Diese romantische chinesische Geschichte aus dem 12. Jahrhundert dürfte es eigentlich gar nicht geben. Der junge Chang Po verliebt sich in eine junge Frau, die jedoch mit einem anderen verlobt ist. Er verliert jegliches Interesse an seiner Arbeit und versinkt in Verzweiflung.
Schließlich gesteht er ihr doch seine Liebe – und sie ihm ihre. Sie brennen zusammen durch, entscheiden aber schließlich zurückzugehen. An ihrer Liebe indes halten sie unbeirrt fest. Am Abend vor der Rückkehr nimmt er sie in seine Arme…
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Rückkehr nimmt er sie in seine Arme und sagt: „Seit Himmel und Erde geschaffen wurden, bist du für mich bestimmt und ich werde dich nicht gehen lassen. Es kann nicht falsch sein, dich zu lieben.“
Eine Liebesgeschichte, die ans Herz geht. Durch und durch romantisch. Und eben deshalb passt sie nicht ins Bild, das sich westliche Gelehrte von den Liebesvorstellungen in anderen Teilen der Welt gemacht haben. Der Historiker Lawrence Stone behauptete, romantische Liebe habe in den Ländern außerhalb Europas lange gar nicht existiert und sei dort erst im 18. Jahrhundert entstanden. Andere Gelehrte verorteten ihren Ursprung im Mittelalter. Sie sei ein europäischer Beitrag zur Weltkultur, exportiert in Büchern und später in den Filmen Hollywoods. Auch in der Ethnologie teilten die meisten solche Überzeugungen.
Kein Platz für die Liebe?
Noch immer spukt durch viele Köpfe die Idee, dass vielerorts für Romantik gar kein Platz sei. Frauen und Männer gingen Verbindungen aus praktischen Gründen ein. In Stammesgesellschaften herrsche das Prinzip „Sex für Fleisch“: Die Männer tauschten erlegtes Wild gegen Liebesdienste. In anderen Kulturen suchten Eltern und Verwandte die Ehepartner aus. Liebe werde nicht gebraucht und entstehe auch nicht.
In der Psychologie stieß diese Behauptung schon immer auf Skepsis. Für eine kulturelle Modeströmung mit dem Etikett „Bei Nichtbedarf verzichtbar“ schien ein Gefühl wie Liebe zu basal. „Romantische Liebe ist eine Anpassungsleistung – ein Mechanismus, der Partnerbindungen auf lange Zeit erleichtert hat“, argumentiert der emeritierte Sozialpsychologe Garth Fletcher von der Victoria University of Wellington in Neuseeland.
Der Evolutionspsychologe Steven Pinker sieht es ähnlich: „Überall auf der Welt bestimmen mächtige Gefühle – in Form leidenschaftlicher Liebe – den Wunsch, wen man gerne heiraten würde.“ Allerdings versuchten die Eltern vielerorts, die Kinder nach eigenen Vorstellungen gut unter die Haube zu bringen, und predigten deshalb, zarte Liebe sei nur ein Märchen. „Die Intellektuellen, die glauben, romantische Liebe sei erst von mittelalterlichen Troubadouren oder in Hollywoods Drehbüchern erfunden worden, haben diese Propaganda des Establishments für bare Münze genommen“, lästerte der Harvard-Professor.
Und die neuere Forschung gibt ihm recht. In den letzten Jahren haben viele historische Studien gezeigt, dass es zumindest ein bisschen Liebe wohl überall gab und gibt. Eine große Untersuchung von Nicolas Baumard von der Pariser École normale supérieure aus dem Frühjahr 2022 zeigt sogar, wann die romantische Liebe in den Kulturen der Welt aufblühte – und wieder verwelkte.
So lieben die Jäger und Sammler
Der Ethnologe William Jankowiak von der University of Nevada in Las Vegas bezweifelte als einer der Ersten die Lehrmeinung von der Liebe als westlicher Erfindung. Er stieß auf alte chinesische Liebesgeschichten – aus der Zeit bevor das Reich der Mitte Kontakt zum Westen hatte. Aber existierte die Liebe in allen Kulturen? Ende der 1980er Jahre wandte Jankowiak sich an seinen Kollegen Barry Hewlett, einen Kenner des Jäger-und-Sammler-Volks der Ba’Aka in Zentralafrika. Hatte er je etwas von Liebe bei den Ba’Aka bemerkt?
„Auf keinen Fall“, antwortete Hewlett. Auf Nachfrage fiel ihm nach langem Zögern aber eine Episode ein, die ihm dann doch zu denken gab: Ein unglücklich verliebter junger Mann kletterte in seiner Verzweiflung in die Krone eines Baums, schlang eine Liane um seinen Hals und sprang in den Tod… Das klingt dann doch wohl eher nach tragischer Romantik denn nach einem erfolglosen Tauschhandel.
Nun ging Jankowiak die Frage nach den Ursprüngen der Liebe systematisch an. Zusammen mit seinem Kollegen Edward Fischer sichtete er die ethnologischen Aufzeichnungen zu 186 Kulturen und wertete im Zweifelsfall auch noch deren Folklore aus, etwa ihre Lieder. Zu fast allen Kulturen fanden sich Hinweise auf romantische Liebe, nur für eine schloss der Forscher, der dort gewesen war, sie ausdrücklich aus.
In den verbleibenden hatten die Ethnologinnen und Ethnologen vor Ort Zeichen romantischer Liebe wohl einfach übersehen, so Jankowiak und Fischer. Denn während beispielsweise im Westen Beziehungen mit materiellen Interessen automatisch als unromantisch gelten, sehen andere Kulturen das nicht so eng. Selbst wenn Frauen vielerorts Geschenke erwarten, legen sie trotzdem Wert auf Gefühle in der Beziehung.
Symbiose aus Liebe, Sex, Freundschaft und Ehe
Das bedeutet nicht, dass romantische Liebe in den allermeisten Kulturen zu allen Zeiten die Regel gewesen wäre oder gar Voraussetzung für eine Ehe. In Agrargesellschaften waren die Menschen auf Familienverbünde angewiesen und konnten nicht leben und lieben, wie sie wollten. Sie mussten hart arbeiten und hatten keine Zeit, die Liebe zu pflegen, argumentiert der Psychologe Victor Karandashev vom Aquinas College in Grand Rapids im US-Bundesstaat Michigan. „Sicher haben sich Leidenschaften entzündet und wurden gelebt – aber nur eine Zeitlang.“
Selbst die Mitglieder der Oberschicht konnten sich ihre Ehepartner nicht frei aussuchen, weil sie auf ihren sozialen Status achten mussten. „Außereheliche Affären waren typischerweise die einzige Möglichkeit für Liebe“, so Karandashev.
Der Psychologe unterscheidet zwischen der leidenschaftlichen Liebe und der romantischen. Die leidenschaftliche Liebe betrachtet er als universell und biologisch angelegt – fest verdrahtet im Gehirn, wie es seine Kollegin Elaine Hatfield von der University of Hawai’i einmal ausgedrückt hat. Erst Kultur verwandele die leidenschaftliche Liebe in eine „perfekte Vereinigung von Liebe, Sex, Freundschaft und Ehe, genannt romantische Liebe“, so Karandashev selbst nicht wenig romantisch.
Leidenschaftliche Liebe sei „wichtig für das Überleben der Menschheit“, postuliert der Psychologe, „romantische Liebe ist ein Luxus, den manche Kulturen erfinden, verfeinern und ausschmücken“. Andere Forschende unterscheiden nicht so fein und nennen beides schlicht romantische Liebe.
Wann, wo und warum sie ein großes Thema wurde, hat nun ein vierköpfiges Team um Nicolas Baumard untersucht. Zwar steht in Geschichtsbüchern meistens nicht, wie es in den verschiedenen Ländern und Epochen um die romantische Liebe bestellt war. Aber in Romanen, Epen, Gedichten, Opern, Balletten und Theaterstücken sollten sich Zeugnisse der Gefühle der damaligen Menschen finden, so die Idee. In einer seiner Analysen durchforschte das Team daher mit Computerhilfe die Zusammenfassungen von fast 3000 Werken, die bei Wikipedia zu finden waren. Gesucht wurden Hinterlassenschaften mit Wendungen wie „sich verlieben“, „einander lieben“, „durchbrennen“, „unter einem schlechten Stern stehen“ (was sich im Englischen meist auf unglückliche Liebe bezieht).
Gute Zeiten, erhabene Gefühle
Überprüft wurde auch eine These, die der französische Historiker Georges Duby vor einigen Jahrzehnten mit Blick aufs Mittelalter veröffentlicht hatte: Die romantische Liebe gedeiht, wenn es den Menschen wirtschaftlich gutgeht. Erst der Wohlstand brachte im 12. Jahrhundert in Frankreich die Troubadoure und in Deutschland die Minnesänger hervor. Sie huldigten einer Liebe, die auf gegenseitiger Anziehung, emotionaler Verbundenheit und dauerhafter Verbindung beruhte, nicht auf sexueller Anziehung und kurzem Liebesrausch. Aber macht wirklich erst das Geld die Liebe möglich oder trat beides nur zufällig gleichzeitig auf?
Einen auf den ersten Blick etwas kuriosen Beleg liefert die allmähliche Verbreitung des von einem Tier gezogenen Räderpflugs in Europa ab etwa dem Jahr 1000. Wo er sich gut einsetzen lässt, ermöglicht er deutlich höhere Ernten als der alte, zu Fuß vorangetriebene Hakenpflug. Dadurch stieg die Nahrungsproduktion und mit ihr die Bevölkerung. Und das führte wiederum tatsächlich zu mehr literarischen Spuren romantischer Liebesgefühle.
Generell zeigte die Textanalyse: Quer durch Zeiten und Kulturen wurden die überlieferten Werke romantischer, wenn es den Leuten besser ging. So war es im klassischen Griechenland und im antiken Rom. Der Dichter Ovid verfasste dort seine Kunst des Liebens und beklagte in Briefen aus der Verbannung am Schwarzen Meer, wie sehr ihm seine Frau fehle. Selbst in den Reden im römischen Senat finden sich romantische Verweise. Philosophische Abhandlungen ließen sich über die Rolle der Liebe in der Ehe aus.
Relativer Wohlstand herrschte auch in China, als der um 1300 lebende Schriftsteller Wang Shifu eines der berühmtesten Theaterstücke des Reichs verfasste, Chinas populärste Liebesgeschichte: Das Westzimmer. Ein junger Examenskandidat und die Tochter eines Ministers verlieben sich auf den ersten Blick und schlafen sogar ohne Zustimmung der Eltern miteinander. Ihre Liebe scheint zum Scheitern verurteilt. Die Geschichte galt als Bibel der Liebenden, aber auch als lebensgefährlich – einige, die das Werk verschlungen hatten, sollen sich unter seinem Einfluss zu Tode gegrämt haben. Die Erzählung selbst indessen hat ein Happy End: Das Paar darf am Schluss doch noch heiraten.
Relikte damaliger Gefühlswelten
Voller Liebe waren einige Jahrhunderte später im Westen die großen Komödien von Dichtern wie Molière und Shakespeare. In den Stücken ergreifen auch die Frauen die Initiative. Sie verlieben sich, verkünden ihre Gefühle und treffen Entscheidungen. Rosalinde, Shakespeares Heldin in Wie es euch gefällt, hält sich nicht zurück: „Kommt, freit um mich, freit um mich, denn ich bin jetzt in einer Festtagslaune und könnte wohl einwilligen.“ England erlebte damals das „goldene Zeitalter“ der Kunst, aber auch die Wirtschaft prosperierte: gute Zeiten für die Liebe.
Natürlich beweisen große Gefühle auf der Bühne, in Büchern und in Liedern noch nicht, dass auch die Liebe und das Leben gewöhnlicher Menschen von Romantik erfüllt waren. Doch Baumard und sein Team präsentieren starke Indizien für ihre These, dass die Liebesgeschichten vergangener Jahrtausende tatsächlich so etwas wie Fossilien der damaligen Gefühlswelten sind.
So waren die Sänger, die Schriftsteller und später auch Schriftstellerinnen auf den Erfolg beim Publikum angewiesen. Wären dem die großen Emotionen auf der Bühne und in Büchern völlig fremd gewesen, hätte es sich anderen Liedern und Stücken zugewandt, und die Poeten hätten sich schleunigst umgestellt.
Außerdem werden in der Kulturgeschichte die gleichen Perioden als romantisch eingestuft wie in der Literaturgeschichte. Tatsächlich suchte Baumards Team auch in Arbeiten, in denen Briefe, philosophische Bücher, Gesetzestexte und dergleichen ausgewertet worden waren, nach Belegen für romantische Liebe. Zwar wurden sie nur in einem guten Dutzend Fälle fündig, doch die Ergebnisse decken sich in allen Fällen mit den Befunden aus der Literatur.
Gemetzel mit Herz
Doch warum macht Wohlstand romantisch? Befreit er von wirtschaftlichen Zwängen, so dass Menschen ihre Liebe frei wählen und leben können? Das lässt sich nicht bestätigen, arrangierte Ehen blieben in Europa bis ins 18. Jahrhundert die Norm. Gestützt auf soziologische Beobachtungen, vermutet Baumards Team hingegen: Wenn Menschen in besseren Zeiten nicht mehr ums Überleben oder einen gewissen sozialen Status kämpfen müssen, dann werden ihnen andere Dinge wichtig. Materielle Werte wie Geld treten in den Hintergrund, Selbstverwirklichung wird zentral. Nun wird auch romantische bis hin zur selbstlosen Liebe möglich. Auch Kinder erhalten nun mehr Liebe, wie kulturhistorische Studien belegen.
Wie gute und schlechte Lebensumstände der Liebe bekommen, zeigt sich besonders daran, wie unterschiedlich die gleiche Geschichte in verschiedenen Zeiten erzählt wird. So bot Homers ursprüngliches Epos über den Trojanischen Krieg neben allem Gemetzel bereits den leidenschaftlichen Kampf um die schöne Helena. Doch der mittelalterliche französische Schriftsteller Benoît de Sainte-Maure fügte noch eine neue Liebesgeschichte ein, so dass das Stück auch unter dem Titel Die Romanze von Troja bekannt wurde. Auch als Hollywood im reichen Westen den Stoff verfilmte, unter anderem mit Brad Pitt, wurde viel Liebe geboten.
Im 17. Jahrhundert schaffte es der Franzose Pierre Corneille sogar, in seinem Stück über König Ödipus eine Liebesgeschichte unterzubringen – in der Tragödie über den Helden, der dazu verdammt ist, unwissentlich seinen Vater zu töten und seine Mutter zu heiraten. Corneille lag damit im Trend. Der englische Dichter John Dryden verfuhr ebenso.
Auch die berühmte Liebesgeschichte von Tristan und Isolde erfuhr interessante Wandlungen. In der bekanntesten Fassung gewinnt der Königssohn Tristan einen Zweikampf, wird durch das Schwert seines Gegners aber lebensgefährlich vergiftet. Er muss zur Königin von Irland, denn nur sie kann ihn heilen. Als Gegenleistung wird er zum Lehrer ihrer schönen Tochter Isolde. Isolde soll den König von England heiraten und Tristan sie an dessen Hof bringen.
Doch unterwegs greifen beide unwissentlich zu einem Liebestrank und entbrennen füreinander. Sie leben ihre Liebe, doch Isoldes königlicher Gatte kommt ihnen schließlich auf die Spur und Tristan flieht. Später muss er annehmen, dass sie ihn nicht mehr liebt, und stirbt, worauf auch sie tödlich erkrankt.
Im Elend gedeiht die Liebe schlecht
Doch das herzzerreißende Heldenepos, das wahrscheinlich aus der keltischen Sagenwelt stammt, war ursprünglich wohl nicht romantisch. Das wurde es erst im 12. Jahrhundert, als in Mitteleuropa die Nachfrage nach Liebesgeschichten groß war. Als der Stoff dann aber schließlich seinen Weg nach Russland und Island fand, ging die Romantik wieder verloren.
Offenbar waren diese Länder einfach zu arm, um sich romantische Ideen leisten zu wollen. Im Elend gedeiht die Romantik eben schlecht, sie ist eher etwas für gute Zeiten.
Romantische Liebe besteht nach Ansicht vieler Psychologinnen und Psychologen aus drei Komponenten, die ineinandergreifen. Sexuelle Leidenschaft bringt die Liebenden zusammen. Die sich entwickelnde Intimität sorgt für die emotionale Bindung, und ein Gefühl der Verpflichtung lässt ein Paar dauerhaft zusammenbleiben, so beispielsweise die Dreieckstheorie der Liebe von Robert Sternberg, Psychologieprofessor an der Cornell University.
Quellen
Nicolas Baumard u. a.: The Cultural Evolution of Love in Literary History. Nature Human Behaviour, 6/4, 2022, 506–22, DOI:10.1038/s41562-022-01292-z
Garth J. O. Fletcher u. a.: Pair-Bonding, Romantic Love, and Evolution: The Curious Case of Homo Sapiens. Perspectives on Psychological Science, 10/1, 2015, 20–36, DOI: 10.1177/1745691614561683
William Jankowiak: An anthropologist goes looking for love in all the old places: A personal account. In Sternberg: The new psychology of love, Cambridge University Press, New York, 2019, 240–58
William R. Jankowiak, Edward F. Fischer: A Cross-Cultural Perspective on Romantic Love. Ethnology, 31/2, 1992,149–55, DOI: 10.2307/3773618
Victor Karandashev: Romantic Love in Cultural Contexts. Springer, Cham 2017, https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-319-42683-9
Steven Pinker: Wie das Denken im Kopf entsteht. Fischer Taschenbuch, Frankfurt 2011
Robert Sternberg: A triangular theory of love. Psychological Review, 93/2, 1986, 119–135. DOI: 10.1037/0033-295X.93.2.119
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