Lieben wir heute anders als früher?

Wie wir lieben, ist ständig im Wandel. Im Zeitalter der sozialen Medien stumpfe unsere Emotionswahrnehmung immer mehr ab, beklagt Rob Boddice. ​

Die Illustration zeigt den Autoren Rob Boddice
Rob Boddice erforscht die Geschichte der Emotionen. © Jan Rieckhoff

Menschen haben schon immer geliebt. Oder hat sich das über die Jahrhunderte verändert?

Romantische Liebe ist ein historisches Konstrukt, aber unsere heutige, sozial akzeptierte Vorstellung von Verlieben und dass dies als Grundlage für Beziehungen und Ehen steht, ist recht jung. In der frühen Neuzeit, also vor knapp 600 Jahren, war es nicht unüblich, vor den Gefahren des Sichverliebens zu warnen. In anderen Epochen gab es zudem Liebesgefühle, die mittlerweile verlorengegangen sind.

Welche denn?

Vor nicht allzu langer Zeit haben wir das Gefühl Tendre verloren, eine zärtliche Empfindung. Sie war eine Art Oberkategorie, in der Emotionen wie Mitgefühl, Liebe, Mitleid und mütterliche Zuneigung wurzelten. Tendre war ein Schlüsselkonzept für das emotionale Verhalten am Hofe oder unter Bürgerlichen. Es setzte die Bedingungen für Freundschaften, Liebe und Ehen, aber auch wie diese ausgestaltet werden sollten. Ein anderes verlorenes Gefühl ist die adelnde Liebe, also die Liebe eines Königs oder Prinzen, die zumeist eine nichtsexuelle Liebe zwischen Männern umschrieb.

Was genau beeinflusst, was Menschen fühlen?

Das emotionale Skript einer Zeit und einer Region – also die kulturellen Regeln dafür, welche Gefühle und dessen Ausdrücke zulässig sind – wird vor allem durch Autoritäten etabliert, wie Monarchen, Parlamente, Gerichte, Gesetze. Aber auch informelle Einflüsse aus Kunst, Literatur, Musik, die gängigen Manieren und soziale Verbindlichkeiten formen das Gefühlserleben.

Welches Gesetz soll denn unser Fühlen beeinflussen?

In den Vereinigten Arabischen Emiraten gibt es seit 2016 ein Ministerium für Glück. Die Definition von Glück ist hier verbunden mit einem bestimmten Verhalten, das die Regierung gerne sehen würde und das ideologischen und wirtschaftlichen Zielen folgt. Diese Einrahmung von Verhalten als dem Staatsglück zuträglich dient dazu, den Menschen, die dem Skript folgen, Wohlbefinden und Zufriedenheit einzuimpfen. Ein anderer Schauplatz: Homosexualität. In Ländern, in denen homosexuelle Handlungen verbannt werden, hat dies ganz klar Auswirkungen auf das Empfinden von Lust und Liebe in Teilen der Bevölkerung. Dort, wo solche Verbote aufgehoben werden, verändert sich auch das Erleben von Liebe.

Sie attestieren der heutigen Gesellschaft einen affektiven Analphabetismus.

Unser affektives Leben ist nicht mehr so reich wie in früheren Epochen. Menschen in westlichen Ländern sind heute nicht mehr so gut darin, herauszuarbeiten, wie sie sich fühlen. Die heutigen Konzepte klingen plump und sind sehr breit gefasst. Nehmen wir den umgangssprachlichen Gebrauch von „emotional“. Ein typischer Satz ist: „Ich bin gerade emotional.“ Die Menschen glauben zu verstehen, was der andere meint, auch wenn der Satz überhaupt gar nichts darüber aussagt, was jemand empfindet. Er ist bedeutungsleer.

Woher kommt das?

Darüber lässt sich nur spekulieren. Der Aufstieg von sozialen Medien mit ihren piktografischen Reduktionen für Gefühle, sprich Emojis, erschwert Nuancen und Komplexität in Gefühlsäußerungen. Ursächlich ist meines Erachtens aber die Emotionsforschung, die ein starres Konzept schuf. Das Gefühlsleben wird darin auf sechs grundlegende Emotionen limitiert. Selbst in Regierungsmaßnahmen hielt das Konzept Einzug, etwa in den USA bei Sicherheitschecks an Flughäfen, wo Gesichter nach diesen Emotionen abgesucht werden.

Rob Boddice arbeitet als Gastwissenschaftler am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Zuvor wirkte er bereits im Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin

Rob Boddices Buch Die Geschichte der Gefühle ist bei wbg Theiss erschienen (272 S., € 25,–)

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2020: Die Macht des Selbstbilds
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