Herr Schmiedel, Sie begleiten jährlich rund 200 Männer in Täterprogrammen, nachdem diese in ihrer Partnerschaft Gewalt angewendet haben. Hat die Lage in der Coronapandemie zu einem Anstieg der Anfragen geführt?
Nach der ersten Welle der Coronapandemie haben wir in München keine erhöhten Zahlen verzeichnen können. Grundsätzlich erfüllt die Pandemiesituation aber sehr viele Kriterien, die häusliche Gewalt begünstigen. Gerade Weihnachten im Lockdown war für viele unserer Männer eine problematische Situation.…
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begünstigen. Gerade Weihnachten im Lockdown war für viele unserer Männer eine problematische Situation. Diese Zeit ist ohnehin emotional überfrachtet, und zusammen mit Alkohol, Kontaktbeschränkungen und unter Umständen physischen und psychischen Belastungen ergibt das eine hochtoxische Kombination.
Sind die Folgen solcher Risikozeiten immer erst später zu sehen?
Ja, sie werden erst zeitversetzt sichtbar, wenn die Anzahl der Gewaltmeldungen ansteigt. Gerade in wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Unsicherheit nimmt die Bereitschaft zur Trennung erst einmal ab, weil es für Frauen dann noch schwieriger als sonst ist, sich Hilfe zu holen oder aus dem System auszutreten. Vor allem aber wird die Pandemie Folgewirkungen haben für die Kinder aus belasteten Familien. Häusliche Gewalt betrifft auch sie – als Zeugen und als Opfer. Gerade in Zeiten des Lockdowns haben sie ohne Schule und Kita kein familienexternes Schutzsystem mehr.
Ihr Angebot richtet sich ganz explizit an Männer. Ist Gewalt aus Ihrer Sicht ein männliches Problem?
Körperliche Gewalt ist grundsätzlich ein männliches Problem. Sie ist männlich konnotiert und damit rollenkonform. Derzeit sitzen wegen Straftaten – also massiven gesellschaftlich wahrgenommenen und sanktionierten Regelbrüchen – ungefähr fünfzigtausend Männer und nur dreitausend Frauen in Haft. Wenn ich eine Haftstrafe als Sanktion für einen massiven Regelbruch oder eine Grenzüberschreitung interpretiere, dann heißt das, dass Männer hier offensichtlich ein spezifisches Problem haben. Zum Beispiel auch bei körperlicher Gewalt.
Wer sind die Männer, die zu Ihnen in Gewaltpräventionskurse kommen?
Geht es um häusliche Gewalt, kommen hauptsächlich Männer, die in einer Beziehung wiederholt Gewalt gegenüber ihrer Partnerin ausgeübt haben. Mit reinen Vergewaltigern oder mit Stalkern können wir nicht arbeiten – diese Tätertypen unterscheiden sich aufgrund ihrer psychischen Struktur sehr stark von den häuslichen Gewalttätern. Stalker etwa haben in der Regel Schwierigkeiten, sich auf das Programm einzulassen. Ihnen fällt es schwer, Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen, sie übertragen die Schuld meist komplett auf das Opfer. Außerdem verhalten sie sich oft sehr problematisch in Gruppensituationen.
Kommen die Männer freiwillig?
Wir arbeiten vorrangig im Zwangskontext. Manche Männer haben ein Strafurteil und manche einen Familien- oder Jugendgerichtsbeschluss. Andere wiederum kommen mit der Ansage ihrer Partnerin, dass sie jetzt wirklich etwas verändern müssen, wenn sie die Partnerschaft weiterführen wollen. Männer, die aus freien Stücken zu uns kommen und sagen, ich habe meine Frau geschlagen und möchte so nicht sein, sind die Ausnahme.
Wer schlägt seine Partnerin?
Männer aus allen Schichten, Altersgruppen, Nationalitäten und Bildungsgraden. Es reicht tatsächlich vom ungelernten Arbeiter bis zum Vorstandsvorsitzenden. Allerdings gibt es bestimmte Berufsgruppen, die wir kaum erreichen, weil die Männer es schaffen, sich nach einem Gerichtsurteil mithilfe von Anwälten anders aus der Affäre zu ziehen. Richter, Ärzte, Anwälte oder Schauspieler etwa gehen eher in Individualtherapien und lenken damit stärker um auf psychische Belastungen oder biografische Ausnahmesituationen. Fakt ist aber, dass sie sich im Hinblick auf Partnerschaftsgewalt nicht unterscheiden von den Männern, mit denen wir hier arbeiten.
Worin ähneln sich die Männer, die ihre Frauen schlagen?
Es gibt zwei wichtige Gemeinsamkeiten. Zum einen haben viele unserer Männer selbst als Kinder Gewalt in der Familie erlebt. Umso mehr Gewalt Kinder zu Hause erfahren, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie später selbst Gewalt ausüben werden. Allerdings entlastet ihre biografische Erfahrung sie nicht von der Verantwortung für die eigene Gewaltausübung. Wir vermitteln den Männern in unserem Programm, dass es besser ist, ein gewaltloser Vater zu sein, weil ihre Frauen und Kinder dann keine Angst vor ihnen haben. Viele Männern erinnern sich dabei dann gut an die Angst, die sie selbst als Kinder erleben mussten.
Und die zweite Gemeinsamkeit?
Das patriarchale Weltbild der Männer. Diese hierarchische Interpretation vom Verhältnis von Männern und Frauen begünstigt häusliche Gewalt. Wenn ein Mann stark von dieser Vorstellung geprägt ist und einer Frau begegnet, die sich ihm als ebenbürtig präsentiert oder widersetzt, fühlt er sich davon oft so bedroht, dass er über die Ausübung von Gewalt seine Idee von Männlichkeit zu reparieren versucht. Diese Weltsicht ist in unserer Gesellschaft immer noch sehr verbreitet. Ich sehe in Bezug auf das Frauenbild teilweise keinen großen Unterschied zwischen einem erzkatholischen und einem traditionell muslimischen Hintergrund.
Warum klammern sich so viele Männer an die Idee des Patriarchats?
Es ist ein Privileg für Männer, öffentliche Räume umfänglich nutzen zu können, es ist ein Privileg, einen größeren Radius zu haben, es ist ein Privileg, bestimmen zu dürfen, wo es langgeht. Diese Privilegien aufzugeben wird als Verlust wahrgenommen. Wir arbeiten mit den Männern daran, zu erkennen, dass es ihnen insgesamt besser geht, wenn sie diese Privilegien zugunsten einer echten Partnerschaftlichkeit aufgeben, weil sie dann zum Beispiel viel befriedigendere Beziehungen führen und ein deutlich besseres Lebensgefühl haben.
Hat die Emanzipation dazu beitragen können, häusliche Gewalt zu reduzieren?
Die gesellschaftlichen Diskurse, die seit nun einigen Jahrzehnten stattfinden – Gleichberechtigung und Inklusion zum Beispiel –, haben zur Ächtung häuslicher Gewalt geführt und dazu, bessere gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Heute steht häusliche Gewalt unter Strafe. Das hinterlässt mit der Zeit Wirkung. Es dauert allersdings zwanzig bis dreißig Jahre, bis solche Fortschritte gesellschaftlich sichtbar werden. Derzeit sieht man besonders starke Rückgänge bei der Straßengewalt. Das hat viel mit dem Rückgang an Gewalt gegenüber Kindern in den Elternhäusern zu tun.
Ist die häusliche Gewalt heute stärker schambesetzt?
Nicht nur das. Menschen setzen ein Verhalten in der Regel nur dann fort, wenn sie es als zielführend erleben. Wenn ein Mann jahrelang seine Frau schlägt und sich damit durchsetzen kann, gibt es für ihn wenig Motivation, daran etwas zu ändern. Allein das objektive Wissen darum, dass es falsch ist, führt nicht zur Erkenntnis, dass etwas geändert werden soll. Wenn die Männer aber der Wohnung verwiesen werden, hat das unmittelbare negative Folgen. Die Krise, die dann einsetzt, birgt die Chance einer Veränderung.
Sie bieten ein gewaltzentriertes Gruppenprogramm für Männer an. Wie arbeiten Sie mit ihnen?
Wir können niemanden zwingen, sich zu verändern. Deshalb brauchen wir immer einen Arbeitsauftrag von unseren Teilnehmern. Erst mal schauen wir in fünf Einzelgesprächen, welche Vorteile es für den Mann haben könnte, am Gruppenprogramm teilzunehmen. Das könnte zum Beispiel sein, dass die Partnerschaft sich verbessert.
Die Männer, die das Programm durchlaufen, erleben sich in der Folge meist als wesentlich selbstwirksamer, sie müssen weniger Abspaltung der Gefühle ertragen und haben mehr Skills und Ressourcen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, ohne dass diese auf Kosten von jemand anderem gehen – das schafft ein echtes Gefühl der Zufriedenheit und Integrität. Für Männer, die keinen Auftrag für uns finden, haben wir kein Angebot. Wir machen auch von Anfang an klar: Unsere Aufgabe ist Opferschutz.
Was heißt das?
Wir arbeiten generell mit Schweigepflichtentbindungen gegenüber der von Gewalt betroffenen Frau. Wenn wir den Eindruck haben, der Mann ist rückfallgefährdet, wird das Umfeld unmittelbar darüber informiert. Darauf müssen sich die Männer einlassen.
Wie ist das Gruppenprogramm aufgebaut?
Wir arbeiten nach dem Standard der Bundesarbeitsgemeinschaft Häusliche Gewalt. Unsere Gruppen finden über 26 Wochen hinweg wöchentlich statt und sind mit acht Männern und zwei Gruppenleitungen besetzt, im Idealfall ein Mann und eine Frau. Das ist wichtig, weil die Männer von Anfang an mitbekommen sollen, dass eine Frau ihnen genauso viel zu sagen hat wie ein Mann. Insgesamt ist unser Programm sehr stark strukturiert. Nach dreizehn Sitzungen ist immer ein Break, dann haben vier Männer das Programm abgeschlossen und vier neue kommen dazu. Wir arbeiten also mit einem Junior-Senior-Prinzip. Das hat sich bewährt, weil dadurch die Gruppendynamik stabiler ist und so auch die Scham, in das Thema einzusteigen, für die neuen Männer verringert ist.
Was passiert in den Gruppen?
Unsere Haltung ist: Egal wie sehr du dich von deiner Partnerin provoziert gefühlt haben magst, in dem Moment, in dem du zuschlägst, hast du eine Entscheidung getroffen und bist ein Täter. Daraus ergibt sich die logische Konsequenz, dass der Mann sich auch anders entscheiden kann, gegen Gewalt – für eine gewaltlose Konfliktlösung. Wir fragen: Was brauchst du, damit du das zukünftig auch umsetzen kannst? Was kannst du tun, um eigene und fremde Grenzen zu schützen?
Können die Männer das gut annehmen?
Nicht immer. Viele Männer erleben sich selbst in Situationen, in denen sie Gewalt anwenden, als bedroht. Gefühlt schlagen sie nur zurück. Wir rekonstruieren mit ihnen dann eine besonders markante Tat, die sie begangen haben. Gemeinsam in der Gruppe legen wir die verschiedenen Schichten ihrer Argumentation frei, bis wir sozusagen am Kern ankommen: Du hast Gewalt ausgeübt, weil du es kannst und willst. Wir können nicht mit Personen arbeiten, die sagen: „Mir ist die Hand ausgerutscht, ich bin halt ausgeflippt, das war ein Blackout.“ Wir können nur mit Männern arbeiten, die Entscheidungen treffen. Dann können wir nämlich sagen: Jetzt kannst du andere Entscheidungen treffen.
Wie versetzen Sie die Männer in die Lage, andere Entscheidungen zu treffen?
Innerhalb unseres Gruppenprogramms schauen wir gemeinsam die Biografien an und erarbeiten bei jedem Mann eine Gewalt-Tat-Bilanz. Wir fragen: Welche Ziele hast du mit deiner Gewalt erreicht? Nämlich letztendlich keine guten oder wirklich zielführenden. Wir überlegen gemeinsam, wie sich das Opfer ihrer Gewalt währenddessen gefühlt hat, und üben mit ihnen das Mitfühlen, hin zu der Frage, was richtest du mit deiner Gewalt an. Allein das kann bewirken, dass sie in der nächsten Situation an der Schwelle zur Gewalt anders mit der Situation umgehen. Ein wichtiger Baustein unserer Arbeit ist, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und darüber sprechen zu können.
Resultiert denn die Gewalt aus der Unfähigkeit, die eigenen Gefühle wahrzunehmen?
Das ist ein Teil davon. Viele Männer wenden Gewalt in Situationen an, in denen sie sich als unwirksam erleben. Wenn sie aber lernen, während des Streits ihre Überforderung zu spüren und zu sagen: „Ich verlasse jetzt die Wohnung und komme später wieder, dann suchen wir nach einer Lösung für das Problem“, sind sie wieder handlungsfähig. Wir arbeiten also mit ihnen daran, Diskurse in der Partnerschaft so auszuführen, dass niemand Schaden daran nimmt. Oft erleben die Männer in unseren Gruppen zum ersten Mal, dass ihre Gefühle wichtig sind.
Wie verändern sich die Partnerschaften dadurch?
Viele Männer merken relativ zügig, dass sie durch ihr verändertes Kommunikationsverhalten positive Effekte verbuchen. Oft reagieren die Frauen sehr wohlwollend darauf. Manche Männer sagen aber auch: Was nützt das, wenn ich an mir arbeite und meine Frau bleibt gleich? Wir antworten, dass sich ein System auch dann verändert, wenn sich nur ein Teil des Systems zu bewegen beginnt. Es gibt allerdings auch Frauen, die mit dem Mann dann nichts mehr anfangen können. Das kann zu einer Trennung führen, die ich in dem Falle aber begrüße und die wir durch die Gruppe begleiten.
Wie hoch ist die Erfolgsquote in den Gruppenprogrammen?
Nach Abschluss des Programms zeigen nach unseren Beobachtungen und unserem Wissen ungefähr zwei Drittel der Männer erkennbare Änderungen in ihrer Lebensführung. Allerdings haben wir keine wissenschaftlichen Studien dazu durchgeführt. Forschung aus Australien konnte jedoch zeigen, dass standardisierte Gewaltprogramme – wie unsere – häufig bis in die nächste Generation wirksam sind, dass also auch in der Generation der Kinder keine Gewalt mehr auftritt. Das stimmt sehr hoffnungsvoll.
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Andreas Schmiedel ist Sozialpädagoge und bildet Fachkräfte für Täterarbeit und Gewaltprävention aus. Seit 2010 arbeitet er im Münchner Informationszentrum für Männer, das er seit 2018 leitet