Ein Kippbild in der Kneipe

Wir alle tragen bestimmte Urbilder in uns. Bei Schriftsteller Andreas Maier gehört dazu ein alter, rauchender Mann in einer Spelunke.

Die Illustration zeigt eine Kneipenatmosphäre, während in einem Weizenbierglas ein Männergesicht ist.
Andreas erinnert sich an einen Mann in der Kneipe, der nach dem Rau­chen die Zigarette in seinen Salat steckte - und diesen dann aß. © Jan Robert Dünnweiler

Manchmal, wenn mein Kopf nahezu stillsteht und sozusagen Pause macht, denke ich an Urbilder. Gewisse Dinge, die sich mir so eingeprägt haben, dass sie zum Fundament meines Lebens gehören, obgleich ich oft gar nicht benennen könnte, wie und warum sie das tun.

Bei wichtigen Begebenheiten ist es klar. Ich habe in meinem Leben einmal geheiratet und werde sicherlich nicht ein zweites Mal heiraten. Das heißt, das stimmt ja gar nicht! Ich habe zweimal geheiratet, jeweils gleiches Datum, aber ein Jahr auseinander,…

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zweimal geheiratet, jeweils gleiches Datum, aber ein Jahr auseinander, und zwar die gleiche Person. Erst bürgerlich, ein Jahr später kirchlich. Das war zwar aus der Not geboren, aber so hatten wir dieses schöne Erlebnis gleich zweimal. Ein Fotograf war dabei, aber im Grund überflüssig. Eine solche Erinnerung verblasst nicht. Aber sie gehört eher in die Kategorie „schönste Erlebnisse“, weniger in die Kategorie „Urbilder“.

Ein weiteres „schönstes“ Erlebnis, das ich nie vergessen werde, war zum Beispiel der Moment, als ich zum ersten Mal auf die Plose zur Bergstation heraufkam. Einige Wochen übte ich mich auf einem fast schrottreifen Fahrrad ohne funktionierende Gangschaltung daran ab, die 2050 Meter dort hinauf an jenem Berg in Südtirol zu erklimmen. Ich kam in Etappen immer ein Stück weiter. Als ich, nach Wochen, die letzten Kurven vor dem Ziel nahm und ins Tal schaute, wissend, dass ich es dies­mal schaffen würde…, diesen Schauer, der mich durchfuhr, spüre ich noch immer. Jedes Mal, wenn ich daran denke.

Aber auch das gehört in die Sparte „schönste/größte“ Erlebnisse.

Holzvertäfelung, Stammtische, Leberkäse

Urbilder, die einen nie mehr verlassen, sind oft weitaus unspektakulärer und haben mit großen Dingen wie Berg­ankünften oder Hochzeiten eher nichts zu tun. Eines fällt mir vor allem ein.

Es handelt sich um einen alten Mann in einer Gastwirtschaft. Die Gastwirtschaft ist ebenfalls alt. Es ist der Doctor Flotte in Frankfurt am Main, und zwar zu meiner Studienzeit.

Zunächst zu dem Begriff „alte Gastwirtschaft“. Das muss ich erklären, dazu habe ich einen bestimmten Bezug. In meiner kleinen hessischen Heimatstadt existierte in meiner Jugend eine solche „alte Wirtschaft“, die Schillerlinde. Holzvertäfelung, altes Buffet, Stammtische, Leberkäse, Rinderleber, samstags Grüne Soße. Der Wirt trat ebenso wie sein Vater und sein Großvater jedes Mal auf dieselbe Stelle, wenn er von seinem Buffet kam. Alle setzten ihren Fuß wörtlich auf die gleiche Stelle, so dass sich dort über Jahrzehnte ein exakter Fußabdruck eingeprägt hatte.

Dokument über Generationen

Anschließend liefen sie nach da und dort, aber der erste Schritt war genau immer dieser. Ein Dokument über Generationen! In diesem Fußabdruck war meine Zeit enthalten, die meiner Eltern, meiner Großeltern. Eigentlich die Geschichte unserer Stadt im 20. Jahrhundert. Er hatte etwas Universales. In der Linde saßen übrigens eher einfache Senioren. Sie hatten meist nicht mehr viel zu tun und verbrachten so den Spätsommer ihres Lebens, manche waren schon im Frühwinter. Dementsprechend öfter wurde weggeblieben und dann gestorben.

Diese Spätsommer/Frühwinter-Atmosphäre löste stets etwas in mir aus. Was war es? Sympathie? Zuneigung zu denen, die auf ihr Ende zugingen? Verbarg sich dahinter etwas irgendwie Philosophisches? Unterstellte ich diesen Menschen Erkenntnisse (über sich, über das Leben), zu denen ich in meinen jungen Jahren noch nicht in der Lage war? Wollte ich gar so sein wie sie? Still und herbstlich dasitzen in einem zur Ruhe und zum Ende gekommenen Dasein? Wollte ich zu ihnen, noch bevor ich mein Leben gelebt hatte, bereits dazugehören?

Vielleicht war es eine Mischung aus all dem. Natürlich liegt darin eine Verklärung und eine Projektion. Denn es handelte sich natürlich um ganz gewöhnliche Leute, die in ihrem Lebensvollzug durch überhaupt nichts besonders hervorstachen und in anderen Zusammenhängen vielleicht nicht einmal besonders sympathisch gewesen wären. Es gab garantiert sogar richtige Biester unter ihnen.

So kann ein Leben sein

Woher ich das wissen will? Nun, ich gehe bis heute in Wirtschaften, habe mich dem End-Alter bereits erheblich angenähert und habe inzwischen zahllose solcher Leute über Jahre und Jahrzehnte kennengelernt. Es zeichnet sie wirklich nichts aus, außer dass sie eben gern in der Wirtschaft herumsitzen. Es gibt die Guten und die weniger Guten darunter. (Wo ich hingehöre, weiß der liebe Gott.)

Nun aber zu dem alten Mann im Doctor Flotte, einer eher dunklen Spelunke. Seine Kleidung wirkte ärmlich, nicht stilvoll, atmete aber die Atmosphäre längst vergangener Zeiten. Unter einem abgetragenen Sakko eine Wollweste, darunter ein rustikales Hemd. Der Mann saß ungewöhnlich aufrecht und aß mit ultralangsamen Bewegungen einen Leberkäse mit Spiegelei und kleinem Salat. Wie er da still und einsam saß, gingen bei mir wieder die Gedanken los. Selbst die Handlung des Leberkäse-Essens schien bedeutsam. Sicher hatte er nur sehr wenig Geld. So kann ja ein Leben auch sein. Nicht Firmenchef auf Ledersessel, sondern alt und heruntergekommen über dem Leberkäse.

Die Finger des Mannes waren gelbbraun. Irgendwann legte er Messer und Gabel beiseite und drehte sich, ebenfalls ultralangsam, eine Zigarette. Nun lehnte er sich zurück, und ich sah, dass seine Augen völlig trübe waren, milchig, mit Flecken darin. Offenbar konnte er kaum sehen. Sah nicht gut aus.

Er rauchte.

Er aß den Salat mitsamt der Asche

Als er fertig mit dem Rau­chen war, steckte er die Zigarette in seinen Salat, offenbar dachte er, dort stehe der Aschenbecher. Natürlich äußerst unappetitlich, das Bild bekam so eine Schramme.

Nun saß er eine ganze Weile da und tat gar nichts. Nach vielleicht einer Viertelstunde hatte ich ihn längst aus der Aufmerksamkeit verloren. Als ich wieder hinschaute, sah ich, dass er seinen Salat weiter aß. Mitsamt Asche und wohl auch Zigarette. Langsam in den Backen mahlend.

Das ist dieses Urbild. Der alte Mann mit der Zigarette im Salat. Es ist ein Kippbild. Der ganze Klischee-Romantizismus der „alten Wirtschaft“ und der Herbstmänner liegt darin, aber in die Wahrheit geholt.

Vielleicht war es das, was das Bild zu mir sagte: So möchtest du doch nicht sein. Und vielleicht wirst du dermaleinst genau so.

Andreas Maier ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Auf elf Bände hat er seinen Zyklus „Ortsumgehung“ angelegt, 2021 ist der achte Band mit dem Titel Die Städte erschienen (Suhrkamp). In Psychologie Heute erdichtet er an dieser Stelle jeden Monat das Blaue vom Himmel.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2021: Gelassen durch ungewisse Zeiten