Herr Professor Ehring, worin unterscheiden sich Grübeln und Sorgenmachen?
Der Unterschied betrifft vor allem den Inhalt, über den ich nachdenke. Beim Grübeln geht es um aktuelle oder vergangene Themen. Sorgen kreisen in der Regel um zukünftige Bedrohungen oder Schwierigkeiten.
Ob ich mir nun über Bevorstehendes oder über Vergangenes den Kopf zerbreche – läuft das nicht in der Praxis auf das Gleiche hinaus?
Traditionell hat man in der klinischen Psychologie Sichsorgen und Grübeln als getrennte Phänomene…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
hinaus?
Traditionell hat man in der klinischen Psychologie Sichsorgen und Grübeln als getrennte Phänomene behandelt. Man vermutete, dass Grübeln stärker mit einem Depressionsrisiko verbunden ist und Sorgen mehr mit Angststörungen. Mittlerweile wird beides aber eher als ein einheitliches Phänomen aufgefasst, denn die Gemeinsamkeiten sind deutlich zahlreicher als die Unterschiede.
Ist der gemeinsame Nenner, dass man erinnerte oder erwartete Szenen – etwa eine Demütigung oder ein schwieriges Gespräch – im Geiste wieder und wieder durchspielt?
Das „Szenische“, das Sie da schildern, ist häufig nur der Auslöser. Also etwa: Ich stelle mir beunruhigt vor, was mich da morgen wohl erwartet. Interessanterweise bestehen die Grübeleien selbst, die durch solche Vorstellungsbilder angestoßen werden, dann aber meist weniger aus Szenen, sondern es sind eher abstrakte Gedanken.
Zum Beispiel: Wenn dieses oder jenes passieren würde, das wäre ganz schlimm, ich wüsste dann gar nicht, was ich machen sollte. Oder: Verdammt, warum werde ich nie glücklich mit anderen Menschen? Diese sich monoton wiederholenden abstrakten Gedanken sind häufig abgehoben von der konkreten Situation, sie führen daher auch zu keiner Lösung. Wir vermuten sogar, dass sie der Vermeidung dienen, denn sie lenken davon ab, sich die emotional belastende Situation tatsächlich konkret vorzustellen.
Bedeutet das im Umkehrschluss, dass es sogar hilfreich sein kann, wenn ich mir so konkret wie möglich zum Beispiel die Prüfungssituation vorstelle, vor der ich solche Angst habe?
Kurzfristig sind Sie dann wahrscheinlich stärker belastet. Aber Sie haben eben auch die Chance, sich Strategien zu überlegen, wie Sie damit umgehen können. Deswegen kann es bei Personen, die auf einer abstrakten, vermeidenden Ebene sehr viel grübeln, tatsächlich ein wichtiger Teil der Therapie sein, dass sie sich die belastenden Situationen detailliert vor Augen führen und sich damit auseinandersetzen.
Im Prinzip ist Gedankenmachen also sogar sinnvoll?
Tatsächlich haben Grübeln und Sorgen eine wichtige Funktion. Ein Beispiel, das mich selbst betrifft: Wenn ich einen Vortrag halten muss, bin ich meistens sehr spät dran mit den Vorbereitungen. Es hilft mir dann, dass mir Sorgengedanken in den Kopf schießen, die mir signalisieren: Bereite dich jetzt besser mal vor!
Oder wenn ich einen Streit mit jemandem hatte, dann hilft mir das unwillkürliche Nachgrübeln, mich mit der Situation noch einmal auseinanderzusetzen und vielleicht das Gespräch zu suchen. Zu einem Problem wird dieses Nachdenken erst dann, wenn es sich verselbständigt, ohne dass es uns einer Lösung näherbringt.
Wenn die Evolution uns mit diesem hilfreichen Grübelmechanismus ausgestattet hat, warum hat sie dann nicht gleich eine Abschaltvorrichtung mitgeliefert, wenn er leerläuft?
Die Evolution hatte ja nicht zum Ziel, uns zu besonders glücklichen Menschen zu machen, sondern evolutionäre Entwicklung zielte vor allem aufs Überleben. Und zu diesem Zweck ist es eben besser, einmal zu viel über eine Gefahr nachzudenken als einmal zu wenig.
Wie lange sind exzessive Grübeleien harmlos und ab wann wird es kritisch?
Heikel wird es, wenn das Grübeln zur Gewohnheit wird. Der Klassiker ist: abends im Bett. Wenn man vor dem Einschlafen häufig grübelt, dann stellt das Gehirn mit der Zeit eine assoziative Verknüpfung her: Dann genügt schon allein die Situation – ich liege im Bett –, und die Gedankenschleife geht los, auch wenn es gar keinen Anlass zum Grübeln gibt.
Was sind typische Grübelthemen?
Wenn man die Neigung hat, viel zu grübeln, dann gibt es eigentlich nichts, über das man nicht grübeln kann. Häufige Themen sind verstörende Erlebnisse mit anderen Menschen, frustrierte Wünsche in Beziehungen. Typisch sind auch Leistungssituationen, antizipierte Gefahren – was könnte alles schiefgehen?
Welche Eigenschaften haben grübelanfällige Menschen?
Tatsächlich gibt es eine individuelle Neigung zu einem exzessiven Grübeln. Diese Neigung ist etwas stärker bei denjenigen Personen, die im Alltag ohnehin rasch alarmiert reagieren. Es gibt eine genetische Komponente. Aber auch frühere Erfahrungen, die zum Teil bis in die Kindheit zurückreichen, können dazu beitragen, dass man Grübeln als Bewältigungsstil entwickelt – etwa wenn man häufig Situationen erleben musste, in denen man hilflos war und nichts tun konnte, außer sich gedanklich mit dem Problem zu beschäftigen.
Frauen neigen stärker zum Grübeln als Männer – ist das richtig?
Das stimmt tatsächlich: Im Durchschnitt grübeln Frauen etwas mehr als Männer. Das könnte unter anderem daran liegen, dass die Rollenidentität von Frauen vorsieht, sich um andere zu kümmern, sich auf Emotionen zu fokussieren und sich Dinge zu Herzen zu nehmen.
Susan Nolen-Hoeksema, eine Pionierin der Forschung zum Grübeln, stellte fest, dass Mädchen bis zur Pubertät nicht häufiger depressiv sind als Jungen – erst dann steigt ihr Risiko. Sie führte das darauf zurück, dass Mädchen in diesem Alter die gesellschaftlichen Erwartungen an ihre Geschlechtsrolle verinnerlichen, und eine Folge könnte das Grübeln sein.
Verstärkt sich die Grübelneigung mit dem Alter?
Es gibt dazu nur wenige aussagekräftige Studien. Die allerdings deuten darauf hin, dass diese Neigung mit dem Alter eher abnimmt und dass Menschen im höheren Lebensalter weniger grübeln.
Was sind die Folgen, wenn ein Mensch nicht vom Grübeln lassen kann?
Exzessives Grübeln erhöht vor allem das Risiko für Depressionen, aber auch für Angst-, Schlaf-, Ess- und viele andere psychische Störungen und auch körperliche Beschwerden. Auch die Beziehung kann es belasten, wenn jemand immerzu mit den Dingen hadert. Wir betrachten Grübeln als einen Marker, um schon im Vorfeld einer psychischen Störung präventive Hilfen anbieten zu können.
Zum Beispiel?
Glücklicherweise hat sich beim Grübeln eine ganze Reihe von Strategien als wirksam erwiesen. Wichtig ist zunächst, sich im Alltag zu beobachten und sich bewusstzuwerden, wann man ins Grübeln gerät. Dann kann man Frühwarnsignale identifizieren.
Zweitens, wie schon erwähnt: den Stil des Nachdenkens verändern, also konkret werden – das trainieren wir.
Drittens: die Gewohnheit des Grübelns aufbrechen, zum Beispiel aufstehen und Sport machen oder die belastenden Gedanken aufschreiben und dann weglegen. Vieles hilft, es ist allerdings wichtig, dass man dies konsequent und systematisch vollzieht, denn solche Gewohnheiten wie das Grübeln verändern sich nun mal nicht von einem Tag auf den anderen.
Lesen Sie außerdem aus derselben Ausgabe: Therapeutin Thea Rytz erklärt, wie Sie das Grübeln mit geübter Körperwahrnehmung überwinden können in Von hier aus kann ich meine Sorgen kaum noch sehen
Thomas Ehring ist Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Mit Tobias Teismann schrieb er das Fachbuch Pathologisches Grübeln (Hogrefe 2019).