten Liebeskummer meines Lebens“, sagt sie jetzt und schaut über das Wasser, das sich in der strengen Februarluft kräuselt. „Ich hatte das Gefühl, meinen besten Freund zu verlieren.“

Juliane ist 46 Jahre alt und Promoterin für Musikerinnen und Musiker, immer in Sneakers und mit einem schwarzen Käppi über dem blonden Pferdeschwanz. Früher arbeitete sie für ein großes Musiklabel, ihre Karriere dort endete kurz vor ihrem letzten Entzug. Heute ist sie selbständig und zurück in der Branche, in der so lange niemand bemerkte, wie viel sie trank, weil der Alkohol dort zum Tagesgeschäft gehörte. Ein Glas Champagner zur Feier der goldenen Schallplatte, ein Feierabendbier im Büro, nach der Show ein Longdrink an der Hotelbar.

Der gläserne Moment

Zwei Menschen, die alkoholabhängig sind: der eine seit ein paar Wochen trocken, die andere schon seit Jahren. Er hält seine Sucht geheim, bei ihr wissen es nicht nur Familie und Freunde, sondern auch Kolleginnen und Kunden. Der eine zeigt, wie gläsern der Moment ist, in dem man versucht aufzuhören; die andere, wie schwierig die Abstinenz bleibt – auch wenn die Entgiftung schon lange zurückliegt. Zwei Menschen, die viel gemeinsam haben und deren Parallelen etwas darüber erzählen, was das für eine Krankheit ist, an der so viele heimlich leiden und die nach wie vor stigmatisiert bleibt.

Beide haben gelernt, wie oft einen die Sucht austrickst. Beide wissen, wie viel Zeit und Energie es kostet, das Trinken vor anderen zu verstecken. Beide haben Beziehungen, Jobs und Gesundheit an den Alkohol verloren. Beide wurden schon von der Notaufnahme nach Hause geschickt, weil keine Betten auf der Entzugsstation frei waren. Und beiden wurde gesagt, dass sie so lange weitertrinken sollten, bis ein Platz frei werde, weil der kalte Entzug ohne Aufsicht und Medikamente lebensgefährlich sei. Beide dachten schon einmal, dass es einfacher wäre, wenn sie stürben.

Deutschland ist laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen ein Hochkonsumland: Pro Jahr trinkt jeder Erwachsene im Schnitt zehn Liter reinen Alkohol. Bei etwa neun Millionen Menschen liegt der Konsum im problematischen Bereich, knapp acht Millionen trinken so viel, dass sie ihre Gesundheit riskieren. Etwa 74.000 Menschen sterben jährlich an Alkoholkonsum allein oder durch die Kombination mit Tabakkonsum. Doch woran entscheidet sich, wer abhängig wird?

Bier im Kinderzimmer

Alkoholabhängigkeit ist eine Erkrankung, die sich anhand einer Reihe von Kriterien diagnostizieren lässt. In der elften Auflage der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) sind diese Kriterien zu Zweierpacks zusammengefasst: Sie umfassen das starke Verlangen nach der Substanz und die fehlende Fähigkeit, den Konsum zu kontrollieren; eine zunehmende Priorisierung des Konsums gegenüber anderen Aktivitäten und die Fortsetzung des Konsums trotz negativer Konsequenzen; die Toleranzentwicklung gegenüber der Substanz und körperliche Entzugssymptome. Nach dem ICD-11 ist abhängig, wer zwei dieser drei Doppelkriterien erfüllt. Sie gelten für Alkohol genauso wie für jede andere Suchtsubstanz.

Marius Steiger probierte bereits mit 13 Jahren Sangria, mit 16 Jahren rauchte er auf einer Abschlussfahrt seinen ersten Joint und bunkerte seitdem Cannabis und einen Kasten Bier in seinem Kinderzimmer. Seine Eltern, sagt Marius, hätten ihm das durchgehen lassen – obwohl sein Vater trockener Alkoholiker sei. Dass er selbst zu viel trank, ahnte der Sohn früh, nahm es aber in Kauf.

Bis es zu einem Problem wurde, sollten noch Jahre vergehen. Als er in seine Dreißiger kam und seine damalige Freundin vorschlug, weniger zu trinken, begann er den Alkohol zu verstecken. Bier im Keller, Schnaps im Keller, Schnaps im Flur- und Badezimmerschrank. Irgendwie schaffte er es ­immer, es so zu drehen, dass sie vorher gemeinsam wenigstens ein Feierabendbier tranken, damit es nicht auffiel, wenn sein Atem roch. Die Sucht, sagt er, mache einen zum Meisterlügner.

Die Kneipe bekommt ein Like

Wann er Alkoholiker wurde, kann Marius ungefähr einordnen: Als ihm sein Leben zu entgleiten begann, er seinen Job verlor, seinen Führerschein. Spätestens als vor etwa zwei Jahren die Entzugssymptome begannen, das starke Verlangen, zum Teil mitten in der Nacht, weil der Schlaf ihn vom Trinken abhielt; das Zittern, das Schwitzen. Da wusste Marius, dass er die Kontrolle verloren hatte.

Warum er Alkoholiker wurde, weiß er allerdings nicht. In der Straßenbahn auf dem Rückweg von der Klinik muss er lange darüber nachdenken. „Wenn ich das wüsste, hätte ich es vielleicht leichter, dagegen anzugehen.“ Andere tränken, weil sie in der Kindheit etwas Schlimmes erlebt hätten, das sie jetzt aufarbeiten müssten. Manchmal hätte er auch gerne so einen Grund. „Ich hab’s ausprobiert, fand’s geil und hab’s weitergemacht“, sagt er und zuckt mit den Schultern.

„Alkoholabhängigkeit ist eine Alkoholfolgeerkrankung“, sagt Falk Kiefer, ärztlicher Direktor am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Man entwickele eine Sucht vor allem deshalb, weil man ein Suchtmittel über einen gewissen Zeitraum in einer bestimmten Menge konsumiere. Der biologische Kern der Abhängigkeit liege in dem Effekt des Suchtstoffs auf bestimmte neuronale Netzwerke: Jedes Mal, wenn man trinke, speichere man das Setting des Konsums positiv ab.

„Das Katzenbild kriegt ein Like auf Facebook und die Kneipe, in der Sie getrunken haben, kriegt ein Like in Ihrem Gehirn, weil durch den Alkoholkonsum Dopamin ausgeschüttet wird. Die Kneipe wird dadurch relevant und attraktiv für Sie. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass so, wie Sie bei Facebook irgendwann nur noch Katzenbilder gezeigt bekommen, Sie im Extremfall nur noch Gelegenheiten zum Trinken sehen“, erklärt der Suchtexperte. „Alles andere ist außerhalb der Filterblase.“ Die Gründe, warum man angefangen hat zu trinken, sind vielfältig: Alkohol entspannt, berauscht, baut Hemmungen ab. Man trinkt, weil es einem guttut oder einen vergessen lässt. Gelegenheit macht Konsum und der Konsum verselbständigt sich.

Impulsivität und Ressourcen

Es gibt Faktoren, die Menschen anfälliger dafür machen, eine Abhängigkeit zu entwickeln. Zum einen spielt die genetische Veranlagung eine Rolle: Bereits Zwillingsstudien in den neunziger Jahren fanden heraus, dass das genetisch bedingte Risiko, alkoholabhängig zu werden, bei mindestens 35 bis 40 Prozent liegt. Dabei gibt es nicht das eine „Sucht-Gen“, sondern das Zusammenspiel verschiedener Gene macht eine Abhängigkeit wahrscheinlicher. Zum Beispiel ist belegt worden, dass Menschen, die viel Alkohol vertragen, auch dazu neigen, mehr zu trinken und entsprechend eher abhängig zu werden als andere.

Auf diese Disposition trifft dann möglichweise noch ein Umfeld, das einem schon früh das Trinken näherbringt. So haben Kinder von alkoholabhängigen Eltern ein erhöhtes Risiko, selbst abhängig zu werden. Diese biopsychosozialen Faktoren sind wiederum eingebettet in eine Gesellschaft, in der Alkohol jederzeit verfügbar und sozial akzeptiert ist. Gerade bei jungen Menschen zwischen 13 und 25 Jahren wirkt sich der frühe Konsum von Suchtmitteln stärker aus, weil bei ihnen die Hirnreifung noch nicht abgeschlossen ist.

Warum unter ähnlichen Bedingungen der eine süchtig wird und die andere nicht, ist noch nicht abschließend geklärt. Bei der Suche nach bestimmenden Merkmalen tauchten allerdings immer wieder auch Stigmatisierungen auf, berichtet Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin. Während man früher annahm, dass Süchtige willensschwach seien, spreche man heute häufig von „Impulsivität“. „Das ist nicht viel netter“, sagt Heinz. „Man übersieht außerdem dabei, dass Impulsivität auch von der sozialen Stellung abhängt.“

Nicht jeder verfüge von Haus aus über die gleichen Ressourcen, um Belohnungen (wie Alkohol) aufzuschieben – was dann aber als Zeichen der Impulsivität gelte. Viele hätten auch weniger Ressourcen, um negativen Gefühlen zu begegnen, und möglicherweise Gewalt erlebt, wie es insbesondere nach dem Alkoholkonsum bei Männern häufiger vorkomme. Was also als individueller Charakterzug interpretiert wird, wurzelt in strukturellen Verhältnissen, die bei der Untersuchung von Abhängigkeit miteinbezogen werden müssen.

Konsum als Schutz

Juliane Reinhardt hat früh gelernt zu funktionieren. Ihre Mutter zog sie allein groß, litt unter schweren Depressionen, so dass Juliane sie schon als Kleinkind oft in der Psychiatrie besuchte. Die ersten eineinhalb Jahre lebte sie bei einer Pflegefamilie. Mit neun Jahren ging sie auf ein Internat, mit elf begann sie dort zu trinken, mit dreizehn probierte sie zum ersten Mal Kokain. Alkohol und Drogen halfen ihr dreißig Jahre lang, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass bei ihr alles in Ordnung sei, dass sich um sie niemand Sorgen machen müsse. Der Konsum beschützte sie. „Ich war früh allein und hab mir meine Medizin gesucht“, sagt sie, während sie über das Klinikgelände in Lindow stapft, wo sie damals endgültig Abschied vom Alkohol nahm. „Das Gefühl ist manchmal immer noch da, aber ich betäube es nicht mehr.“

Sie funktionierte bis 2016. Bis dahin war Juliane die Letzte an der Bar und die Erste, die morgens aufstand. Hauptsache nicht im Bett liegen bleiben wie die Mutter; weitermachen, Krone richten, mehr, schneller, lauter. Dabei war sie zu diesem Zeitpunkt schon seit zwei Jahren körperlich abhängig. „Aber der schlimmste Verfall begann 2016“, sagt sie. Da trank sie schon morgens und ging früher von Partys weg, um zu Hause allein weiterzutrinken.

Es war nicht so, dass die Leute es nicht bemerkt hätten, erzählt sie. „Die Reinhardt war schon wieder die Tagesvollste“, kommentierten ihre Kolleginnen und Kollegen die Party vom Vorabend. Bei Männern würden Abstürze meistens als lustig gefeiert, bei Frauen aber eher als peinlich bewertet. „Die Leute haben mir beim Verfall zugeguckt“, sagt Juliane. „Sie haben nicht weggeguckt, sie haben zugeguckt.“

Fünf Diamanten

Im Oktober 2017 schmiss sie ihren Job und machte ihren ersten Entzug – damals noch in dem festen Glauben, keine Alkoholikerin zu sein. In dem halben Jahr danach folgten vier weitere Entzüge. Zwei Wiedereingliederungsversuche bei der Arbeit scheiterten, der eine schon nach einem halben Tag. Sie ging zu den ersten Meetings der Anonymen Alkoholiker, wurde rückfällig. Ihren letzten Entzug trat sie am 28. Mai 2018 an. Vorher hatte sie sich bereits vier Diamanten auf den Unterarm tätowieren lassen, einen für jeden Entzug. Den fünften musste sie sich nachträglich stechen lassen.

Die meisten Suchtstationen in deutschen Kliniken bieten einen qualifizierten Entzug an: Er beinhaltet nicht nur die medikamentengestützte Entgiftung, sondern klärt auch über die Krankheit auf und unterstützt bei der Therapieplanung, zum Beispiel für die stationäre Entwöhnungsbehandlung im Anschluss. Die Hälfte aller Menschen, die solch einen Entzug machen, wird innerhalb des ersten Jahres nicht rückfällig. Wenn sie zusätzlich eine 12-wöchige Entwöhnungstherapie machen wie Juliane, sind es schon 70 Prozent, die im ersten Jahr trocken bleiben.

Doch von 100 Alkoholabhängigen in Deutschland begeben sich nur drei bis vier in einen Entzug und weitere drei bis vier in eine Entwöhnung. Die Zahlen geben einen Hinweis darauf, wie wenige ihre Abhängigkeit eingestehen, geschweige denn einen Behandlungswunsch formulieren. Hinzu kommt, dass zwischen Entzug und Entwöhnungsbehandlung immer noch zeitliche Lücken entstehen, so dass sich die Langzeittherapie verzögert – so wie bei Marius. Und das trotz des Nahtlosverfahrens, das 2018 eingeführt wurde und eine bessere Verzahnung garantieren soll.

Aufklärung und Angebote

Denn die Entwöhnung wird als Rehabilitationsmaßnahme eingestuft und deshalb in der Regel von den Rentenversicherungen getragen, sofern sie die Behandlung genehmigen. Andreas Heinz kritisiert diese Aufteilung. Fast noch dringlicher sei es aber, alle Übrigen in die Behandlung zu integrieren. Rund 70 Prozent der Alkoholabhängigen, so Heinz, kämen mit dem Gesundheitssystem in Kontakt, zum Beispiel weil sie einen Unfall bauten. Diesen Kontakt sollten Krankenhäuser und niedergelassene Ärztinnen und Ärzte nutzen, um zumindest kurz zu intervenieren und über Konsum und Behandlungsmöglichkeiten aufzuklären.

Es ist Sonntagabend in einem Berliner Theaterfoyer. Bis eben lief ein Musical, das Juliane Reinhardt promotet, jetzt kommt langsam die After-Show-Party in Gang. Juliane tänzelt zwischen Stehtischen umher und verteilt mit pink geschminkten Lippen Schmatzer. Das hier ist ihre Welt. Eine Dragqueen legt Musik auf, glamouröse Gäste halten sich an Proseccogläsern fest. Juliane trinkt eine Cola.

Am Anfang hatte sie Angst, nie wieder in ihren alten Job zurückkehren zu können. Doch im Sommer 2019 rief ein alter Kunde sie an, fragte, ob sie nicht wieder für ihn arbeiten wolle. „Auf keinen Fall“, dachte sie und ließ sich dann doch von ihrer Therapeutin dazu überreden. Bei dem ersten Event schwitzte sie ihr T-Shirt durch und klammerte sich an ihre Handtasche, in der sie diesmal statt des Wodkafläschchens „das blaue Buch“ trug, das Grundlagenwerk der Anonymen Alkoholiker.

Stigma der Willensschwäche

So begann ihre Selbständigkeit. Am Anfang musste sie noch in Hotels anrufen und darum bitten, dass die Minibar in ihrem Zimmer leergeräumt wird. Heute stört es sie nicht, wenn die Leute um sie herum trinken. Aber länger als eine Stunde bleibt sie bei After-Show-Partys wie dieser trotzdem nicht. Als die Lacher schon lauter und die Blicke glasiger werden, macht sich Juliane auf den Weg nach Hause. Manchmal, sagt sie, vermisse sie die Ekstase.

Marius Steiger ist jetzt seit einigen Wochen trocken und der Suchtdruck holt ihn noch regelmäßig ein. Mal weil er gestresst oder gelangweilt ist, mal weil er sich einsam fühlt. Manchmal bekommt er aber auch ganz plötzlich ohne erkennbaren Anlass Lust auf ein Bier. Und plötzlich hat das Teufelchen wieder die besseren Argumente. „Nur ein paar Flaschen, mehr nicht“, raunt es ihm zu. „Ein wichtiger Therapieerfolg ist, dass Menschen schon bewusst wahrnehmen, wenn sie in solchen Risikosituationen sind“, sagt Falk Kiefer. „Wenn dann Hilfsgedanken kommen, die eigentlich nur zum Ziel haben, einem das Trinken zu ermöglichen, dann muss man vorsichtig sein.“ „Im Kopf schon den Rückfall gebaut“, sagen sie in der Selbsthilfegruppe von Marius.

Manchmal fragt er sich, ob er sich wirklich schon entschieden hat, abstinent zu bleiben. So richtig, zu 100 Prozent. Nie mehr trinken, sein ganzes Leben lang? Den Alkohol hinter sich zu lassen heißt auch, einem Teil seiner selbst Lebewohl zu sagen. Einem Teil, den er sehr mochte. „Wenn ich noch mal von vorne anfangen könnte, hätte ich alles noch einmal genauso gemacht. Nur ohne abhängig zu werden“, sagt er.

Die Schuldfrage

Dass er es doch geworden ist, dafür gibt sich Marius selbst die Schuld. Obwohl er weiß, dass Alkoholismus eine psychische Erkrankung ist. „Ich habe das Gefühl, dass Depressionen mittlerweile gesellschaftlich anerkannt sind, das wird nicht mehr so verurteilt“, sagt er. „Und bei Alkoholikern ist es immer noch so, dass viele denken, dass es selbstverschuldet ist – weil man zu leichtsinnig war oder zu gleichgültig. Ich denke das ja selbst.“ Da ist es wieder: das Stigma der Willensschwäche.

Vor der Kirche, wo das heutige Meeting der Anonymen Alkoholiker stattfindet, umarmt Juliane Reinhardt ein paar Wartende. Seit ihrem ersten Besuch vor fünf Jahren geht sie immer noch mindestens einmal die Woche in ein Meeting, und sei es nur online. Die Frage nach ihrer Verantwortung hat sie für sich schon geklärt. „Ich bin weder schuld, noch habe ich die Kontrolle“, sagt Juliane. „Es liegt nicht in meiner Hand. Jeder, der zu den AA kommt, hat das eigentlich schon verstanden.“

Das Selbsthilfeprogramm der Anonymen Alkoholiker folgt seit seiner Gründung 1935 dem gleichen Prinzip. Es schreibt zwölf Schritte vor, die Alkoholabhängige „durcharbeiten“ sollen, begleitet von „Sponsorinnen“ und „Sponsoren“, die selbst Mitglieder sind. Der erste Schritt: zugeben, dass man dem Alkohol gegenüber machtlos ist und sein Leben nicht mehr meistern konnte. Juliane durchläuft die Schritte bereits zum zweiten Mal. – Warum die Anonymen Alkoholiker?

Abstinenz ist kein Selbstläufer

„Weil ich jetzt weiß, dass auch andere Menschen Flaschen in der Unterwäscheschublade verstecken. Dass auch andere Wodka trinken, weil sie denken, es riecht nicht. Und dass auch andere gestörte Mütter haben. Dass ich nicht allein bin.“ Die kalten Holzbänke sind voll besetzt, es gibt Tee und Kekse. Funktionsjacke sitzt neben Sakko, Sneaker neben Lederschuh. Wer spricht, nennt seinen Vornamen und stellt sich als Alkoholikerin oder Alkoholiker vor – die übrigen grüßen.

Heute steht ein besonderer Punkt auf dem Tagesplan: Die Vergabe der Abstinenzmarken. Sie beginnen mit den großen Zahlen: Wer feiert 30, 20, 10 Jahre nüchtern? Wer feiert 9, 8, 7 Jahre? Nach jeder Ansage klatscht die Menge einmal in die Hände. Jedes Mal, wenn jemand auf die Bühne kommt, um sich seine Marke abzuholen, wird aus dem Klatschen Applaus, einige johlen und pfeifen. Je kürzer der Zeitraum, der angesagt wird, desto lauter der Jubel. Sechs Monate, einen Monat, 24 Stunden. Juliane applaudiert, gratuliert einer Frau aus der Reihe vor ihr. Jeder hier weiß, wie schwierig die erste Zeit ist, aber jeder hier weiß auch, dass selbst nach Jahren das Glas nur eine Armlänge entfernt ist. Und dass die Abstinenz kein Selbstläufer ist.

Juliane schreibt jeden Morgen eine Liste mit Dingen, für die sie dankbar ist, und schickt sie an ihre Freundinnen. Jede dieser Nachrichten beginnt damit, dass sie dankbar dafür ist, nüchtern aufzuwachen und nicht trinken zu müssen. Kein Kater mehr und keine Scham. Sie ist dankbar dafür, dass sie sich wieder Telefonnummern merken und auf Bäume klettern kann. Für die Trauer, die sie fühlt, ohne deswegen trinken zu müssen. Jede Nachricht endet mit „Happy 24“ für die nächsten 24 Stunden, die sie nicht trinkt. Dahinter ein blaues Herz und fünf Diamanten.

Unterstützende Angebote

Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen: dhs.de

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: kenn-dein-limit.de/alkoholberatung

Suchtberatung Blaues Kreuz: blaues-kreuz.de/de/wege-aus-der-sucht

Anonyme Alkoholiker: anonyme-alkoholiker.de

Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie auch das Interview mit Suchtmediziner Andreas Heinz über die Toleranzentwicklung gegenüber Alkohol und die neurobiologischen Mechanismen einer Abhängigkeitserkrankung in „Oft beginnt ein Rückfall zögerlich“.

Prof. Dr. Andreas Heinz ist Psychiater und tiefenpsychologischer Psychotherapeut. Er leitet die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Campus Charité Mitte in Berlin. Heinz vertritt eine personenzentrierte Ausrichtung und Öffnung der Psychiatrie.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2023: Dinge weniger persönlich nehmen