Die spinnen, die Römer. So heißt der wohl berühmteste Satz aus den Asterix-Comics. Warum ist er so berühmt? Womöglich weil er stimmt. Und weil man „die Römer“ durch alle anderen Nationalitäten ersetzen kann. Die Amis spinnen nämlich auch. Und die Engländer, die Russen und, ja, auch die Engländerinnen und Russinnen. Die Deutschen, die spinnen natürlich ebenfalls.
All das kann man beweisen. Genau das hat unlängst ein internationales Forschungsteam getan, zu dem auch die Kulturpsychologin Katja Hanke vom…
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getan, zu dem auch die Kulturpsychologin Katja Hanke vom Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gehört. In einer Studie legte man mehr als 6000 Studierenden aus 35 Ländern eine Reihe von Fragen vor. Die wichtigste lautete: „Was glaubst du – wie viel hat das Land, in dem du lebst, zur Weltgeschichte beigetragen?“ Eine Fangfrage.
Tatsächlich gingen die Befragten den Forschern in die Falle. Die deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer glaubten zum Beispiel, dass ihr Land für fast 30 Prozent „der Weltgeschichte“ verantwortlich sei. Dieser Wert liegt ziemlich genau im Studiendurchschnitt – an der Spitze der Selbstüberschätzungshit-parade stehen die Befragten aus Großbritannien mit 54,6 Prozent und aus Russland mit 60,8 Prozent. Noch am bescheidensten waren in der Studie die Schweizerinnen und Schweizer. Sie schrieben ihrer Heimat 11,3 Prozent der Weltgeschichte zu. Allerdings stellt das Land auch gerade mal 0,11 Prozent der Weltbevölkerung. Alle, so das Fazit, überschätzen die Bedeutung ihres Landes über alle Maßen. Selbst die vergleichsweise zurückhaltenden Menschen aus der Schweiz.
30% Weltgeschichte in 250 Jahren
Eine ähnliche Studie gibt es für die USA. Dort hatte man gefragt, wie hoch der Beitrag des eigenen Bundesstaates – also etwa Kalifornien oder Michigan – zur Geschichte des ganzen Landes sei. Da die USA aus 50 Einzelstaaten bestehen, sollten die Werte im Durchschnitt bei zwei Prozent liegen, um in der Summe auf 100 Prozent zu kommen. Man ahnt es schon: Mit zwei Prozent gab man sich nirgendwo zufrieden. Die noch bescheidensten Resultate fand das Forschungsteam in Iowa mit neun Prozent. Die Bevölkerung von Virginia hingegen tippte für ihren Staat auf 41 Prozent. Das sind sogar mehr als in der eingangs erwähnten internationalen Studie, in der die Befragten in den USA ihr (vor nicht mal 250 Jahren gegründetes) Land für knapp 30 Prozent aller Ereignisse der Weltgeschichte verantwortlich wähnten.
In der Psychologie kennt man das Phänomen schon länger. In seinem Buch Massenpsychologie und Ich-Analyse hatte Sigmund Freud bereits 1921 darüber gespottet, dass jedes Dorf mit einem gewissen Hochmut auf die Nachbargemeinde herabsehe, jede Provinz auf ihren Nachbarbezirk. Der Mensch fühlt sich verschiedenen Gruppen angehörig – und die eigene Gruppe ist eben besser als alle anderen. „Kollektiver Narzissmus“ nennt man diesen Effekt. Der Philosoph Theodor W. Adorno hat diese Diagnose für Nazideutschland gestellt. „Am deutschen Wesen mag die Welt genesen“, hieß es schon im Kaiserreich. Nationale Selbstüberschätzung ist also keineswegs nur ein harmloser Dünkel.
Seit einigen Jahren ist man in der Psychologie dazu übergegangen, diesen kollektiven Narzissmus empirisch präziser zu erforschen. Besonders interessant sind dabei die Studien der polnischen Psychologin Agnieszka Golec de Zavala, die derzeit in London lehrt. Dabei stellte sich heraus: Kollektiver Narzissmus erschöpft sich nicht in Stolz auf die eigene Gruppe. In ihm schwingt zugleich das Gefühl mit, dass der Rest der Welt dieser Gruppe den verdienten Respekt verweigere. Zu übersteigertem Selbstbewusstsein gesellt sich also eine tiefsitzende Kränkung. Die Größenfantasie steckt in der Pelle einer beleidigten Leberwurst.
„Make America great again
Bei wem ist das der Fall? Das kann man per Fragebogen testen (siehe hier links). Studien zeigen, dass Menschen mit kollektivem Narzissmus oft mit sich selbst unzufrieden sind. Das Gefühl, zu einer überlegenen und sehr besonderen Gruppe zu gehören, verschafft ihnen Aufwertung. Wer ihnen diese Quelle des Selbstwerts nimmt, wird als Bedrohung empfunden.
Agnieszka Golec de Zavala hat diesen kollektiven Narzissmus bei den Brexiteers ebenso nachgewiesen wie bei Trump-Fans. „Make America great again“ ist der Slogan, der kollektiven Narzissten und Narzisstinnen aus der Seele spricht. Auch den Aufstieg rechtspopulistischer Strömungen in Polen und Ungarn kann die Forscherin so erklären. Er läuft nach dem Motto: Wir sind eigentlich die Größten – aber kein Mensch will es sehen.
Dass kollektiver Narzissmus und Patriotismus nicht dasselbe sind, ist mehr als nur akademische Haarspalterei. Der Unterschied hat sehr konkrete Konsequenzen. In Polen zum Beispiel lehnen patriotisch eingestellte Menschen alle Feindseligkeiten gegen syrische Flüchtlinge ab. Wer zum kollektiven Narzissmus neigt, hält solche Aversionen hingegen für angemessen. Auch in Deutschland haben soziologische Studien ergeben, dass ein nichtnarzisstischer Patriotismus eher vor Fremdenhass schützt, statt ihn zu befördern.
Doch was kann man gegen kollektiven Narzissmus tun? Einige Studien haben gezeigt, dass eine zehnminütige Dankbarkeitsmeditation helfen kann. Meditierende mit kollektivem Narzissmus empfanden nach dieser Übung weniger Fremdenhass. Das ist ermutigend, aber vielleicht auch ein bisschen weltfremd: Wen gekränkter Nationalstolz umtreibt, der neigt in der Regel weniger zum Meditieren als zu Aggression.
Im Sommer 1914 feierten die Menschen auf den Straßen Berlins. Endlich Krieg mit den Franzosen! Die eigenen Soldaten, so der Glaube, würden „bis Weihnachten zurück“ sein – und einen glorreichen Sieg errungen haben. „Die Soldaten sangen, Frauen und Mädchen hatten sich in ihre Reihen gedrängt und sie mit Blumen geschmückt. Ich habe seitdem noch manche begeisterte Volksmenge gesehen, keine Begeisterung war so tief und mächtig wie an jenem Tag.“ So notiert es der Schriftsteller Ernst Jünger. Doch in Paris spielten sich zeitgleich ganz ähnliche Szenen ab. Auch dort glaubte man an einen schnellen Erfolg über die Nachbarn.
Die Macht der positiven Illusionen
Beide Seiten, so schreibt der Politologe und Journalist Dominic Johnson, seien das Opfer einer „positiven Illusion“ geworden – einer nationalen Selbstüberschätzung. Deutsche wie Franzosen glaubten: Mit denen werden wie locker fertig! Beide überschätzten ihre Kräfte – und unterschätzten sowohl die Stärke des Gegners als auch die komplizierten Mechanismen internationaler Verträge und Beziehungen. Aus dem Armdrücken mit dem Nachbarn wurde der Erste Weltkrieg. Und der war nicht vorbei am Weihnachtsfest. Er dauerte vier lange Jahre, kostete 17 Millionen Menschen das Leben und traumatisierte eine ganze Menschheitsgeneration. Johnson hat in seinen Arbeiten viele solcher Beispiele gesammelt. Sein Fazit lautet: Nationale Selbstüberschätzung ist eine der wichtigsten Ursachen für Kriege.
Und manchmal kommt man damit sogar durch: Im Jahr 1532 stand der spanische Eroberer Pizarro mit einem kleinen Haufen von 168 Männern einem gigantischen Inka-Heer von 80000 Kämpfern gegenüber. Pizarro wagte trotzdem den Angriff, nahm vor aller Augen König Atahualpa gefangen und zerschlug dessen mächtiges Reich. In der Regel jedoch scheitern solche Manöver: Legendär ist der Ausruf General Custers vor der Schlacht beim Little Bighorn, wo er mit 675 Mann auf ein Indianerheer von 3000 Kriegern traf: „Hurra, Jungs, jetzt haben wir sie!“ Custer befahl den Angriff und wurde vernichtend geschlagen. Laut Johnson spielte nationale Selbstüberschätzung bei 19 von 20 Kriegen in der jüngeren Geschichte der USA eine Rolle. Sie kostete millionenfach Menschenleben.
Natürlich: Es fällt uns leicht, derlei Arroganz zu belächeln. Doch die psychologische Erforschung der „positiven Illusionen“ lehrt uns, dass wir selbst nicht davor gefeit sind. Auch wir neigen dazu, uns für etwas Besseres zu halten. Wir überschätzen systematisch unsere Gesundheit, unsere Führungsqualitäten, unsere beruflichen Fähigkeiten. Wir halten uns für sportlicher und moralischer, als wir tatsächlich sind. Nicht alle tun das zu jeder Zeit. Aber mehr als 25 Jahre Forschung zeigen, dass die meisten Menschen sich in den meisten Situationen überschätzen.
Dominic Johnson hat damit eine interessante Erfahrung gemacht: Wenn man im Alltag von positiven Illusionen spricht, erntet man „in 50 Prozent der Gespräche“ Widerspruch. Das alles, so bekam Johnson zu hören, gelte ja wohl nur für die anderen, nicht für einen selbst. Diese Reaktion beweist genau das, was die Erforschung der positiven Illusionen nahelegt. Fast alle machen sich etwas vor. Wir überschätzen uns selbst. Wir überschätzen die Gruppen, denen wir uns zugehörig fühlen. Und wir überschätzen das Land, in dem wir leben.
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Wie patriotisch bin ich?
In diesem Selbsttest geht es nicht um nationale Überheblichkeit, sondern um Patriotismus. Bewerten Sie bitte die folgenden Aussagen. Wählen Sie dabei jeweils eine Zahl zwischen 1 und 10.
1 bedeutet: Ich stimme überhaupt nicht zu. 10 bedeutet: Ich stimme vollständig zu. Zählen Sie am Ende alle Werte zusammen.
1. Wenn ich an die demokratischen Strukturen in Deutschland denke, empfinde ich Stolz.
2. Es macht mich stolz, wenn ich an das soziale Sicherheitsnetz in Deutschland denke.
3. Die Möglichkeiten zur politischen Teilhabe in Deutschland erfüllen mich mit Stolz.
4. Wenn ich die Bundesrepublik kritisiere, dann tue ich das aus Loyalität zu meinem Land.
5. Wenn man seinem Land gegenüber loyal ist, sollte man auch versuchen, die Probleme des Landes zu lösen.
6. Ich schätze das demokratische System in Deutschland sehr,aber ich bin auch bereit, es zu kritisieren, um es noch besser zu machen.
Auswertung:
Im Durchschnitt liegt der Gesamtwert in Deutschland etwa bei 65 Punkten. Die allermeisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer erreichen einen Wert zwischen 50 und 80 Punkten
Quelle: Thomas Blank, Peter Schmidt: National identity in a united Germany: Nationalism or patriotism? Political Psychology, 24/2, 2003, 289–312
Kollektiver Narzissmus in der Politik: Meine Ferndiagnose
Stellen Sie sich einen Politiker, eine Politikerin vor, den oder die Sie aus dem Fernsehen, der Zeitung, dem Netz kennen. Wie stark unterstützt diese Person vermutlich die folgenden Aussagen? Wählen Sie als Antwort jeweils eine Zahl zwischen 1 und 10. Wobei 1 bedeutet: Sie stimmt überhaupt nicht zu. 10 bedeutet: Sie stimmt vollständig zu. Zählen Sie am Ende alle Werte zusammen.
1. Ich wunschte, andere Länder wurden die Autoritat Deutschlands schneller anerkennen.
2. Deutschland verdient es, besonders behandelt zu werden.
3. Nicht allzu viele Menschen scheinen die Wichtigkeit Deutschlands voll zu verstehen.
4. Ich bestehe darauf, dass Deutschland den Respekt bekommt, den es verdient.
5. Es macht mich wirklich wutend, wenn andere Deutschland kritisieren.
6. Wenn Deutschland mehr zu sagen hatte, ware die Welt ein sehr viel besserer Ort.
7. Deutschlands wahrer Wert wird haufig missverstanden.
8. Ich ruhe nicht, bis Deutschland die Anerkennung bekommt, die es verdient.
Dieser Fragebogen stammt von der Psychologin Agnieszka Golec de Zavala. Sie hat ihn vor allem in Polen angewendet. Im Durchschnitt lag der Gesamtwert dort etwa bei 44 Punkten. Die allermeisten „Zielpersonen“ erreichten zwischen 24 und 64 Punkte. Hat eine Politikerin oder ein Politiker mehr als 64 Punkte angesammelt, kann man davon ausgehen, dass sie oder er – aus Sicht des Publikums – einen kollektiven Narzissmus predigt
Literatur:
Agnieszka Golec de Zavala,Dorottya Lantos: Collective Narcissism and Its Social Consequences: The Bad and the Ugly. Current Directions in Psychological Science, 29/3, 2020, 273–278
Agnieszka Golec de Zavala, Karolina DyduchHazar, Dorottya Lantos: Collective Narcissism: Political Consequences of Investing SelfWorth in the Ingroup’s Image. Advances in Political Psychology, 40 (Suppl.1), 2019, 37-74
Karolina Dyduch-Hazar, Blazej Mrozinski, Agnieszka Golec de Zavala: Collective narcissism and in-group satisfaction predict opposite attitudes toward refugees via attribution of hostility. Frontiers in Psychology, 10, 2019, 1901 ff
Adam Putnam: Collective narcissm: Americans exaggerate the role of their state in appraising U.S. history. Psychological Science, 29, 2018, 1414–1422
Franklin Zaromb, James Liu, Dario Paez, Katja Hanke, Adam Putnam, Henry Roediger: We made history: Citizens of 35 countries overestimate their nation's role in world history. Journal of Applied Research in Memory and Cognition, 7, 2018, 521–528
Dominic Johnson: Overconfidence and War. The Havoc and Glory of Positive Illusions. Harvard University Press, Cambridge 2004
Thomas Blank, Peter Schmidt: National Identity in a United Germany: Nationalism or Patriotism? An Empirical Test With Representative Data. Political Psychology, 24/2, 2003, 289–312