Frau Dr. Baumert, gab es eine Situation, in der Sie couragiert eingeschritten sind?
Ja, als ich am Bahnhof mitbekam, wie ein Mann zwei Mädchen mit rassistischen Bemerkungen beleidigte. Ich war aufgebracht und habe recht laut reagiert. Dabei vergaß ich jedoch, Umstehende mit einzubeziehen, ihnen zu erklären, was ich eben gehört hatte und warum mich das empört. Aus heutiger Sicht weiß ich, dass ich da einiges falsch gemacht habe, abgesehen von der richtigen Entscheidung, mich einzumischen.
Wie sollte man sich…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
falsch gemacht habe, abgesehen von der richtigen Entscheidung, mich einzumischen.
Wie sollte man sich in so einem Fall besser verhalten?
Es ist oft klüger, eine direkte Konfrontation mit dem Täter zu vermeiden und sich stattdessen an das oder die Opfer zu wenden, in diesem Fall an die beiden Mädchen. Ich hätte sie etwas fragen können, ganz banal, ob sie wissen, wann der nächste Zug fährt oder wo der Kiosk ist – also ein Gespräch beginnen, das mit der Attacke nichts zu tun hat. Eine weitere Möglichkeit wäre gewesen, die Umstehenden anzusprechen, kurz zu erklären, was vorgefallen ist. Viele Menschen sind in solchen Situationen zu gehemmt, um einzugreifen, weil sie unsicher sind, nicht wissen, wie man jetzt am besten reagiert. Wenn man andere gezielt einbezieht und um Hilfe und Unterstützung bittet, kann die Hemmschwelle überwunden werden.
Es scheint auch ein wichtiger Aspekt von Untätigkeit zu sein, dass nicht jeder alles sofort mitbekommt.
Genau. Manch eskalierende Situation wird zunächst nur unvollständig wahrgenommen, besonders von denen, die erst später hinzukommen. Da ist vieles unklar, und es tun sich Fragen auf: Was passiert da gerade? Kennen sich die Streitenden eventuell? Ist das hier eine echte Notsituation? Diese Unsicherheit in der Interpretation des Vorfalls bildet eine starke Hürde, etwas gegen die Normverletzungen zu unternehmen. Deshalb schauen viele weg oder ziehen sich zurück.
Es gibt Studien aus Nordamerika, in denen Reaktionen von Zeugen auf eindeutige rassistische Äußerungen untersucht wurden. Erstaunlicherweise zeigten hierbei viele Personen, die einen vorgespielten Fall beobachtet hatten, keine Anzeichen von Empörung, Wut oder Zorn. Im Anschluss an die Untersuchungen hatten die Teilnehmer die Wahl, ob sie mit dem Opfer oder mit dem Täter zusammen an einer Aufgabe arbeiten wollten. Erstaunlicherweise wählten die Zeugen sowohl Täter als auch Opfer gleichermaßen dafür aus. Es schien also nicht, als ob alle den Täter meiden wollten.
Wie kann das sein?
Eine mögliche Erklärung wäre, dass die befragten Zeugen selbst rassistisch eingestellt waren. Wahrscheinlich ist die Erklärung jedoch komplexer, denn es gibt Inaktivität nicht nur als Reaktion auf rassistische Übergriffe, sondern bei ganz unterschiedlichen Arten von Normverletzungen, wie etwa Diebstahl oder Vandalismus. Ich vermute, dass erste Reaktionen in solchen Situationen von einer Überraschung herrühren und Zeugen an ihrer Wahrnehmung zweifeln, ob sie alles richtig gehört und verstanden haben. Diese Studien aus Nordamerika zeigen, dass Zeugen zwar innehalten, doch in erster Linie, um sich zu orientieren, um für sich einzuordnen, was gerade passiert. Danach folgt ein Abwägen, ein gedankliches Durchspielen, ob eine Annäherung angemessen ist oder doch die Flucht die bessere Option ist.
Dann sinkt die Chance, dass jemand aktiv wird?
Ja. Deshalb ist es ratsam, Anwesende zu ihrer Wahrnehmung zu befragen, ob jemand die Beschimpfung gerade gehört oder den Übergriff gesehen hat. Wichtig wäre, gleich nachzuhaken, wie andere die Situation einschätzen. Denn häufig ist es so: Je mehr Personen anwesend sind, desto unüberschaubarer wird alles.
Ist es leichter zu helfen, wenn mehrere Menschen anwesend sind?
Nicht unbedingt. In der Menge gibt der Einzelne oft Verantwortung ab: Ich bin eine Frau, noch dazu zierlich, soll doch der kräftige Mann da vorn helfen! Oder: Die Frau in der roten Jacke ist viel näher dran als ich, die hat bestimmt schon Hilfe geholt. Hier müssen wir uns klarmachen: Wenn ich nicht eingreife – wer dann? Das nächste Hemmnis: Die meisten Menschen finden es unangenehm, Blicke auf sich zu ziehen. Wer handelt, steht aber plötzlich im Mittelpunkt, ein ungewohntes Gefühl für viele. Jemand, der eingreift, kann sich auch nicht darauf verlassen, dass die Umstehenden das gut finden. Einerseits führt der Handelnde den Umstehenden ja vor Augen, dass sie sich nicht richtig verhalten. Andererseits besteht aber tatsächlich die Gefahr, dass man die Situation falsch einschätzt und ein Eingreifen nicht angebracht wäre. Diese Möglichkeit wird von Menschen als äußerst unangenehm und peinlich angesehen.
Man muss sich vor Augen führen, dass ein Eingreifen immer auch gegen gesellschaftliche Normen und Konventionen verstößt. Im Normalfall erwarten wir, dass man sich gegenseitig in Ruhe lässt und sich um seine eigenen Dinge kümmert.
Warum ist es oftmals besser, sich auf das Opfer zu konzentrieren und nicht auf den Täter?
Die direkte Konfrontation mit dem Täter birgt die Gefahr einer Eskalation, denn wenn dieser von den Umstehenden angegangen wird, macht ihn das vielleicht noch aggressiver. Helfende können dann selbst Opfer von Beschimpfungen oder physischen Attacken werden. Es gibt leider Beispiele, wo mutige Menschen verletzt oder sogar zu Tode geprügelt wurden. Aus diesem Grund ist es wichtig, sich Hilfe zu holen – also andere Zeugen einzubeziehen. Außerdem: Wer dem Opfer beisteht, überrascht mit dieser Handlung den Täter. In solch einem Moment gewinnt man auch Zeit, um andere um Beistand zu bitten oder den Notruf zu wählen.
Ist die Schwelle, helfen zu wollen, für jeden von uns unterschiedlich hoch?
Wir vermuten, dass es eine Rolle spielt, wie wichtig jemandem moralische Prinzipien sind, auf erlebte Ungerechtigkeit und Überschreitungen zu reagieren. Abgesehen von diesen moralischen Dispositionen, wie wir sie nennen, könnte aber auch ausschlaggebend sein, wie sehr jemand davon überzeugt ist, kompetent mit neuen Situationen umgehen zu können, wie ängstlich jemand ist oder wie stark er seinen Impulsen folgt. Leider ist der Forschungsstand dadurch eingeschränkt, dass viele Studien schriftliche Beschreibungen von hypothetischen Situationen benutzt haben.
Bedeutet dies, dass viele Menschen ihre Handlungsbereitschaft nicht gut einschätzen?
In gewissem Maße schon. Bei einer Studie haben wir einer Gruppe von Versuchspersonen eine Situation beschrieben, in der sie selbst beobachten, wie eine Studienteilnehmerin ein herumliegendes Handy einsteckt, obwohl es ihr offensichtlich nicht gehört. Wir haben unsere Versuchspersonen gefragt, ob sie die Diebin ansprechen würden. Eine andere Gruppe von Versuchspersonen luden wir zu einer Studie ein, bei der eine Schauspielerin sich als Teilnehmerin ausgab und ein fremdes Handy in ihre Tasche steckte. Hierbei beobachteten wir, wie unsere Versuchspersonen reagierten. In der Befragung hatten alle gesagt, dass sie etwas gegen einen Diebstahl unternehmen würden. Doch in der gestellten Situation schritt nur ein Drittel der Probanden ein und stellte die Frau zur Rede.
Es könnte also sein, dass wir selbst nicht genau wissen, wie wir uns in kritischen Momenten tatsächlich verhalten?
Das hängt damit zusammen, dass wir kaum Erfahrung mit derartigen Situationen haben. Zum Glück natürlich. Deshalb wissen wir auch nicht, wie wir uns verhalten, wie wir reagieren würden. Ich glaube, dass wir einen wichtigen Aspekt unterschätzen, nämlich den der Überraschung. Wenn wir mit Unrecht konfrontiert sind, fragen wir uns ungläubig, ob es wirklich wahr ist, was wir da gerade erleben, und suchen nach Erklärungen. Zum Beispiel so: Sicherlich hat die Frau gute Gründe dafür, dass sie das Handy einsteckt, möglicherweise kennt sie ja den Besitzer. Die meisten Menschen gehen davon aus, dass es in der Welt gerecht zugeht, und suchen von daher nach Rechtfertigungen für das Verhalten anderer. Aber man muss auch sagen, dass damit vermieden wird, sich mit dem Vorfall auseinanderzusetzen.
Es gibt viele Filme auf YouTube, die Menschen zeigen, wie sie Zivilcourage an den Tag legen. Was halten Sie davon?
Den Erkenntnisgewinn durch diese Filme, die oft mit versteckter Kamera gedreht werden, halte ich für gering. Außerdem ist das Vorgehen ethisch fraglich. Meist wissen die Teilnehmer weder, dass sie gefilmt werden, noch haben sie ihr Einverständnis abgegeben, dass das Material später verwendet werden darf. Es ist wichtig, dass man die Leute zumindest hinterher aufklärt. Und zwar nicht nur die Betroffenen, sondern auch diejenigen, die vorbeigehen. Viele bekommen gar nicht mit, dass eine Situation vorgetäuscht wurde.
Wenn ich weiß, dass ich recht ängstlich bin, und dennoch helfen will, wie kann ich das ändern?
Man kann üben, sich couragiert zu verhalten, indem man sich gedanklich damit beschäftigt, wie man schwierige Situationen ohne Eskalation entschärft. Dazu gibt es Trainingsangebote, in denen es unter anderem darum geht, sich selbst und andere wahrzunehmen, die eigenen Stärken kennenlernen, Zusammenhänge von Eskalationsprozessen zu erkennen und den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern. Es wird geübt, unter Stress die Polizei anzurufen und sämtliche relevante Informationen in kurzen Sätzen durchzugeben. Man übt auch, Umstehende mittels konkreter Ansprachen einzubeziehen. Außerdem werden paradoxe Interventionen durchgespielt, Handlungen, die den Täter ablenken und verwirren, um in diesem Moment den Angegriffenen aus der Situation zu holen. Zum Beispiel indem man so tut, als kenne man das Opfer, hätte es lange nicht gesehen und wolle es in ein Café einladen.
Gibt es Situationen, in denen man besser nicht eingreifen sollte?
Man sollte sich selbst nicht in Gefahr bringen, das ist der wichtigste Aspekt. Es gibt aber auch Situationen, in denen es wirklich schwierig ist, eine Entscheidung zu fällen. Damit meine ich Beobachtungen von sogenannten kleineren Normabweichungen: Wenn jemand zum Beispiel Müll auf den Boden wirft, raucht, wo es nicht erlaubt ist, oder Ähnliches. Wünschen wir uns, dass jede Normabweichung von Unbeteiligten sanktioniert wird? Dem entgegen stehen Werte wie Toleranz und Achtung der Privatsphäre. In alltäglichen Situationen sind solche Abwägungen nicht ganz einfach.
Hilft in gefährlichen Momenten der Gedanke, dass man selbst auch einmal in Gefahr kommen kann und auf den Mut Fremder angewiesen ist?
Einige Personen, die sich durch zivilcouragiertes Verhalten ausgezeichnet haben, sagen genau das. Menschen helfen, weil sie eine Situation als extrem unrecht empfinden oder weil sie Mitleid mit dem Opfer haben. Ein weiteres Motiv ist Selbstkonsistenz: Ich will meinen eigenen Werten und Überzeugungen treu bleiben, deshalb muss ich mich einmischen. Zivilcourage hat etwas mit Mut zu tun. Den hat man aber auch, wenn man die Polizei holt oder als Zeuge auftritt.
Trainingsprogramme für Zivilcourage:
Das Medienpaket der Polizei liegt in jeder Polizeidienststelle aus: tinyurl.com/PH-Zivilcourage
Ein fundiertes Training hat auch die Universität Göttingen entwickelt: tinyurl.com/PH-GZI-Training
Dr. Anna Baumert ist Professorin für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Technischen Universität München. Außerdem leitet sie eine Forschungsgruppe zu Zivilcourage am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn