Wie Konfrontation hilft, Angst zu überwinden

Therapiestunde: Seit Jahren leidet eine 51-jährige Patientin unter Ängsten und Panik. Die Konfrontationstherapie droht trotz Vorbereitung zu scheitern.

Die Illustration zeigt eine Frau die ängstlich schaut, mit dem Rücken steht sie zu sich selbst als ruhige Person dargestellt, über den Köpfen eine Brücke über die die Frau geht
Der Gedanke daran, dass der Weg über die Brücke ein Weg in die Freiheit ist, half der Patientin sich ihrer Angst zu stellen. © Michel Streich für Psychologie Heute

„Es geht nicht. Ich kann’s nicht. Ich krieg es nicht hin. Wahnsinn, so schlimm hät­te ich es mir nicht vorgestellt.“ Frau L. tritt der Schweiß auf die Stirn, ihre Hände zittern. In die Angst, die ihr ins Gesicht geschrieben steht, mischen sich Anzeichen von Enttäuschung und Resignation. „Heute Morgen nach dem Aufstehen“, sagt sie, „war ich noch so optimistisch. Aber jetzt ist davon nichts mehr übrig. Ich weiß ja, dass eigentlich gar nichts passieren kann, aber…“ Sie stockt.

„Wie fühlt es sich an?“, frage…

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mehr übrig. Ich weiß ja, dass eigentlich gar nichts passieren kann, aber…“ Sie stockt.

„Wie fühlt es sich an?“, frage ich.

„Schrecklich. Einfach nur Panik“, erwidert Frau L. „Es fühlt sich so an, als wäre das mein Ende, als würde ich es nicht überleben.“

Konfrontationstherapie: sich den Ängsten stellen, um sie zu überwinden. Seit nun schon dreißig Minuten befinden wir uns am Fuß der schmalen Brücke, die heute auf unserem Programm steht. Frau L., 51 Jahre alt, leidet seit Jahren unter Ängsten. Es begann mit einem Panikanfall in einem Supermarkt. Sie hatte sich nicht wohlgefühlt und auf einmal den Eindruck gehabt, sie könne umkippen. Rasch hatte sich ihr Unwohlsein zu einer intensiven Angstreaktion hochgeschaukelt. Was-wenn-Gedanken wie: „Was, wenn ich nicht mehr auf die Beine komme?“, und: „Was, wenn mir niemand hilft?“, hatten das Bedrohungsgefühl anwachsen lassen.

Rationale Argumente helfen bei Angst nicht

Die Begleiterscheinungen der Angst wie Herzklopfen, Kurzatmigkeit, Zittern und Schwitzen hatten noch mehr Befürchtungen auf den Plan gerufen („Was ist, wenn ich keine Luft mehr be­komme? Was, wenn mein Herz stehenbleibt?“) und Frau L. wollte nur noch eins: „Weg hier!“ In der Folge war sie dazu übergegangen, immer mehr Situationen zu vermeiden, in denen sie einen Angstanfall befürchtete, bis sie sich irgendwann nicht einmal mehr traute, ihr Zuhause unbegleitet zu verlassen. Als ihr irgendwann bewusstwurde, wie hilflos und abhängig sie geworden war, entschied sie, dass es so nicht weitergehen konnte, und begab sich in Therapie.

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Die Brücke verbindet die Siedlung, in der sie lebt, mit einem kleinen Naherholungsgebiet auf der anderen Seite der Eisenbahnstrecke. Als Kind ist sie regelmäßig über die Brücke gelaufen, um im Wald zu spielen, im See zu baden oder sich in der Gaststätte ein Eis zu kaufen. Nun aber erscheint sie ihr als unüberwindbares Hindernis. Sie starrt auf die Brücke wie das Kaninchen auf die Schlange, ihre Angst ist auf einem Maximum und alle meine bisherigen Bemühungen, ihr Mut zu machen, sind verpufft.

„An welchem Gedanken hängen Sie gerade fest?“, frage ich. „Dass irgendetwas Schreckliches passieren wird. Es klingt absurd, aber ich stell mir gerade vor, dass die Brücke zusammenbrechen könnte, wenn ein Zug darunter herfährt.“ Sie schaut mich gequält an. Was soll ich sagen? Rational damit zu argumentieren, dass die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert, äußerst gering ist, verfängt bei ihr nicht. Was vielleicht etwas damit zu tun hat, dass ihr in ihrem Leben tatsächlich viele schlimme und – zumindest in der Häufung – unwahrscheinliche Dinge zugestoßen sind, angefangen bei sexueller Gewalt, Unfällen, bedrohlichen allergischen Schocks bis hin zu schweren Erkrankungen.

Man weiß nie, was in einer Konfrontation passiert

Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass sie bereits früh im Leben demütigenden Bestrafungsritualen durch ihren Vater ausgesetzt war. Wie soll jemand lernen, der Welt zu vertrauen, der immer wieder so von ihr enttäuscht und verletzt wurde? Und im Grunde genommen ist es das, was bei einer therapeutischen Konfrontation geschieht: Der ängstliche Mensch wird dabei unterstützt, der Welt Vertrauen zu schenken, auch wenn er dieses Vertrauen nicht fühltder Welt und sich selbst: Ich werde die Angst aushalten können, sie wird mich nicht ums Leben und auch nicht um den Verstand bringen, mir letztlich nicht schaden. Die Erfahrung, dass dies tatsächlich so ist, ist ein wirksamer Bestandteil dieses Vorgehens – sie ist heilsam.

„Ich habe noch nie eine Konfrontation gemacht, du?“, fragte mich einmal ein Kollege, ebenfalls Verhaltenstherapeut, der einige Jahre Berufserfahrung mehr auf dem Buckel hatte als ich. Ein solches freimütiges Geständnis wäre Wasser auf die Mühlen von Psychotherapieforscherinnen und -forschern, die beklagen, dass in Therapien oft zu viel geredet und zu wenig geübt wird.

Gerade Menschen, die unter Zwängen und Ängsten leiden, profitieren davon, wenn sie sich mit den Situationen konfrontieren, vor denen sie Angst haben. Es mag unterschiedliche Gründe dafür geben, dass die Konfrontationstherapie in der ambulanten Praxis zu wenig genutzt wird: Sie ist zeitlich und organisatorisch aufwendig, muss gut vorbereitet und geplant werden, die Patientinnen müssen erst einmal von ihrem Nutzen überzeugt werden – und man weiß nie genau, was passiert.

Muss die Übung abgebrochen werden?

Vielleicht liegt es an solchen Situationen wie der, in der Frau L. und ich uns gerade am Fuß der Brücke befinden, dass die Konfrontationstherapie nicht so häufig angewendet wird, wie sie sollte. Eigentlich ist alles klar und der Ablauf gründlich vorbesprochen – und nun droht das Ganze zu scheitern, denn Frau L. scheint sich nicht überwinden zu können. Dabei hat sie die vorherigen Konfrontationsübungen gut bewältigt. Wir sind spazieren gegangen und Bus gefahren, haben einen Supermarkt aufgesucht, das alles hat wirklich gut geklappt. Kommt hier die Höhe hinzu? Hat sie vielleicht auch einfach – typisch für viele Angstpatienten und -patientin­nen – einen schlechten Tag?

Wir gehen noch einmal alles durch: ihre körperlichen Empfindungen und was sie zu bedeuten haben; die Unbedenklichkeit der Situation; was sie bislang schon alles geschafft hat; dass sie doch ihre Angststörung überwinden will – und dass die Konfrontation der beste Weg ist, dies zu erreichen.

„Ich weiß, ich muss es jetzt einfach tun, einfach über die verdammte Brücke gehen“, sagt sie. „Aber die Angst ist so mächtig.“ Man sieht ihr den inneren Kampf an – und ihre zunehmende Mutlosigkeit. In mir wächst die Versuchung, sie aus der schwierigen Situation zu erlösen und die Übung abzubrechen. Das ist zwar therapeutisch ungünstig, aber manchmal leider unumgänglich. Auf der anderen Seite ist da irgendetwas in ihrer Stimme, ihrem Blick, in der Art, wie sie die Hände zu Fäusten ballt, das mir zeigt, dass sie noch nicht aufgeben will. Die Bereitschaft, sich auf eine emotional schwierige Situation einzulassen, ist höher, wenn es um etwas geht.

Die Brücke in die Freiheit

„Wozu könnte es wichtig sein, dass Sie diese Brücke überqueren?“, frage ich sie.

Plötzlich leuchtet etwas in ihren Augen auf. „Vielen Dank für diese Frage! Wissen Sie, woran ich gerade denken muss? Meine Tochter ist schwanger. Ich werde bald Oma und freue mich sehr darauf. Und wenn mein Enkelkind da ist, dann will ich mit ihm über diese Brücke gehen, im Wald verstecken spielen, im See baden, an der Gaststätte Eis essen.“

Auf einmal hatte die Patientin ein konkretes Wozu. Die Fähigkeit, die Brücke zu überqueren, ist zu etwas Bedeutungs- und Sinnvollem geworden, hat an Wert gewonnen. Wir konnten die Übung erfolgreich abschließen, so wie auch noch manche andere im weiteren Verlauf der Therapie.

„Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will“, sagte Schopenhauer. Da mag etwas dran sein. Allerdings richtet sich unser Fokus oft so sehr auf das, was wir nicht wollen – nämlich zum Beispiel Angst zu haben –, dass wir das, was wir wollen, ganz aus dem Blick verlieren. Gehen wir in Kontakt damit, worauf es wirklich ankommt in unserem Leben, sind wir auch bereit, Dinge zu tun, die uns ängstigen. In der Fähigkeit, sich mit einem inneren Wozu zu verbinden, liegt eine gro­ße psychologische Kraft und der Kern unserer menschlichen Würde und Freiheit.

Matthias Wengenroth, Diplompsychologe, arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Solingen. Er ist Autor unter anderem von Therapie-Tools: Akzeptanz- und Commitmenttherapie (Beltz 2017) und Gib dich nicht auf, lass dich wieder ein! (Hogrefe 2019).

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2023: Dinge weniger persönlich nehmen