Über Mut

Wir sprechen oft davon, dass jemand mutig ist. Doch was bedeutet das genau? Und wovon hängt es ab, ob jemand Mut zeigt?

Illustration zeigt einen Mann, der ein Kind aus einem Feuer trägt
Mutig zu sein heißt nicht unbedingt, keine Angst zu haben © Getty images

Hotshots stehen im Ruf, besonders taff zu sein. Als Elitetruppe der US-Brandbekämpfung reisen sie durchs Land, um Waldbrände zu stoppen. Mary Pauline Lowry war Ende der 1990er Jahre zwei Jahre eine von ihnen und hat darauf basierend den Roman Wildfire geschrieben. Hotshots heben Gräben aus und fällen Bäume, um den gewaltigen Feuerwänden das Brennmaterial zu entziehen. Ein gefährlicher Job. Es gab Momente, in denen die junge Frau um ihr Leben rennen musste. In Extremfällen hilft nur, sich auf den Boden zu legen, eine feuerfeste Plane überzuwerfen und das Feuer über sich ergehen zu lassen. Nur mit Glück überlebt man die extreme Hitze.

Die Arbeit erfordert immensen Mut. Lowry war als Kind nie besonders ängstlich, sagt sie, aber auch nicht besonders mutig. Wie konnte sie sich diesen Herausforderungen dennoch stellen? Kann man lernen, mutig zu sein? Was ist Mut überhaupt? Und wo ist die Grenze zu ziehen zum Beispiel zu übermäßiger Risiko­freude?

Die amerikanischen Psychologen Christopher Peterson und Martin Seligman bezeichnen Mut neben Weisheit, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Transzendenz als eine der sechs Grundtugenden, die in allen religiösen und philosophischen Traditionen allgegenwärtig sind. Mut scheint also ein Konzept zu sein, das die Menschheit schon lange begleitet. Die psychologische Forschung untersucht jedoch erst seit einigen Jahren genauer, was dahintersteckt und unter welchen Umständen Menschen mutig agieren. Die Vorstellungen davon, was Mut ist, haben sich über die Zeit gewandelt, und sie sind auch heute divers.

Einst eine männliche Tugend

Einst galt die Fähigkeit vor allem als männliche Tugend. Homer beispielsweise verwendete in der Ilias das altgriechische Wort andreia für Tapferkeit, was wörtlich „Mannhaftigkeit“ bedeutet. Lange Zeit war Mut mit Krieg und Streit verbunden, Generäle forderten von ihren Soldaten etwa, im Kampf Mut zu zeigen. Die Wiener Psychotherapeutin Rotraud Perner kritisiert daher, dass der Begriff auch als Mittel diene, Menschen zu manipulieren, bedeute er so doch Gehorsamkeit nach dem Motto: Sei mutig, indem du tust, was ich sage.

Dieser scheinbare Mut findet sich auch bei teils sehr gefährlichen Mutproben, die im Grunde Unterwerfungstests sind. „Nein sagen wäre die wahrhaft mutige Tat“, sagt Perner. „Schließlich gibt es auch Terroristen oder Selbstmörder, die sich in Abschiedsbriefen als mutig beschreiben.“ Der eigentlich positive Begriff Mut kann also verzerrt verstanden und wiedergegeben werden. Umso wichtiger ist es den Wissenschaftlern, sich mit dem „wahren“ Mut zu beschäftigen und mit der Frage, wie man ihn fördern kann.

Aristoteles schrieb, mutig sei, wer sich den richtigen Dingen aus den richtigen Gründen auf die richtige Art zur richtigen Zeit stelle und dessen Gewissen rein sei. Damit erkannte der Philosoph drei grundlegende Bestandteile von Mut: ein Risiko, eine angemessene Handlung und ein Ziel. Der amerikanische Philosoph Herbert Gardiner Lord kam 1918 zu dem Schluss, Mut sei, wenn die Angst von einem „edleren Gefühl“ überstimmt werde. Edel kann demnach die Selbstbehauptung sein, der Schutz von Leben, die Ehre oder die Liebe zum Heimatland.

Ein bewusstes Risiko eingehen

1978 lieferte Stanley Rachman von der University of British Columbia in Vancouver eine erste wissenschaftliche Definition: Mut sei vorhanden, wenn beim Menschen eine Mischung aus subjektiven und kognitiven psychophysiologischen Veränderungen eintrete sowie eine erhöhte Erregung, gepaart mit dem Wunsch zu fliehen, dem nicht nachgegeben werde. Allerdings zeigte sich in Untersuchungen später: Einige mutig handelnde Menschen verspüren weniger Angst als andere – insofern war die Umschreibung zumindest unzureichend.

Erst 2010 formulierte Christopher Rate von der Universität Yale eine umfassendere Erklärung, anhand derer sich Mut weiter kategorisieren lässt. Mut ist demnach eine absichtliche Handlung, die jemand trotz Risiko für sich unternimmt, um ein edles oder anderweitig lohnendes Ziel zu verfolgen; das subjektive Gefährdungsgefühl kann Angst hervorrufen oder auch nicht, unabhängig davon ist sich der Handelnde des Risikos aber bewusst.

Christopher Keller von der Seattle Pacific University unterscheidet darauf aufbauend verschiedene Arten von Mut. Physischer Mut ist demnach etwa bei der Arbeit einer Feuerwehrfrau zu beobachten, bezeichnet aber auch den Mut, von einem Zehnmeterbrett zu springen. Bei moralischem Mut – oder auch Zivilcourage – vertritt jemand seine Werte nach außen und riskiert dafür soziale Ächtung. Das Verhalten der Afroamerikanerin Rosa Parks ist ein berühmtes Beispiel dafür: Sie weigerte sich 1955, ihren Platz im Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen, und wurde dafür beschimpft und verhaftet. Psychologischer Mut zeigt sich im Durchhaltevermögen, beispielsweise bei einer chronischen Erkrankung. Vitaler Mut ist damit verwandt – bei ihm geht es darum, Lebensmut und Optimismus zu bewahren, wenn einem ein Unglück widerfährt. Viktor Frankl, der ein Konzentrationslager überlebte, schrieb etwa, er wollte sich dazu entscheiden, „mutig zu leiden“. Auch Menschen, die krank oder verletzt sind, sind auf eine Weise mutig, wenn sie ihre Würde bewahren, statt aggressiv oder wehleidig zu werden.

Persönliche Voraussetzungen entscheiden mit

Mut hat somit viele Facetten – und er ist insofern individuell zu betrachten, als dass die persönlichen Voraussetzungen darüber mitentscheiden, ob wir ein Verhalten als mutig einstufen. Die Mutforscherin Cynthia Pury, Professorin an der Clemson University in South Carolina, erzählt zum Beispiel von einem Mann, der Schreckliches mit dem Weihnachtsfest verband, da er in dieser Zeit als Kind misshandelt worden war. Als Erwachsener konnte er deshalb zunächst nicht mal ein Geschenk für seine Tochter einpacken. Doch in der Therapie gelang ihm das nach einiger Zeit trotz großer innerer Widerstände. Auch das sei Mut, sagt Pury: „Um den Mut eines Menschen anzuerkennen, müssen wir seine Geschichte kennen oder seine Motivation nachvollziehen.“ Einen Mann, der in ein brennendes Haus rennt, um den Laptop mit seinem Romanmanuskript zu retten, empfinden wir wahrscheinlicher als mutig, wenn wir selbst Schriftsteller sind – und schütteln ansonsten wohl eher den Kopf.

Zudem ist Mut „domänenspezifisch“, wie Risikoforscher Thorsten Pachur vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung es nennt. Nur weil man in einem Bereich mutig ist, muss das in anderen noch lange nicht so sein. „Wer zum Beispiel finanzielle Risiken eingeht, ist nicht unbedingt mutig beim Bungee-Jumping.“ Und jemand, der einen anderen vor dem Tod gerettet hat, wird wiederum nicht unbedingt mit hohen Summen an der Börse jonglieren. „Es gibt allerdings Zusammenhänge von Mut und Impulsivität“, sagt Pachur. „Impulsive Menschen sind eher risikobereit. Sie haben möglicherweise auch weniger Angst und schätzen Risiken optimistischer ein.“

Mut besteht somit offenbar aus einer Persönlichkeits- und einer Motivationskomponente. Einige Menschen scheinen von Geburt an risikoscheu zu sein, andere sind es nicht. Ob sich das Alter auf die Risikobereitschaft auswirkt, ist umstritten (siehe Kasten). In einem sind sich die Forscher aber einig: Menschen können unabhängig von Alter, Geschlecht und Persönlichkeit lernen, mutiger zu sein. Der Psychologe und Pädagoge Siegbert Warwitz sagt sogar, Mut sei eine Geisteshaltung und Charaktereigenschaft, die jeder bei sich ausbilden müsse: „Sie ist notwendig, weil man sonst in seiner Persönlichkeitsentwicklung stagniert. Mutig sein heißt, neue Wege zu beschreiten und über Grenzen, die nur scheinbar vorhanden sind, hinauszugehen.“ Man brauche es, um lebensfähig zu sein.

Wer mutiger ist, hat weniger körperliche Beschwerden

Tatsächlich gibt es Mutmaßungen, wonach mutige Menschen psychisch gesünder sind. Christopher Keller untersuchte dies 2016 in einer mehrwöchigen Studie. Er befragte die Teilnehmer nach somatischen Beschwerden wie Schwindelgefühlen, Übelkeit oder Magenschmerzen und gleichzeitig nach der Bereitschaft, mutige Taten anzugehen, etwa ob sie sich in eine häusliche Diskussion einmischen würden, wenn Gewalt im Spiel ist, oder ein wichtiges Projekt am Arbeitsplatz akzeptieren würden, das öffentliche Kritik nach sich zieht. Die Fragebögen mussten die Probanden nach zwei und sechs Wochen erneut ausfüllen. Dabei zeigte sich, dass der Wille, Mut zu zeigen, und das somatische Empfinden sich beeinflussen: Wer mutiger ist, hat weniger körperliche Beschwerden – und umgekehrt.

Es lohnt sich also offenbar, sich in Mut zu üben. Um in angstbesetzten Situationen voranzuschreiten, scheint es manchmal sogar zu genügen, seine Konzentration in die richtige Richtung zu lenken. Das legt zumindest eine Studie von Uri Nili und Yadin Dudai vom israelischen Weizmann-Institut für Wissenschaften nahe, bei der die Forscher die Reaktionen ihrer 39 Probanden per Magnetresonanztomografie untersuchten. Bei dem Versuch blickten die Personen, die alle eine überdurchschnittlich große Angst vor Schlangen hatten, auf eine eineinhalb Meter lange, aber ungiftige Kornnatter und konnten diese per Förderband von sich weg- oder bis zu 20 Zentimeter dicht an sich heranbewegen.

Dabei zeigte sich, dass die Probanden zwar später sagten, ihre Angst sei mit der Nähe größer geworden, die körperlichen Messungen aber das Gegenteil beschrieben. Der vordere Bereich des subgenualen anterioren cingulären Cortex (sgACC), einer Gehirnregion, die mit Emotionen in Verbindung gebracht wird, war äußerst aktiv, sobald die Schlange näherkam, aber gleichzeitig produzierten die Teilnehmer weniger Schweiß. Gab jemand seiner Angst hingegen nach, gingen die sgACC-Aktivitäten zurück, dafür zeigten sich stärkere somatische Reaktionen, die Person schwitzte stärker. Mit anderen Worten: Erstaunlicherweise traten gerade dann geringere körperliche Angstsymptome auf, wenn die Schlange näherkam.

Angst schrittweise überwinden

Mutforscherin Cynthia Pury erklärt das so: „Leute, die sich entscheiden, mutig zu handeln, sind mit dem Ziel der Handlung beschäftigt und nicht mehr mit der angsteinflößenden Sache. Ich vermute: Sobald jemand die Aufmerksamkeit vom Ziel auf das Risiko zurücklenkt, verliert er wieder an Mut.“ Um mehr Mut zu zeigen, sollte man sich also am besten auf das Ziel konzentrieren, und das geht leichter, wenn man sich intensiv auf die Situation vorbereitet.

Mary Lowry etwa sagt, sie habe für ihre Arbeit als Brandbekämpferin jahrelang intensiv CrossFit-Training betrieben, um sich auf ihre physischen Kräfte verlassen zu können. Auch wer von einem Zehnmeterbrett springen möchte, beginnt nicht ganz oben, sondern eher am Beckenrand. Man arbeitet sich Schritt für Schritt weiter. Dort, wo man Angst spürt, liegt der nächste Entwicklungsschritt. Insofern ist das Erlernen von Mut den Prinzipien der kognitiven Verhaltenstherapie ähnlich: Auch bei ihr geht es darum, sich einer angstbezogenen Situation schrittweise zu stellen. Der Patient lernt, dass das befürchtete Ereignis nicht eintritt, und die Angst klingt über diese Erfahrung mit der Zeit ab. Mut führt schrittweise zu mehr Mut.

Auch bei Zivilcourage als einer Form von Mut helfen besondere Trainings, die Herausforderungen besser zu meistern (siehe Interview). „In den Medien erfahren wir zur Genüge, welche Situationen, die unsere Hilfe erfordern, im Alltag eintreten können“, sagt Siegbert Warwitz – Übergriffe auf Passanten in der U-Bahn zum Beispiel. Man sollte sich vorab Gedanken darüber machen, was man dann tun würde, rät er: Wäre ich in der Lage, körperlich einzugreifen? Was ist, wenn Waffen im Spiel sind? Würde ich lieber andere um Hilfe bitten oder die Polizei rufen? „Es gibt viele Möglichkeiten“, sagt Warwitz. „Aber sie erfordern alle eine mentale Bereitschaft.“ Fehlt diese, seien Menschen oft wie gelähmt, schauten weg, brächten sich unnötig in Gefahr oder provozierten gar zusätzliche Gewalt.

Viele Eltern sind überängstlich

Für Rotraud Perner ist Körperbeherrschung eine wesentliche Voraussetzung für mutiges Handeln. Die Psychotherapeutin fordert, das schon im Schulunterricht zu bedenken. „Das Turnen ist immer noch zu sehr auf Sportwettkämpfe ausgerichtet. Das Bewusstsein für den Körper spielt keine Rolle“, sagt sie. „Mut bedeutet aber, dass ich meine Kraft bei der Konfrontation mit einem Risiko nicht verschwende.“ Mutige Menschen hätten gelernt, mit innerlicher Ruhe ihr Potenzial zu entfalten. „Den Leuten, die das können, schreiben wir eine natürliche Autorität zu. Dabei ist das etwas, was jeder lernen kann und zum Beispiel bei asiatischen Kampfkünsten gelehrt wird.“ Wer seinen Körper beherrsche und mental vorbereitet sei, könne die Situation besser und schneller erfassen und daher rascher reagieren, was zum Beispiel bei unerwarteter Gefahr von immensem Vorteil ist.

Zu Mut gehört somit auch eine realistische Risikoabschätzung. Raser auf der Autobahn etwa sind nicht mutig, sondern übermütig – wobei man Übermut hier wörtlich verstehen kann: als Überschätzung des eigenen Vermögens, Lage und drohende Gefahr zu kontrollieren. „Man sollte sich immer gekonnt in ein Risiko begeben“, sagt Siegbert Warwitz. „Mut ist vernünftig, wenn man das Risiko einer Handlung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu beherrschen glaubt.“

Dafür ist auch eine gewisse Erfahrung in der Konfrontation mit möglichen Gefahren und den eigenen Kräften nötig. Doch das werde vielfach verhindert, kritisiert Warwitz. Nach seiner Einschätzung nehmen das Sicherheitsdenken und die Mutlosigkeit in der Gesellschaft zu, das beginne schon in der Erziehung: „Heute sind viele Eltern überängstlich, vor allem in den Ein-Kind-Familien. Da darf nichts passieren, die Eltern trauen ihrem Kind wenig zu, es darf weder allein zur Schule gehen noch auf einen Baum klettern.“ Viele Kinder seien von sich aus mutig, suchten das Abenteuer und sprächen offen, aber sie würden von den Erwachsenen ausgebremst. Dabei brauche es gerade in unsicheren Zeiten mutige Menschen, die gegen den Strom schwimmen: „Ein Martin Luther bleibt trotz aller Kritik an seiner Person auch deshalb in guter Erinnerung, weil er in einer angstbesetzten Zeit großen Mut und Durchhaltevermögen bewies.“

Tapfere Vorbilder inspirieren

Vorbilder sind wichtig. Häufig wird einer Person jedoch nur bescheinigt, mutig gewesen zu sein, wenn alles gutgegangen ist. Cynthia Pury etwa weiß von einem Mann, der ein älteres Paar aus einem brennenden Haus rettete. Wenig später starben beide an ihren Verletzungen. Die mediale Resonanz war gering, der Mann fühlte sich schlecht. Tapferkeit kann sich also auch negativ auf das Selbstbewusstsein auswirken, wenn das Ziel der Handlung verfehlt wird. „Es wäre besser, man würde auch auf Leute aufmerksam machen, die mutig sind, aber scheitern“, sagt Pury. So sollten Eltern mit ihren Kindern auch über Courage reden, wenn sie selbst sie nicht zeigen, und erklären, was ihnen in einer Situation Angst eingeflößt hat und warum sie ihr Nichteingreifen bereuen.

Die positive Wirkung von tapferen Vorbildern hat Sharon Kendall von der La Trobe University in Melbourne 2006 in einer Studie mit Krankenschwestern und Krebspatienten untersucht. Die Schwestern bezeichneten jene Patienten als mutig, die die Krankheit akzeptierten, trotz Schmerzen höflich blieben, Mitpatienten unterstützten und aktiv bei der Therapie mitmachten, anstatt sich aufzugeben. Sie gaben an, dass dieses Verhalten auf ihr eigenes Leben ausstrahlte: Sie hätten gelernt, in einer schwierigen Zeit stark zu bleiben und eine positive Einstellung zum Leben zu bewahren.

Auch Brandbekämpferin Mary Lowry hatte Vorbilder. Die Weitsicht und Kompetenz ihrer Kollegen halfen ihr, mutig, aber nicht übermütig zu werden: „Wir vertrauten uns das Leben an. Dabei mussten wir versiert arbeiten. Der Teamleiter musste zum Beispiel dazu in der Lage sein, einen Rückzug so früh anzuordnen, dass niemand eingeschlossen wurde, aber auch nicht zu früh, sonst hätte sich das Feuer unnötig ausgebreitet.“ Die Arbeit bei den Hotshots hat Lowry für das Leben gestärkt, sagt sie. Sie ist gewachsen – an ihrem eigenen Mut und an dem anderer.

Mut - auch eine Altersfrage?

Forscher der Yale-Universität haben herausgefunden, dass risikoscheue Menschen ein geringeres Volumen einer grauen Substanz im Parietallappen des Gehirns aufweisen als risikofreudige. Diese Substanz nimmt mit dem Alter ab. Die Wissenschaftler sehen darin einen Grund, warum Ältere weniger Mut zeigen. Sie sind demnach nicht weiser, sondern haben begrenzte neuronale „Rechenkapazitäten“, um die Risiken einer Entscheidung abzuwägen. Daher neigtenn sie auch dazu, überflüssige Versicherungen abzuschließen.

Andere Forscher gehen davon aus, dass Ältere im Gegenteil risikobereit sind. Sie verspürten weniger negative Affekte, sie seien tendenziell zufriedener und hätten weniger Angst vor den Folgen ihrer Entscheidungen. Forscher der Claremont Graduate University in Kalifornien fanden 2013 in einer Studie indes gar keine altersbedingten Unterschiede in der Tendenz zu riskanten Entscheidungen.

Selbstvertrauen und Selbstsicherheit spielen eine große Rolle

Wenn es um Mut im Alltag geht, fällt häufig der Begriff Zivilcourage. Veronika Brandstätter-Morawietz von der Universität Zürich erklärt, warum wir uns damit manchmal so schwertun

Frau Professor Brandstätter-Morawietz: Was genau ist Zivilcourage?

Ein mutiges Handeln, das sich an humanen Grundprinzipien und Werten orientiert. Das ist wichtig, weil zum Beispiel auch rechtsextreme Positionen oft als mutig verkauft werden. Aber Zivilcourage bedeutet nicht einfach, gegen den Strom zu schwimmen. Es geht immer auch um Benevolenz und Universalismus. Das bedeutet, dass jemand am Wohlergehen anderer Menschen interessiert ist und es fördern will. Auch Werte wie Toleranz, Fairness, Respekt und Solidarität mit Schwächeren spielen eine Rolle.

Wenn jemand in der Öffentlichkeit angegriffen wird, schauen viele weg. Oft scheinen sogar weniger Menschen einzugreifen, je mehr Zuschauer anwesend sind. Warum?

Bei diesem Phänomen spricht man vom Bystander-Effekt. Die Gründe liegen unter anderem in der pluralistischen Ignoranz: Die Situationen sind oft uneindeutig. In einer Straßenbahn hören Sie zum Beispiel laute Stimmen, können aber nicht erkennen, ob das ein Streit eines Pärchens ist oder ein sexueller Übergriff. Wenn Sie unsicher sind, orientieren Sie sich an anderen. Falls diese ebenfalls unsicher sind, signalisiert ihr ratloser Gesichtsausdruck, dass da womöglich nichts ist, und Sie denken, Sie müssen nicht eingreifen.

Außerdem entsteht eine Verantwortungsdiffusion. Die Menschen halten sich zurück, weil sie glauben, andere könnten kompetenter reagieren. Nicht zuletzt haben wir gelernt, dass wir uns in Privatangelegenheiten anderer nicht einzumischen haben. Allerdings kommt der Bystander-Effekt weniger zum Tragen, wenn es sich um gravierende Notfälle handelt und die Hilflosigkeit offensichtlich ist.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Persönlichkeit eines Menschen und seiner Bereitschaft, Zivilcourage zu zeigen?

Selbstvertrauen und Selbstsicherheit spielen eine große Rolle, ebenso emotionale Stabilität und Stressresistenz. Wir alle geraten bei Übergriffen in Stress. Wie gut wir unsere Gefühle dann kontrollieren können, hängt zum Teil von der Persönlichkeit ab, zum Teil lässt es sich lernen. Auch die Empathie spielt eine Rolle: Wer sich in andere einfühlen kann, ist eher geneigt, ihnen zur Seite zu stehen.

Kann man also lernen, mehr Zivilcourage zu zeigen?

Absolut. Wir haben ein Training entwickelt, mit dem Sie sich vorbereiten können. Natürlich weiß man nie, wie sich eine Situation im Alltag entwickelt, aber es gibt bestimmte Prototypen, die Übergriffe charakterisieren, und für diese vermitteln wir Handlungskompetenzen und Verhaltensroutinen.

Die Teilnehmer lernen durch Rollenspiele und sogenannte mentale Simulationen verschiedene Situationen kennen, die mutiges Eingreifen erfordern, und erfahren, wie sich der Übergriff Schritt für Schritt entfalten kann. Und sie lernen auch, sich nicht ausschließlich auf Intuition zu verlassen. In der Wut oder Aufregung duzen manche Leute zum Beispiel den Täter, schreien ihn an oder berühren ihn. Das ist nachvollziehbar, aber auch gewaltfördernd. Es ist besser, sich realistische Ziele zu setzen, sei es, die Polizei zu rufen, andere Anwesende anzusprechen oder ruhig und bestimmt aufzutreten, um dem Opfer konkrete Hilfe anzubieten.

Veronika Brandstätter-Morawietz leitet den Lehrstuhl für allgemeine Psychologie (Motivation) am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Die Professorin forscht unter anderem zu der Frage, welche Persönlichkeitsmerkmale Zivilcourage fördern.

Veröffentlichung: Kai J. Jonas, Margarete Boos, Veronika Brandstätter: Zivilcourage trainieren! Theorie und Praxis. Hogrefe, Göttingen 2007

Literatur

Christopher J. Keller: Courage, psychological well-being, and somatic symptoms. Clinical Psychology Dissertations, 17, 2016.

Sharon Kendall: Admiring courage: Nurses’ perceptions of caring for patients with cancer. European Journal of Oncology Nursing,10, 2006, 324–334. DOI: 10.1016/j.ejon.2006.01.005

Herbert Gardiner Lord: The psychology of courage. John W. Luce, Boston 1918

Mary Pauline Lowry: Wildfire. Skyhorese, New York 2014

Uri Nili u. a.: Fear thou not: Activity of frontal and temporal circuits in moments of real-life courage. Neuron, 66/ 6, 2010, 949–962. DOI: 10.1016/j.neuron.2010.06.009

Rotraud A. Perner: Mut: Das ultimative Lebensgefühl. Amalthea Signum, Wien 2016

Christopher Peterson, Martin E.P. Seligman: Character Strengths and Virtues: A Handbook and Classification. Oxford University Press, Oxford 2004

Stanley Rachman: Fear and Courage. W. H. Freeman, San Francisco 1978

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2017: Beziehungsfähig!
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