„Mein Verstand ist ein Ozean aus Bildern“

Visuelles Denken: Temple Grandin denkt in Bildern, nicht in Worten. Die Universitätsprofessorin im Gespräch über ihre Erfahrungen und Denkstile

Die Illustration zeigt eine Person mit Haaren, die aus vielen Kühen besteht und einem orangem Cowboyhut
"Denken Sie an eine Kuh!" Die meisten Menschen haben dann ein grobes Bild, andere eine sehr detaillierte Vorstellung vor sich. © Elise Vandeplancke für Psychologie Heute

Die Kamera zoomt nah an das Gesicht der jungen Frau heran. Sie blickt direkt hinein. „Mein Name ist Temple Grandin“, sagt sie. „Ich bin nicht wie andere Menschen. Ich denke in Bildern, und ich verbinde sie.“ Die Kameraeinstellung ändert sich. Grandin, dargestellt von der Schauspielerin Claire Danes, läuft von einer Ecke des Raums in die nächste. Dabei scheint ihre Gestalt immer größer zu werden. Die Eröffnungsszene der Filmbiografie Temple Grandin – Du gehst nicht allein von 2010 verbildlicht das, wofür…

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Eröffnungsszene der Filmbiografie Temple Grandin – Du gehst nicht allein von 2010 verbildlicht das, wofür sich die Amerikanerin seit Jahrzehnten einsetzt: einen Perspektivenwechsel.

Heute ist die junge Frau aus dem Film 76 Jahre alt. Es ist später Abend in ihrer Heimat Colorado, als sich Temple Grandin am Telefon meldet. Ihr Terminkalender ist voll, ein Zoom-Meeting hat sich an diesem Tag an das nächste gereiht. Als Tierwissenschaftlerin berät Grandin die Fleischindustrie und setzt sich für einen gerechteren Umgang mit Nutztieren ein.

Darüber hinaus gilt sie als eine der einflussreichsten Fürsprecherinnen für Menschen mit Autismus, zu denen sie sich auch zählt. In TED Talks, auf Konferenzen und in ihren Büchern teilt sie ihre persönlichen Erfahrungen. Etwa wie sie als Kind erst sehr spät und mit Unterstützung sprechen lernte. Für sie sei es wie eine Fremdsprache gewesen, schreibt Grandin. „Mein Verstand ist kein Floß auf einem Meer aus Worten. Er ist ein Ozean aus Bildern.“

An diesem Abend spricht Grandin am Telefon über ihr neues Buch Visual Thinking. Darin stellt sie die These auf, dass nicht nur Menschen mit Autismus visuell statt sprachlich denken. Grandin geht davon aus, dass diese beiden Wahrnehmungstypen auch in der Allgemeinbevölkerung vertreten sind, nämlich auf einem Kontinuum: Am einen Extrem finden sich stark visuelle Personen wie sie, an dem anderen Pol ausgesprochen sprachlich denkende Menschen wie ihre Co-Autorin Betsy Lerner. Und der Rest der Bevölkerung? Der liegt irgendwo dazwischen, behauptet Grandin.

Frau Grandin, wann haben Sie bemerkt, dass Ihre Gedankenwelt anders aussieht als die anderer Menschen?

Erst sehr spät – ich war Ende zwanzig. Damals sprach ich auf einer Autismuskonferenz mit einer Logopädin, also jemand aus einer Disziplin, in der es sehr verbal zugeht. Im Gespräch mit ihr fiel mir auf, dass sie ganz anders dachte als ich. Ein Beispiel: Wenn Sie mich dazu auffordern, an einen Kirchturm zu denken, sehe ich ihn sehr detailgetreu vor mir. Als ich die Sprachtherapeutin bat, das Gleiche zu tun, sah sie dagegen nicht mehr als zwei schwache Linien vor ihrem inne­ren Auge. Das war ein Schock für mich. In ihrer Gedankenwelt gab es fast keine Bildsprache. Da erkannte ich zum ersten Mal, dass es Menschen gibt, die nicht in Bildern denken.

Was haben Sie mit dieser Erkenntnis gemacht?

Ich habe angefangen, Menschen zu befragen. Ich wollte herausfinden, wie genau sie denken. Dabei habe ich Folgendes festgestellt: Wenn man jemanden nach seinem eigenen Hund fragt, kann er oder sie sich diesen in der Regel gut vorstellen. Schließlich ist er der Person sehr vertraut. Aber wenn man jemanden – so wie ich damals die Logopädin – nach einem beliebigen Gebäude fragt, dann haben viele Menschen ein eher vages Bild vor Augen. Auf diese Weise habe ich die verschiedenen Arten des Denkens erkundet. Später habe ich Studien gefunden, die belegen, dass es diese Denktypen tatsächlich gibt. Oh, ich war so glücklich, als ich diese Forschungsarbeiten fand!

Zwischen welchen Denktypen unterscheiden Sie?

Manche wissenschaftlichen Studien zeigen, dass es drei Arten des Denkens gibt. Beginnen wir mit dem visuellen Typ [object visualizer]. Das sind Menschen wie ich. Wir denken in fotorealistischen Bildern. Visuelle Personen sind in der Regel gut in Dingen wie Kunst oder Fotografie, bei der Arbeit mit mechanischen Geräten oder auch im Umgang mit Tieren.

Der zweite Typ sind räumlich Denkende [spatial visualizer], eine Untergruppe des visuellen Denktyps. Diese Personen denken nicht in Bildern, sondern in Mustern oder Abstraktionen. Dementsprechend sind sie oft gut in Musik und in Mathematik.

Dann gibt es noch den dritten Typ: die sprachlich, also verbal Denkenden [verbalizer]. Dieser Gruppe liegt das Schreiben und Reden, Wortkram eben. Für mein Buch habe ich mit meiner Co-Autorin Betsy Lerner zusammengearbeitet. Sie ist ein sehr verbaler Mensch. Unsere Denkweisen sind also komplett unterschiedlich: Sie denkt sehr linear, während ich eher assoziativ denke. Gerade wegen unserer unterschiedlichen Sicht auf das Projekt waren wir ein gutes Team. Ich habe ihr grobe Entwürfe geschickt, sie hat sie umstrukturiert. Unsere Fähigkeiten haben sich ergänzt.

Sie sagen, dass Sie in Bildern denken. Können Sie uns in einen Ihrer Gedankengänge mitnehmen?

Es ist, als würde man bei Google nach Bildern suchen. In dem TV-Film über mein Leben gibt es eine Szene, in der das Wort Schuh“ gesagt wird. Daraufhin erscheint eine ganze Reihe von Schuhbildern. Das ist meine Art zu denken. Visuelles Denken ist zugleich auch assoziatives Denken: Wenn ich an einen bestimmten Schuh denke, denke ich kurz darauf an Orte, an denen ich ihn getragen habe. Ich liebe den Film – er zeigt sehr eindrücklich, wie visuelles Denken funktioniert.

Wie haben Sie gelernt, nicht nur in visuellen Bildern, sondern auch in Sprachbildern, in Begriffen zu denken?

Wenn ich lese, setze ich die Wörter in Bilder um. Es ist, als würde ich einen Film sehen. Natürlich gibt es auch Wörter, die ich mir nicht vorstellen kann. Wie man sie richtig verwendet, habe ich gelernt, indem ich Gesprächen zugehört habe. Ein Beispiel: Der Himmel ist blau“ ist richtig. Der Himmel sind blau“ ist falsch. Die Wörter sind“ und ist“ haben für mich keine Bedeutung. Ich muss sie auswendig lernen, um sie richtig zu verwenden. Wörter wie Himmel“ und blau“ haben dagegen eine Bedeutung für mich: Ich kann sie mir vorstellen.

Der Film porträtiert Sie von Ihrer Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter. Er zeigt auch, dass Sie erst im Alter von dreieinhalb Jahren sprechen gelernt haben und wie schwer es Ihnen fiel, sich verbal auszudrücken. Inzwischen halten Sie TED Talks, lehren an Universitäten und schreiben Bücher. Was hat Ihnen geholfen?

Ich hatte ausgezeichnete Lehrer, die meine Hausaufgaben bewertet haben. Sie strichen meine Grammatikfehler an, so wie es eine gute Buchlektorin tut. Ich habe zum Beispiel häufig verschachtelte Sätze gebildet und überflüssige Verbindungswörter benutzt. Meine Lehrer ließen mich diese Fehler selbst korrigieren. Das war hilfreich. Wissen Sie, Mentoren sind sehr, sehr wichtig. Besonders geprägt hat mich mein wunderbarer Lehrer für Naturwissenschaften. Er hat mich zum Lernen motiviert, indem er mir interessante Projekte gab.

Können Sie sich an ein Beispiel erinnern?

Einmal ließ er mich einen Ames-Raum im Kleinformat bauen. Der Ames-Raum erzeugt die Illusion, dass uns manche Objekte darin riesig, andere winzig erscheinen – dabei sind sie genau gleich groß. Zu diesem Zeitpunkt wusste noch niemand, dass ich ein visueller Denktyp bin. Aber mein Lehrer hatte ein Gespür dafür, wie er mich auf Trab halten konnte, obwohl mich die meisten Schularbeiten nicht sonderlich interessierten. Genau darum geht es: Wir müssen das Interesse junger Menschen wecken und ihnen die Möglichkeit geben, die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln. Ohne Vorbehalte.

In Ihrem Buch warnen Sie davor, wie einschränkend Labels wie Autismus sein können.

Eines der Probleme ist, dass man für alle Menschen mit Autismus die gleiche Bezeichnung verwendet. Das reicht von einer Person wie Einstein – jemand, der erst im Alter von drei, vier Jahren Sprachfähigkeiten entwickelt hat – bis hin zu jemandem, der so stark beeinträchtigt ist, dass er sich nicht selbst anziehen kann. Es ist so ein breites Spektrum. Viele Menschen mit Autismus, die nicht sprechen können, können durchaus lernen zu tippen und sich so sprachlich auszudrücken.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Autismus und visuellem Denken?

Nicht jeder Mensch mit Autismus denkt visuell. Eines haben Personen mit Autismus aber gemeinsam: Sie neigen zu extremen Ausprägungen. Ich denke extrem stark in Bildern. Ein anderer Mensch mit Autismus könnte eine Mathematikerin sein, die extrem stark in abstrakten Mustern denkt. Und dann gibt es einige Autisten, deren sprachliche Denkweise extrem stark ausgeprägt ist. Ihnen fällt es wirklich leicht, sämtliche Fremdsprachen zu erlernen, zu sprechen und zu schreiben. Sogenannte normale“, neurotypische Menschen befinden sich meist irgendwo zwischen diesen Polen.

Sie behaupten also, dass sich auch visuelles und verbales Denken auf einem Spektrum befinden, von einem Extrem zum anderen.

Ja, das stimmt. Viele Menschen lesen mein Buch und stellen fest, dass sie eine Mischform sind. Dann fangen sie an, zum ersten Mal über ihre eigene Wahrnehmungsweise und die anderer Menschen nachzudenken. Das ist der wichtigste Schritt: Sich erst einmal darüber bewusstzuwerden, dass es verschiedene Arten des Denkens gibt.

Wie kann ich feststellen, zu welchem Typ ich zähle?

Wenn ich Sie bitte, an eine Fabrik zu denken, was geht Ihnen durch den Kopf?

Ich sehe ein graues Gebäude und einen Schornstein, außerdem etwas Rauch. Das Bild ist eher verschwommen und wenig detailliert.

Wenig detailliert, okay. Ich sehe nicht irgendeine Fabrik, sondern bestimmte Fabriken. Da ich in der Fleischindustrie arbeite, erscheinen Anlagen vor meinem inneren Auge, in denen Fleisch verpackt wird. Ich sehe eine Fabrik nach der anderen, als würde eine PowerPoint-Slideshow vor mir ablaufen. Meine Bilder sind sehr spezifisch. Wie ein Foto eben. Ein verbaler Denker könnte dagegen eher ein vages, verallgemeinertes Bild von einem grauen Fabrikgebäude vor Augen haben.

Nehmen wir an, ich finde heraus, dass ich eine stark verbale Denkerin bin. Wie kann ich dieses Ergebnis nutzen – zum Beispiel wenn es darum geht, neue Dinge zu lernen?

Eine der Studien, die wir in dem Buch über visuelles Denken vorstellen, zeigt, dass die verschiedenen Denktypen verschiedene Arten des Lernens bevorzugen. Wenn ich als visuelle Denkerin zum Beispiel lernen möchte, wie eine Wasserpumpe funktioniert, schaue ich mir am liebsten Diagramme und Bilder an. Verbale Denker lesen dagegen lieber erklärende Texte.

Können sich verbal denkende Menschen im visuellen Denken üben?

Es gibt ein gewisses Maß an Training, das man mit Personen aus der Mitte des Spektrums durchführen kann. Aber es ist unmöglich, dass eine besonders verbale Denkerin wie meine Co-Autorin Betsy Lerner mechanische Geräte eines Tages so detailgetreu visualisieren kann wie ich.

Nehmen Sie jemanden wie die Logopädin, die bei dem Gedanken an einen Kirchturm zwei grobe Linien vor Augen hatte. Wenn man sie dazu nötigen würde, könnte sie sich vielleicht die Kirche aus ihrem Dorf vorstellen. Dafür müsste sie aber mit aller Kraft in ihren Gedächtnisdateien wühlen. Man kann also etwas mit Training erreichen, aber die Möglichkeiten sind begrenzt. Das gilt übrigens für alle Denktypen. Der Versuch, mir Algebra beizubringen, fühlte sich so an, als würde ich gegen eine Mauer rennen.

Wie groß ist der Anteil der visuellen Denker an der Gesamtbevölkerung?

Das ist leider noch nicht ausreichend erforscht. Einen Hinweis gibt uns die Forschungsarbeit der amerikanischen Psychologin Linda Silverman. Sie unterscheidet zwischen akustisch-sequenziellen, also sprachbasierten und visuell-räumlichen Denktypen. Sie hat auch einen Fragebogen entwickelt, mit dem man testen kann, wie stark man zu welcher Gruppe zählt. Silvermans Team hat eine Studie mit 750 Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlicher Herkunft und ganz verschiedenen IQ-Werten durchgeführt. Ungefähr ein Drittel von ihnen erwies sich als stark visuell-räumliche Denkende. Etwa ein Viertel war stark sprachbasiert. Und die restlichen rund 45 Prozent waren eine Mischform.

Fällt Ihnen ein Beispiel für eine berühmte visuelle Person ein?

Michelangelo. Bereits in seiner Kindheit hat er gelernt, wie man Hammer und Meißel benutzt. Die Schule hat er mit zwölf Jahren abgebrochen. Schließlich nahm ihn ein Künstler als Lehrling in seinem Atelier auf. Zwar brach er auch diese Ausbildung nach nur einem Jahr ab, weil er der Meinung war, dass er dort nichts mehr lernen könne. Aber er hat immer hart gearbeitet. Mit 26 Jahren hat er dann mit der Arbeit an einem seiner großen Hits begonnen, David. Michelangelo ist für mich ein Beispiel für pures visuelles Denken. Ich nehme an, dass er auch Autist war.

In welchen Berufsfeldern können visuell denkende Menschen ihre Stärken am besten einbringen?

Sie tendieren zur Mechanik, Kunst und Fotografie. Ich habe zum Beispiel mit zahlreichen Pressefotografen und -fotografinnen gesprochen. Viele von ihnen hatten Legasthenie und in der Schule Lernprobleme. Aber dann entdeckten sie die Kamera für sich und wurden auf diesem Feld sehr gut. Sehen Sie, das ist visuelles Denken. Man schaut einfach durch die Kamera und sieht das richtige Bild.

Es ist also so, als würde man sich statt mit einem verbalen mit einem visuellen Vokabular ausdrücken?

Das ist richtig. Außerdem können visuelle Denker oft gut mit Tieren umgehen. Schließlich denken Tiere nicht in Worten. Ich glaube, die Menschen, die das Bewusstsein von Tieren am meisten infrage stellen, sind stark verbale Personen. Für sie ist es nur schwer vorstellbar, dass ein Hund denken kann. Für mich dagegen liegt auf der Hand, dass ein Hund auf andere Weise denkt. Seine Erfahrungen sind geprägt vom Riechen, Sehen, Hören. Es ist eine Welt der Sinne, keine Welt der Worte.

In wessen Welt leben wir, in einer Welt der visuell oder der verbal Denkenden?

Ich glaube, dass heutzutage viele Lehrerinnen und Ausbilder eher verbal oder mathematisch veranlagt sind. Das hat Konsequenzen für das gesamte Bildungssystem. Ich mache mir große Sorgen um Menschen mit meinem Wahrnehmungstyp, die in Bildern denken. In der Schule oder an der Universität werden sie viel zu oft einfach aussortiert – zum Beispiel weil sie sich mit höherer Mathematik sehr schwertun. Diese Anforderungen können talentierte Menschen von Berufen wie zum Beispiel der Tiermedizin fernhalten. Ich kenne keinen Tierarzt, der in seinem Arbeitsalltag höhere Mathematik braucht. An einigen unserer Veterinärschulen wird das aber verlangt.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Einige Lehrkräfte setzen die Algebra mit logischem Denken gleich. Ich dagegen benutze Assoziationen, um logisch zu denken. Es ist einfach eine andere Art von Intelligenz. Ich habe 25 Jahre lang auf Baustellen mit Leuten gearbeitet, die keinen Schulabschluss hatten. Jetzt sind sie in meinem Alter – und besitzen zig Patente für mechanische Geräte, die sie erfunden haben.

Wie muss sich das Bildungssystem verändern, um Menschen aller Denktypen zu unterstützen?

Alles beginnt mit dem ersten und wichtigsten Schritt: Wir müssen anerkennen, dass es unterschiedliche Denkweisen gibt und dass sie unterschiedliche Fähigkeiten mitbringen. Wenn wir visuell Denkende nie mit ihren Händen arbeiten lassen, zum Beispiel im Werkunterricht, wie sollen sie ihre Fähigkeiten dann je entdecken und entwickeln? Zum Glück führen einige Schulen in den Vereinigten Staaten die handwerklichen Fächer nun wieder ein.

Ein weiterer großer Fehler war die Abschaffung der Berufsausbildung in Ländern wie den USA oder Großbritannien. Visuell denkende Menschen sehen einfach, wie eine Maschine funktionieren würde. Kürzlich sprach ich auf einer Messe mit dem Leiter einer Feuerwehreinheit. Einer seiner Leute hatte eine Pumpe entworfen. Ich darf nicht verraten, wie sie funktioniert, weil sie sie zum Patent angemeldet haben. Aber als ich den Entwurf auf Papier gesehen habe, dachte ich: Wow, das ist genial. Die Pumpe ist so simpel, so schön. Und ein Feuerwehrmann ohne Ingenieurausbildung erfindet all das.

Wie können die verschiedenen Wahrnehmungstypen erfolgreich zusammenarbeiten?

Man hört immer wieder, dass die Künstlerinnen die Buchhalterinnen nicht mögen und so weiter. Wir müssen anerkennen, dass Künstler und Buchhalter unterschiedlich denken und gerade deshalb voneinander profitieren können. Wenn eine brillante visuelle Denkerin beispielsweise eine Metallwerkstatt eröffnet, braucht sie eine verbale Denkerin an ihrer Seite, die die Geschäfte am Laufen hält: die Buchhaltung, die Stromrechnungen, die Miete. Ansonsten gerät die visuelle Denkerin spätestens dann in Schwierigkeiten, wenn ihr Unternehmen größer wird.

Aber auch die zwei Varianten der visuell Denkenden können einander ergänzen. In einem Fleischverarbeitungsbetrieb zum Beispiel habe ich festgestellt, dass die in Bildern Denkenden nicht mit Algebra umgehen konnten. Ihre Aufgabe war, clevere mechanische Geräte zu entwerfen. Dann kamen die mathematisch veranlagten Ingenieurinnen und Ingenieure ins Spiel, die räumlichen Typen also. Sie haben sich um Dinge wie die Heizkessel, Kühlung oder die Berechnung der Schneelast auf dem Dach gekümmert. Man braucht ein ganzes Team, um eine große Fabrik zu bauen. Wir brauchen alle Arten des Denkens: die visuellen Typen, die verbalen und alle dazwischen.

Temple Grandin ist Professorin für Tierwissenschaften an der Colorado State University. Sie schrieb zahlreiche Sachbücher und ist eine ­gefragte Vortragsrednerin. Das Time Magazine zählte sie im Jahr 2010 zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt.

Quelle

Temple Grandin: Visual Thinking. The Hidden Gifts of People Who Think in Pictures, Patterns, and Abstractions. Riverhead Books 2022

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2024: Die schönste Zeit: Alleinsein