In Ihrem jüngsten Buch behaupten Sie, dass wir Westler psychologisch ziemlich seltsam sind. Was meinen Sie damit?
Menschen, die in westlichen Kulturen aufwachsen, sind typischerweise sehr individualistisch, selbstbezogen, kontrollorientiert, nonkonformistisch und analytisch. In dieser Hinsicht sind sie anders als ein Großteil der heutigen Welt und anders als die meisten Menschen, die überhaupt jemals gelebt haben. Sie sind das, was man in Englisch weird nennt.
Sie haben daraus ein Wortspiel gemacht. Das…
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gelebt haben. Sie sind das, was man in Englisch weird nennt.
Sie haben daraus ein Wortspiel gemacht. Das englische Wort weird bedeutet so viel wie seltsam. Gleichzeitig steht Ihr Kürzel WEIRD für westlich, educated – also gebildet –, industrialisiert, reich, demokratisch.
Das hat eine Vorgeschichte. Es begann als Kritik an der typischen Vorgehensweise in der psychologischen Forschung. Steven Heine, Ara Norenzayan und ich haben das Akronym WEIRD im Jahr 2010 erfunden, um ironisch darauf hinzuweisen, dass für psychologische Studien meist ganz bestimmte Teilnehmerinnen und Teilnehmer herangezogen werden, nämlich Studierende der Psychologie aus Amerika, Europa und Australien.
Viele verallgemeinern dann Studienbefunde auf der Grundlage von Stichproben dieser dünnen Schicht auf die gesamte Menschheit. Das Akronym war als bewusstseinsbildendes Mittel gedacht, um Menschen in der Forschung und anderswo darauf aufmerksam zu machen, wie psychologisch ungewöhnlich ein Großteil der Datenbasis in der Psychologie ist.
Inzwischen verwenden Sie WEIRD als Synonym für uns Menschen aus dem Westen. Für Ihre großangelegte Untersuchung schauten Sie sich kulturvergleichende Studien zu so unterschiedlichen psychologischen Aspekten wie visuelle Wahrnehmung, Fairness, Kooperation, räumliches, logisches und moralisches Denken, Argumentationsstile und Selbstkonzepte an. Und Sie stellten fest, dass wir Westler – bezogen auf alle Menschen – nicht gerade repräsentativ sind.
Genau. Psychologische Unterschiede zwischen den Menschen unterschiedlicher Kulturen sind groß und solche aus westlichen Ländern liegen typischerweise am äußersten Ende der Verteilung. Das, was wir WEIRDs im Westen für die typischen Denk- und Verhaltensweisen von Menschen halten, ist in einer globalen und historischen Perspektive ungewöhnlich.
Lassen Sie uns einige dieser ungewöhnlichen Denk- und Verhaltensweisen genauer anschauen. Warum ist es sonderbar, individualistisch zu sein?
Die Menschen in westlichen Gesellschaften neigen dazu, sich selbst als Unikate und autonome Entscheidungsträger zu sehen, während sich die meisten Menschen im Rest der Welt eher als Glied in einer Kette oder als Knotenpunkt in einem Netzwerk verstehen. Diese Unterschiede im Selbstkonzept zeigen sich beispielsweise in einem klassischen psychologischen Test, bei dem Probanden und Probandinnen gebeten werden, zwanzigmal den Satz „Ich bin…“ zu ergänzen.
Menschen in WEIRD-Gesellschaften neigen dazu, mit Eigenschaften, Fähigkeiten oder etwas Erreichtem zu antworten, beispielsweise „Ich bin neugierig“ oder „Ich bin Wissenschaftlerin“. Menschen in Nicht-WEIRD-Kulturen dagegen nennen Beziehungen und Rollen, zum Beispiel „Ich bin Joes Vater“ oder „Ich bin Laras Freundin“. Unser starker Fokus auf Eigenschaften und Leistungen beeinflusst uns in vielerlei Hinsicht.
Können Sie weitere Beispiele nennen?
Bei WEIRDs ist etwa die Selbstüberschätzung [siehe Definition unten] ungewöhnlich stark ausgeprägt. Wir haben Experimente durchgeführt, bei denen wir Menschen aus verschiedenen Ländern baten, vorherzusagen, wie gut sie in verschiedenen Tests abschneiden würden, und bezahlten sie für akkurate Antworten. Personen in den USA – insbesondere amerikanische Männer – überschätzten sich besonders stark, während Menschen in anderen Ländern weniger vermessen waren. Japaner und Japanerinnen unterschätzten sich sogar.
Ebenso neigen wir im Westen besonders dazu, uns und unsere Leistungen hervorzuheben und gut aussehen zu lassen, beispielsweise indem wir die Beiträge anderer herunterspielen. Auch ist bei uns der sogenannte Besitztumseffekt besonders stark ausgeprägt. Das heißt, wir neigen mehr als andere dazu, den Wert von Dingen zu überschätzen, die uns selbst gehören.
In Ihrem Buch beschreiben Sie WEIRDs als „schuldbeladen, aber schamlos“. Was meinen Sie damit?
Zunächst muss man sich klarmachen, dass Scham und Schuld sehr verschiedene Emotionen sind. Man empfindet Scham, wenn man gegen soziale Normen verstößt, zum Beispiel Ehebruch begeht, was einen in den Augen anderer abwertet. Es ist also eine sozialorientierte Emotion. Es ist auch eine ansteckende Emotion: Wenn jemand in der Familie etwas Schändliches tut, kann sie auf andere Familienmitglieder übergreifen, so dass diese sich ebenfalls schämen.
Schuld hingegen ist das, was wir fühlen, wenn wir unseren eigenen Erwartungen nicht gerecht werden. Vielleicht strebe ich danach, gesund zu leben, und wenn ich dann eine große Pizza vertilge, fühle ich mich schuldig. Aber meiner Nachbarschaft ist es egal, was ich esse. Durch das Pizzaessen verliere ich nicht das Gesicht, und meine Familienmitglieder tun es auch nicht.
Und wir WEIRDs neigen eher zu Schuldgefühlen als zu Scham?
Richtig. Studien mit fast 3000 Studierenden in 37 Ländern zeigten, dass Menschen aus den individualistischen Gesellschaften mehr schuldähnliche und weniger schamähnliche Emotionen haben.
Weshalb ist das so?
Es liegt wiederum daran, dass Westler individuelle Eigenschaften und Leistungen für so wichtig erachten. Schuldgefühle sind Teil der affektiven Maschinerie, die Individuen motiviert, an ihren persönlichen Standards festzuhalten. Vegetarier und Vegetarierinnen zum Beispiel können sich schuldig fühlen, wenn sie ein Steak essen, selbst wenn sie in fremden Städten unterwegs sind, umgeben von Nichtvegetariern. Niemand verurteilt sie dafür, dass sie das Steak genießen, aber sie fühlen sich trotzdem schlecht.
Im Vergleich zu Schuld ist Scham in individualistischen Gesellschaften schwächer ausgeprägt, weil es weniger soziale Normen gibt, die Beziehungen regeln, und diese oft nicht so genau überwacht werden. In den erwähnten Studien schämten sich Studierende aus Ländern wie den Vereinigten Staaten, Australien und den Niederlanden so gut wie nie.
Auch die Wahrnehmung und Kognition von WEIRDs ist Ihrer Darstellung nach im Vergleich zum Rest der Welt ziemlich ungewöhnlich.
Wir sind hochanalytische Denker und Denkerinnen, die versuchen, Situationen zu verstehen und Probleme zu lösen, indem wir sie in Komponenten wie Atome, Krankheitserreger, Individuen zerlegen. Und diesen Teilen weisen wir dann Eigenschaften zu. Menschen in vielen Nicht-WEIRD-Kulturen denken hingegen ganzheitlich, sie konzentrieren sich mehr auf die Beziehungen zwischen den Teilen.
Ein einfaches Beispiel: Sie beobachten, dass eine Person eine andere anschreit. Wenn Sie eine analytische Denkerin sind, neigen Sie dazu, sich auf die einzelnen Menschen und ihre Veranlagung zu konzentrieren. Sie nehmen vielleicht an, dass der Brüller ein Bully mit einer dominanten Persönlichkeit ist. Eine ganzheitliche Denkerin dagegen konzentriert sich eher auf die Beziehung und ihren Kontext und geht vielleicht davon aus, dass da ein Vorgesetzter eine Mitarbeiterin lautstark zur Ordnung ruft. Beide Denkweisen haben ihre Vor- und Nachteile. Als analytisch Denkende wissen wir viel über einzelne Bäume, sehen aber oft nicht den Wald, weil wir die Beziehungen zwischen Teilen übersehen.
Was finden Ihrer Erfahrung nach Menschen aus anderen Kulturen besonders merkwürdig an WEIRDs?
Es kommt natürlich darauf an, wen man fragt. Aber wenn Sie mit Einwanderern und Einwanderinnen in den USA sprechen, die aus Nicht-WEIRD-Ländern kommen, sind sie oft verblüfft darüber, wie wir über Familie und Freundschaft denken. In den USA und anderen westlichen Ländern gilt es zum Beispiel als tabu, dass man die eigene berufliche Position nutzt, um beispielsweise seine Schwägerin einzustellen. Wir nennen dies Vetternwirtschaft. Unternehmen gelten als unpersönliche Institutionen, die gegenüber den Beziehungen zwischen den Mitgliedern blind sein sollen. Aber für viele Menschen auf der Welt sind familiäre Beziehungen ein zentraler Aspekt des Lebens, und der Schwägerin zu helfen, ist eine moralische Pflicht.
Es wird erwartet, dass man in der Familie loyal ist.
Richtig. Wir sehen das typische Verhalten von Nichtwestlern als korrupt an, während sie unsere Haltung als illoyal betrachten. Im Kern ist es ein Zielkonflikt zwischen zwei Tugenden: an objektiven Regeln und Prinzipien festhalten oder sich für Familie und Freundinnen einsetzen. Und für verschiedene Kulturen haben diese beiden Werte eine unterschiedliche Gewichtung. Ich veranschauliche dies gerne mit einem Test, der mit Führungskräften auf der ganzen Welt durchgeführt wurde.
Die Geschichte geht so: Sie sitzen im Auto mit einem guten Freund, der viel zu schnell fährt, und er fährt eine Fußgängerin an. Ihre Anwältin sagt Ihnen, wenn Sie vor Gericht aussagen, dass Ihr Freund die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht überschritten hat, wird die Klage gegen ihn abgewiesen. Aber wenn Sie die Wahrheit sagen, hat das schwerwiegende Konsequenzen für ihn. Ein Dilemma! Die Frage ist: Lügen Sie für den Freund oder nicht? Und da gibt es enorme Unterschiede. So gaben über 90 Prozent der Befragten in Kanada, der Schweiz und den USA an, dass sie die Wahrheit sagen würden. Im Gegensatz dazu sagten die meisten Menschen in Nepal, Südkorea und Venezuela, dass sie bereit wären, unter Eid zu lügen, um einem engen Freund zu helfen.
Lassen Sie uns zum Ursprung all dieser psychologischen Unterschiede kommen. Sie argumentieren, sie gingen auf die römisch-katholische Kirche zurück.
Die Frage lautet: Wer oder was hat die Bevölkerung Westeuropas oder zumindest Teile von ihr in diese spezielle psychologische Richtung getrieben? Denn von dort aus hat es sich dann auf Länder wie die USA, Kanada, Australien und Neuseeland ausgedehnt. Und meine Antwort, die auf Arbeiten aus der Geschichtswissenschaft aufbaut, lautet: Es fing im frühen Mittelalter mit einer Veränderung in der Familie an. Zu diesem Zeitpunkt begann die römisch-katholische Kirche, männliche Eheschließungen mit mehr als einer Frau oder Verbindungen zwischen Cousin und Cousine zu verbieten und neue Regeln für das Vererben durch Testament einzuführen. Dies führte dazu, dass sich die Familienstrukturen in Europa wandelten: weg von eng verbundenen Clans und Verwandtschaftsnetzwerken, wie man sie anderswo auf der Welt findet, hin zu kleinen monogamen Kernfamilien.
Die kirchlichen Regeln zwangen die Menschen, sich aus ihren engmaschigen Gemeinschaften herauszuwagen, um woanders Lebenspartner und Lebenspartnerinnen zu finden. Jeder musste nun seine eigenen sozialen Kreise aufbauen. Dies wiederum führte zu Veränderungen im Denken der Menschen. Sie wurden individualistischer und interessierten sich mehr für menschliche Eigenschaften, ihre eigenen und die anderer. Und sie wurden offener gegenüber Fremden. Die Menschen begannen auch, neue Institutionen wie Gilden und Hansestädte zu gründen, die Rückhalt bei Unfall und Arbeitslosigkeit boten, Risiken, die vormals von Clans und Großfamilien abgefedert worden waren. Im Lauf der Jahrhunderte entstand eine neue Welt, in der es sinnvoll war, individualistisch und analytisch zu sein und sich an universellen Regeln zu orientieren.
Die Kultur prägt also die Psychologie der Menschen und umgekehrt.
Ja, dieser sich langsam entwickelnde Prozess ist eine Zweibahnstraße. Veränderungen in der Familienstruktur führten dazu, dass Menschen anders über die Welt dachten; also bauten sie andere Institutionen, die ihre Psyche noch mehr veränderten. Es war also eine Art Koevolution der menschlichen Psychologie einerseits und der sozialen Normen und Institutionen andererseits. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse meines Buches.
Sie ziehen auch eine Verbindung zwischen den psychischen Besonderheiten von Westlern und dem Wohlstand, den viele WEIRD-Länder heute genießen.
Es gibt da mehrere Verbindungen, aber die vielleicht wichtigste hat mit Innovationsfähigkeit zu tun. Viele der Unterschiede im Wohlstand der Nationen in der modernen Welt gehen auf die Ausbreitung der industriellen Revolution zurück. Irgendwann nach 1750 begannen verschiedene Länder, Fabriken und andere mechanisierte Produktionsformen einzuführen. Diese Entwicklung begann in den englischen Midlands, breitete sich dann aber schnell auf deutsche und französische Regionen aus und sprang auch auf Länder wie die USA über.
Die Frage ist: Warum strömte in dieser Zeit eine solche Innovationsflut durch und aus Europa? Ich argumentiere, dass die Veränderungen in der Sozialstruktur und der Psychologie der Menschen das kollektive Gehirn Europas vergrößert haben. Es war der Austausch und die Neukombination von Ideen, die Innovationen vorangetrieben haben.
Wie genau lief das ab?
Ein Beispiel ist die Lehrlingsausbildung im mittelalterlichen Europa. In den meisten Regionen der Welt läuft die Handwerksausbildung innerhalb von Familien ab; das Wissen wird entlang von Abstammungslinien weitergegeben. Aber aufgrund der Veränderungen der Familienstrukturen im mittelalterlichen Europa funktionierte dieses System nicht mehr. Und so mussten sich Lehrlinge aufmachen, woanders einen Meister oder eine Meisterin zu finden. Nach der Ausbildung verließen sie ihren Meister wieder und arbeiteten in einer anderen Werkstatt. In den Werkstätten trafen sich also Gesellinnen und Gesellen aus verschiedenen Orten und tauschten Ideen und Techniken aus.
Das war ein viel besseres Rezept, um Innovationen hervorzubringen, als die traditionelle Herangehensweise. Nicht weil die einzelnen Leute schlauer waren, sondern weil viele Köpfe mit unterschiedlichen Ideen zusammenkamen. Das funktioniert aber nur, wenn die Menschen aufgeschlossen sind. Sie müssen Leuten gegenüber tolerant sein, die anders sind als sie. Sie müssen Fremden vertrauen und bereit sein, Dinge auch mal anders anzugehen. Dies sind Merkmale, die wir mit Individualismus und Nonkonformismus assoziieren. Die Innovationsfähigkeit ist eine wesentliche Stärke der WEIRD-Kultur.
Was ist mit den negativen Seiten?
Zu den wesentlichen psychologischen Kosten gehören ein Mangel an starken Familienbeziehungen und ein wenig ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl – was die Einsamkeit fördert. Eine vielsagende Erkenntnis der Glücksforschung lautet, dass materieller Wohlstand im Allgemeinen zwar das Glück steigert, aber die glücklichsten Menschen jene sind, die in materiell sicheren Verhältnissen leben und gleichzeitig viele starke familiäre Bindungen haben.
Wie ergeht es Menschen aus Nicht-WEIRD-Kulturen, die in westliche Länder gezogen sind?
Diese Leute fühlen sich oft zwischen zwei Welten hin- und hergerissen. Da ist die eine Welt, in der es am besten ist, Beziehungen in den Mittelpunkt zu stellen, bei der Familie zu bleiben und der Schwägerin zu helfen. Und dann ist da diese andere Welt, in der erwartet wird, dass man ein unabhängiges Individuum ist, dorthin zieht, wo man den besten Job findet, und die qualifizierteste Bewerberin anstelle der Schwägerin einstellt.
Die Menschen werden in unterschiedliche Richtungen gezogen, und das erzeugt eine Menge Orientierungslosigkeit. Deshalb ist das Wissen um die Verbindungen zwischen Psyche und Kultur aus meiner Sicht auch so wichtig. Es liefert uns einen hilfreichen Kontext für unseren Umgang mit Menschen, die in unsere Länder immigrieren. Und es hilft uns, wenn wir selbst in kulturell andere Regionen reisen oder dorthin auswandern.
Definition Selbstüberschätzung:
Menschen, die sich maßlos überschätzen, sind narzisstisch. Doch eine nur leichte Selbstüberschätzung ist normal und gesund, so die Lehrmeinung: Das geschönte Selbstbild hebt den Selbstwert, und dies wiederum führt dazu, dass man sich mehr zutraut, statt vor Aufgaben zurückzuschrecken. Doch trifft das auf alle Kulturen zu? Wie sich herausstellt, neigen wir im Westen viel stärker zur Selbstüberschätzung als etwa Menschen in Fernost.
Joseph Henrich ist Professor für Evolutionsbiologie des Menschen an der Harvard-Universität. Die deutsche Ausgabe seines WEIRD-Buchs erschien im Frühjahr bei Suhrkamp unter dem Titel Die seltsamsten Menschen der Welt.