In unserer Rubrik Ist das was für mich? stellen wir jeden Monat ein Angebot aus den Bereichen Therapie, Coaching oder Beratung vor. Und Sie können entscheiden, ob das etwas für Sie ist. Dieses Mal: die Anonymen Alkoholiker.
Das sagt die Teilnehmerin
Als ich das erste Mal in ein Meeting der Anonymen Alkoholiker (AA) ging, war ich fertig mit den Nerven und starr vor Angst. Hätte ich viel nachgedacht, hätte ich höchstwahrscheinlich einen Rückzieher gemacht.
Das Stigma um Alkoholismus ist im Taburanking mindestens…
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ich höchstwahrscheinlich einen Rückzieher gemacht.
Das Stigma um Alkoholismus ist im Taburanking mindestens in den Top Five. „Lieber ein stadtbekannter Trinker als ein anonymer Alkoholiker“ ist so ein Kneipenwitz, der das Image von AA und Alkoholismus gut zusammenfasst. Problematisch zu trinken ist in Deutschland mehr als okay, abhängig zu werden und sich Hilfe zu suchen nicht. Deswegen fahren Leute stundenlang durch die Gegend, um bloß nicht dabei gesehen zu werden, wie sie sich bei den AA das Leben retten lassen. Die Organisation selbst unternimmt nichts zur Imagepflege. AA war für mich eine Blackbox.
Deswegen erwartete ich von dem ersten Meeting das Schlimmste. Also: Männer ab fünfzig mit graugelben Bärten und zitternden Händen, arbeitslos, kettenrauchend, schlecht gelaunt. Die Typen auf den dramatischen, schlecht gestalteten Schattenrissfotos, die man findet, wenn man „Alkoholiker“ googelt. Und die in Meetings gehen, um darüber zu reden, wie sehr sie das Trinken vermissen.
Es ist ganz anders. Alkoholismus ist eine Krankheit, die nicht diskriminiert. Sie trifft nicht nur eine Sorte Mensch. Du findest bei einem Meeting einen Querschnitt aller Leute aus deinem Viertel, wie im Bürgeramt: Da sitzen der Arzt, die Anwältin, der Krankenpfleger, die Taxifahrerin, die Buchhalterin, der Filmproduzent, der Blumenhändler, der Student und jetzt ich, die freie Autorin. Aktuell gerade nicht so frei, weil alkoholabhängig. Also, mutmaßlich. Ich habe immer noch Zweifel an meiner eigenen Qualifikation als Alkoholikerin.
Meine Hände zittern nicht, ich trinke nicht jeden Tag und selten allein, ich habe keine körperlichen Entzugserscheinungen, ich habe keine Entgiftungsstationserfahrung, ich habe eine perfekte Maniküre, einen sexy Boyfriend und einen coolen Job: Kann ich da wirklich süchtig sein? Es heißt, Alkoholismus ist die Krankheit, die dir einredet, dass du sie nicht hast. In meinem Fall macht sie das sehr überzeugend.
Doch dann passiert etwas Erstaunliches. All diese Menschen, die nichts mit mir und meiner Lebenswelt gemein zu haben scheinen, reden über ihre Beziehung zum Drink, und ihre Geschichten kommen mir alle sehr bekannt vor. Sie erzählen, was der Drink ihnen bedeutet hat, was sie Verrücktes gemacht, gesagt und aufgegeben haben, um nicht loslassen zu müssen. Ich verstehe: Wir sind in dieser Hinsicht alle gleich. Ich bin nichts Besonderes. Heißt auch: Ich bin nicht allein. Diese schlichte Erkenntnis hat mir gereicht. Ich habe nie wieder getrunken. Kapitulation nennen das die AA. Krankheitseinsicht nennt es die Medizin.
Mit dem Alkohol hatte ich jahrelang immer das gleiche langweilige Problem. Jetzt habe ich neue Probleme. Bessere. Die meisten Probleme lassen sich auf die gleiche Art lösen, wie man die Sache mit dem Drink gelöst hat: Der Wahrheit ins Auge sehen, sie aussprechen. Gefühle aushalten. Empathie praktizieren. Und dabei zusehen, wie andere das machen, die scheinbar nichts mit der eigenen Lebensrealität zu tun haben.
Deswegen gehe ich nach sieben nüchternen Jahren immer noch gerne in die Meetings: Man kann dort lernen, wie Leben geht. Wie man die Wahrheit sagt. Wie man sich selbst aushält. Und es ist so tröstlich, dass diese Dinge anderen auch schwerfallen. Wir sind nichts Besonderes. Heißt auch: Wir sind nicht allein.
Mia Gatow ist Autorin und Designerin. Ihr Buch Rausch und Klarheit ist kürzlich bei Goldmann erschienen.
Das sagt die Sprecherin
Wenn man als frische Alkoholikerin in eines unserer Meetings kommt, geht es erst mal nur darum, trocken zu bleiben: Trink ganz viel Wasser, pack den Alkohol aus der Wohnung raus, geh nicht auf die alten Spielplätze, komm einfach jeden Abend ins Meeting. Die Empfehlung lautet: 90 Tage, 90 Meetings. Ich fand das am Anfang schlimm – nun gebe ich es genau so weiter.
Das Programm, dem wir folgen, sind die „Zwölf Schritte“. Der erste besagt: Wir geben zu, dass wir machtlos sind und dass wir unser Leben nicht meistern können. Ich habe das selbst erst nicht einsehen wollen, mir dann aber doch wie empfohlen eine Sponsorin gesucht, ein erfahrenes Mitglied, das mindestens ein Jahr nüchtern und selbst die Schritte schon gegangen ist. Meine Sponsorin begleitet mich seit über acht Jahren, mittlerweile bin ich selbst eine. Mit ihr habe ich angefangen, das Programm durchzuarbeiten. Allein kann man das nicht, das ist Quatsch und schreckt auch viele ab. Irgendwann beginnt man dann, sich zu beteiligen, Dienste zu übernehmen, also aufzuräumen oder Kaffee zu kochen – Verantwortung zu tragen. Das ist das Wichtigste bei den AA, finde ich: Man geht sofort auch in den Dienst für andere. Es geht immer darum, sich einzubringen, was reinzutun ins Leben.
Wir haben bei den Diensten ein ganz klares Rotationsverfahren: Nach sechs Monaten wird immer gewechselt, damit keiner die Macht kriegt. Anonymität ist die wichtigste Grundlage, um die Gruppe zu schützen. Wenn wir uns klar erkennbar in die Öffentlichkeit stellen und sagen: „Ich bin nüchtern geworden durch die AA“, und dann rückfällig werden, was immer passieren kann, könnte jemand schlussfolgern: „Ach so, dann bringt das ja doch nichts.“
Die „Zwölf Schritte“ sind ein spirituelles Programm. Es geht darum, eine eigene, höhere Macht zu finden. Mit Religion hat das nichts zu tun. Gemeint ist damit, dass ich nicht mehr denke, ich bin die wichtigste Person, sondern dass ich meine Vorstellungen abgebe und schaue: Was hat gerade das Leben vor mit mir? Ich habe irgendwann gemerkt: Okay, ich bin nicht allein, sondern ich bin ein Teil dieser Welt. Und ich kann etwas zu dem Leben anderer beitragen, dass es für sie toll ist und sinnvoll ist. Ich habe auch jahrelang täglich drei Frauen von den AA angerufen, um sie zu fragen: „Wie geht es dir?“ Vorher kam mir nie in den Sinn, mich um andere zu kümmern. Alkoholismus ist ja eine total selbstzentrierte Krankheit, es dreht sich alles immer nur um mich.
Ich habe am Anfang gedacht, es geht bei den AA die ganze Zeit nur um Alkohol, aber das stimmt nicht. Es geht eher darum zu lernen, das Leben zu leben. Ich wusste nicht, wie das funktioniert.
Aufgezeichnet von Eva-Maria Träger
Anne M. ist Mitglied der AA in Berlin und übernimmt dort verschiedene Dienste inner- und außerhalb der Gruppen.
Das sind die Fakten
Was ist das für ein Angebot?
Die Anonymen Alkoholiker (AA) verstehen sich als unabhängige Gemeinschaft, die allen Alkoholikern offensteht. Ziel ist eine Genesung vom Alkoholismus durch peer support (Unterstützung durch ebenfalls betroffene Personen). Einzige Voraussetzung für Zugehörigkeit und Teilnahme ist „der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören“. Die AA sind keine religiöse Gemeinschaft, Begriffe wie Gott und „höhere Macht“ kommen im Programm, den sogenannten „Zwölf Schritten“ aber vor.
Was kostet die Teilnahme?
AA-Treffen sind für Teilnehmende kostenlos. Angehörige oder Interessierte sind willkommen, sofern es sich nicht um geschlossene Meetings handelt. Eine formale Mitgliedschaft gibt es nicht. Erfahrene Mitglieder engagieren sich häufig ehrenamtlich in „Diensten“, Angestellte gibt es nur in den zentralen Dienststellen. Der eingetragene Verein finanziert sich nach eigenen Angaben über freiwillige, meist bar in den Meeting gegebene Spenden der Mitglieder, die je maximal 1000 Euro betragen dürfen.
Was sagt die Wissenschaft?
Laut einer Cochrane-Übersichtsarbeit (2020) ist das AA-Programm sowie andere an den „Zwölf Schritten“ orientierte Programme ähnlich wirksam wie psychologische Interventionen, etwa kognitive Verhaltenstherapie. Sie erzielten hinsichtlich Trinkintensität, Höhe oder Länge abstinenter Tage/Perioden sowie alkoholbedingter Konsequenzen mindestens gleichwertige Ergebnisse; bei langfristiger Abstinenz sowie Schwere der Alkoholsucht waren sie überlegen.
Quellen
https://www.anonyme-alkoholiker.de/ (zuletzt abgerufen am 02.10.2024)
John F. Kelly u. a.: Alcoholics Anonymous and other 12-step programs for alcohol use disorder. Cochrane Database of Systematic Reviews, 2020, CD012880
Kathlene Tracy, Samantha P. Wallace: Benefits of peer support groups in the treatment of addiction. Substance Abuse and Rehabilitation, 2016, 7, 143-154
Eva-Maria Träger