Wie unser Musikgeschmack entsteht

Warum sind traurige Songs beliebt? Warum klingt Musik aus Indien für deutsche Ohren religiös? Melanie Wald-Fuhrmann über Musikgeschmack und Gefühle.

Die Illustration zeigt eine Opernsängerin vor dem Mikrophon und einen Mann der zu einem Ohr fliegt
Wenn die Lieblingskünstlerin beginnt zu singen, geben sich Fans dem Gesang hin. Doch Geschmäcker sind verschieden – und erlernt. © Sabine Kranz für Psychologie Heute

Beinharte Rockmusikhörerinnen und softe Typen, die Jazz bevorzugen – sind das alles Klischees oder stimmt der Satz: „Sag mir, was du hörst, und ich sage dir, wer du bist“?

Ganz falsch ist das nicht, aber man muss natürlich klären, wonach da gefragt wird. In unseren Breiten versteht man unter „Musikgeschmack“ vor allem Einstellungen gegenüber den Musikgenres – ob man zum Beispiel Klassik oder Metal mag. Man könnte „Geschmack“ aber auch nach anderen Kriterien differenzieren. Wer Rock oder Klassik mag, kann ja…

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„Geschmack“ aber auch nach anderen Kriterien differenzieren. Wer Rock oder Klassik mag, kann ja trotzdem einzelne Stücke oder auch ganze Teilbereiche davon nicht mögen.

Oder eine bestimmte Sängerin.

Genau. Mögen oder Nichtmögen kann auf vielen Leveln der Fall sein.

Wie entsteht dieses Mögen oder Nichtmögen?

Zu größten Teilen lernen wir Geschmack durch exposure, also weil wir bestimmter Musik ausgesetzt sind. Das passiert immer in einem sozialen Kontext. Als Kind hören wir zwangs­läufig, was unsere Eltern mögen. Als Jugendliche orientieren wir uns am Geschmack der Peergroup. Gleichzeitig ist das die Phase der Identitätssuche: Wer will ich sein? Welche Musik passt dazu? Teilweise finden Menschen durch Musik in ein Milieu oder fangen umgekehrt an, bestimmte Musik zu hören, weil sie sich einer Subkultur zugehörig fühlen. Gerade Genres wie Rock und Klassik sind stark an bestimmte Lebensverhältnisse oder Weltanschauungen gebunden. Das drückt sich auch oft in Kleidung und Habitus aus.

Also durch die Nietenjacke beim Punkfestival beziehungsweise den Anzug für die Oper?

Musik wird in solchen Fällen als Zeichen der Identität genutzt. Das geht in beide Richtungen: Wir haben Stereotype von Klassikliebhaberinnen oder Rockfans, aber die Leute bedienen diese Stereotype auch, um sich zu verorten. Der soziale Aspekt des Musikgeschmacks ist ganz wichtig.

Welches Milieu hört welche Musik?

Die Top drei der deutschen Bevölkerung sind Pop, Rock und Schlager. Schaut man sich dann aber einzelne Milieus an, fällt Schlager aus den Vorlieben der sozioökonomisch höheren und weniger an Tradition orientierten Milieus raus, während die Traditionalisten eher deutsche Volksmusik und Country, aber weniger Rock mögen. Moderne Genres wie Rap und EDM spielen nur bei den ganz auf Veränderung ausgerichteten Milieus eine signifikante Rolle.

Allerdings könnte sich das in Zukunft ändern: Man kann das noch nicht systematisch erforschen, aber zumindest hören immer mehr Leute Musik über das Internet, wo ihnen Stücke nicht mehr unbedingt nach Genre oder Album geordnet begegnen. Man geht mehr danach, ob einem ein einzelnes Lied gefällt oder nicht. So wird die Verbindung zwischen Genre und sozialer Gruppe tendenziell schwächer.

Noch mal zurück zur Geschmacksentwicklung: Wir hören als Kind also jahrelang, was unsere Eltern hören. Und dabei passiert was genau?

Geschmack entsteht durch Gewöhnung – das ist der sogenannte mere-exposure effect: Wenn wir ein und dasselbe mehr­mals wahrnehmen oder dargeboten bekommen, dann steigert sich das Mögen.

Wie beim Essen, wenn man irgendwann merkt: Gemüse ist doch nicht so schlimm?

Das geht meist nur bis zu einem bestimmten Punkt. Was man abgrundtief hasst, wird man meistens auch später nicht abgöttisch lieben, aber im Schnitt wird das Mögen mit der Gewöhnung größer. Und es gibt noch einen zweiten Mechanismus: die Prototypenbildung. Unser Gehirn analysiert die ganze Zeit, ob es wiederkehrende Muster findet, denn das heißt ja: Ich habe etwas verstanden und kann eine Aussage darüber treffen, was als Nächstes passieren wird. Wenn ich einen bestimmten Musikstil als Kind ständig höre, lernt mein Gehirn die Eigenschaften dieser Stilistik kennen und freut sich beim Wiedererkennen – mal simpel ausgedrückt. Die Wiedererkennung ist mit subjektivem positivem Empfinden verbunden. Wenn wir etwas Fremdes hören, mögen wir das normalerweise nicht so. Es gibt aber natürlich auch das Phänomen, dass man sich quasi schockverliebt in Musik, die man zum ersten Mal hört.

Einerseits mögen wir nichts Fremdes, andererseits ist Musik ein wichtiges Mittel, um sich von Eltern abzugrenzen. Wie erklärt sich das?

Beide Aspekte stellen eben nur Tendenzen dar und wirken selten zu 100 Prozent. Wenn jemand aufgrund seiner Peergroup eine grundsätzlich offene Haltung gegenüber einer bestimmten Musik hat, kann er zu dieser auch dann ein Verhältnis entwickeln, wenn sie sich von der Musik der Eltern stark unterscheidet – der ­mere-exposure effect hilft dabei.

Manche Studien besagen auch, dass die Vorliebe für bestimmte Genres an Persönlichkeitsmerkmale wie Offenheit oder Verträglichkeit geknüpft sei.

Tatsächlich zeigen manche Studien, dass Rockmusikhörerinnen und -hörer extravertierter und Popfans eher verträglich seien. Ich sehe solche Forschung aber kritisch. Die Unterschiede sind sehr klein – wahrscheinlich weil die Leute nur nach „Klassik“ oder „Pop“ gefragt wurden und innerhalb der Genres nicht weiter differenziert wurde. Außerdem beruht Musikgeschmack ja zum großen Teil auf Sozialisation, wie wir schon thematisiert haben. Wir haben aber auch dazu geforscht. Dabei kam heraus: Klassikliebhaberinnen und -liebhaber scheinen zwar insgesamt offener zu sein als Menschen, die andere Genres bevorzugen, es gab aber innerhalb der Klassikfreunde sehr große Unterschiede. Die Spreizung der Offenheitswerte innerhalb der von uns gefundenen Gruppen von Klassikliebhabern war deutlich größer als die Unterschiede zwischen Klassikliebhabern und Fans anderer Genres. Das Genre hat mit mir als Individuum also nicht so viel zu tun, mehr mit mir als sozialisiertem Wesen. Aber welche Musiken innerhalb des ansozialisierten Genres mich ansprechen – da kommt die Persönlichkeit stärker ins Spiel.

Haben Sie ein Beispiel?

Bei den Klassikhörern haben wir gesehen, dass es im Bereich Oper/Musiktheater sowie bei geistlicher Musik die größten Geschmacksunterschiede gab. Manche liebten diese Musiken, andere hassten sie geradezu.

Was ist mit denen, die überhaupt keine Klassik hören, aber in ihrem Vorstandsjob auf Kolleginnen und Kollegen treffen, die alle ein Opernabo haben? Gehen die dann in die Oper, um beruflich und gesellschaftlich dazuzugehören, oder gefällt ihnen diese Musik irgendwann wirklich?

Beides kann passieren. Wenn man offen an die Musik herangeht, sie häufiger hört und die anderen begeistert erklären, was daran toll ist, kann der Funke tatsächlich überspringen. „Schlüsselerlebnisse“, die unseren Musikgeschmack ändern, können sich während der gesamten Lebensspanne ereignen. Aber bei den meis­ten ist die musikalische Geschmacksbildung mit Anfang 20 abgeschlossen, weil die Fragen nach der Identität und der damit verbundenen Musik erst mal geklärt sind.

In welchen Situationen ereignen sich solche Schlüsselerlebnisse?

Häufig sind es Livekontexte, also zum Beispiel Konzerte. Das ist einfach eine andere Atmosphäre und Akustik als zu Hause auf dem Sofa. Es scheint eine starke Verbindung zu geben zwischen der Schlüsselerlebnismusik und dem, was man als den „Kern seines Wesens“ versteht – viel stärker als bei der ansozialisierten Musik. Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer sagten uns Sätze wie: „Die Musik hat eine Sphäre in mir eröffnet, von der ich gar nicht wusste, dass sie da ist.“

Wie kann Musik überhaupt Emotionen auslösen?

Hundertprozentig wissen wir es bis heute nicht. Natürlich kann man neurophysiologisch sehen, dass die Lust beim Musikhören so stark ist wie bei anderen Lüsten: Im Hirn springen Belohnungszentren an und es kommt zu Erregungszuständen. Aber warum das überhaupt passiert, ist nicht bekannt. Was man aber weiß: Zumindest europäische Musiken und teilweise auch andere wurden über lange Zeit mit dem Ausdruck oder auch der Erregung von Gefühlen in Verbindung gebracht. Musikerinnen und Komponisten wussten, welche musikalischen Eigenschaften zu welchem emotionalen Erleben führen, und setzten Musik gezielt dazu ein.

Wirkt da der Ansteckungseffekt?

Wenn jemand vor uns sitzt und weint, sind wir meistens auch nicht besonders fröhlich. Ebenso haben wir im Westen offenbar gelernt, Musik so zu hören, als sei sie Ausdruck eines anderen fühlenden Wesens, so dass wir mitfühlen. So etwas funktioniert aber nur in einem Kontext, in dem wir mit der Musiksprache vertraut sind. Ich muss gelernt haben, welche Emotionen mit der Musik ausgedrückt und bei mir hervorgerufen werden sollen. Zum Beispiel findet man die bei uns assoziierte Unterscheidung zwischen Dur gleich „fröhlich“ und Moll gleich „traurig“ nur bei Menschen, die mit Dur-Moll-tonaler Musik aufgewachsen sind. Ähnliches gilt sogar für langsames oder schnelles Tempo in Verbindung mit Emotionen. Es gibt basale Reflexe wie „Erschrecken“ oder „Überraschung“, wenn ein Orchester plötzlich laut spielt. Aber abgesehen davon ist das Empfinden, welche Emotionen durch eine Musik ausgedrückt werden, nicht natürlich, sondern erlernt.

Aber wenn wir traurige Musik hören und dabei nicht besonders fröhlich mitfühlen – warum ist traurige Musik dann eigentlich so beliebt?

Die Lust an trauriger Musik ist tatsächlich ein Paradoxon. Eine Erklärung: Wenn ich ein Stück richtig toll finde, habe ich ein sehr positives Gefühl dabei. Wenn Traurigkeit schön ausgedrückt wird mit angenehmen Tönen oder auch mit anderen Formen der Kunst, dann empfinden wir eine ästhetische Lust und eine positive Emotion und mögen dieses eigentlich negative Gefühl der Traurigkeit.
Aber auch Musik, die andere als fröhlich beschreiben würden, kann traurig machen, wenn sie mich zum Beispiel an ein trauriges Lebensereignis erinnert. Meine Emotionen haben dann aber nichts mehr mit dem eigentlichen Charakter des Stücks zu tun.

Sind die Gefühle, die Musik auslöst, eigentlich weltweit ähnlich? Es gibt ja die Idee von Musik als „universaler Sprache“.

Das ist mir ziemlich suspekt, weil Musik nicht überall auf dieselbe Weise verstanden wird. Man könnte ja meinen, dass man sich zumindest darauf einigen kann, dass Musik fröhlich oder traurig ist. Aber in einer länderübergreifenden Studie haben wir festgestellt, dass schon dieses Konzept sehr europäisch ist. In anderen Ländern stehen ganz andere Emotionen im Vordergrund, zum Beispiel Liebe oder religiöse Gefühle.

In unserer Studie haben wir auch einzelne Musikstücke vorgespielt und gefragt, welche Gefühle sie ausdrücken. Bei westlicher Popmusik bekamen wir kulturübergreifend die einheitlichsten Antworten, wohl weil Popmusik global verbreitet und dadurch vielen vertraut ist. Bei nordindischer Ragamusik haben wir aber zum Beispiel gesehen: Deutsche verbanden die Musik häufig mit religiösen Gefühlen. Die Beatles haben mit Ravi Shankar gespielt und in den 70ern fuhren viele in die Aschrams. So hat sich offensichtlich das Klischee entwickelt, dass Musik aus Indien religiös aufgeladen sei. Inderinnen und Inder verbanden dieselben Musikstücke aber stattdessen mit Emotionen wie Liebe. Auch anderweitig kam es zu kulturellen Missverständnissen.

Inwiefern kann Musik überhaupt kulturelle Brücken schlagen? Funktioniert das nur auf einer gemeinsamen Grundlage – zum Beispiel bei einem Orchester, in dem zwar Palästinenser und Israelis spielen, aber alle wissen, was eine Symphonie ist?

Dass ich den emotionalen Ausdruck eines Stückes missverstehe, heißt ja nicht, dass es mir nicht trotzdem gefallen kann. Über das Gefallen kann Musik eine Brücke schlagen. Ich glaube, das funktioniert aber eher beim Musikmachen als beim Musikhören.

Warum?

Klar, bei einem Popkonzert fühlen sich die Leute auch wie ein gemeinsamer glücklicher Haufen. Aber wenn man selbst Musik macht, kreiert man miteinander etwas, das niemand allein erzeugen kann.

Manchmal entsteht bei Konzerten auch zwischen Fans und Bands etwas Gemeinsames. Geht das nicht in dieselbe Richtung?

Ja, wenn das Publikum wie bei Popkonzerten eine aktive Rolle hat. Es darf mitklatschen, tanzen… Da entstehen im Moment empfundene starke Bindungen und Gemeinschaftsgefühle. Aber meistens hält das nicht besonders lange an. Nach dem Konzert geht man wieder auseinander und das war’s. Außerdem sind sich die Leute, die zum selben Künstler gehen, alle recht ähnlich. Da sind wir wieder bei den Geschmäckern. Sie bestärken sich also gegenseitig. Das ist auch was Schönes, aber eine Brücke in fremde Kulturen ist Musik hier eher nicht.

Zum Weiterlesen

Taren-Ida Ackermann: Disliked Music. Merkmale, Gründe und Funktionen abgelehnter Musik. Kassel university press, Kassel 2019. DOI: 10.17170/kobra-202007161459

Oliver Berli: Grenzenlos guter Geschmack. Die feinen Unterschiede des Musikhörens. Transcript, Bielefeld 2014 

Peter J. Rentfrow, Jennifer A. McDonald: Preference, personality, and emotion. In: Patrik N. Juslin, John A. Sloboda (Hg.): Handbook of Music and Emotion: Theory, Research, Applications. Oxford University Press, New York 2010, 669–695. DOI: 10.1093/acprof:oso/9780199230143.003.0024

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2023: Alles fühlen, was da ist