Die Kirche fällt auf. Sie ist schon von außen anders als die übrigen Gebäude. Dominant weist sie nach oben. Den Himmel aber will sie nicht erreichen, wie es die Wolkenkratzer immer wieder vergeblich versuchen. Wuchtig und fest bleibt sie auf der Erde stehen. Den Himmel zeigt sie nur.
Derart gespannt, zwischen Erde und Himmel ausgestreckt, werden die Vorbeigehenden an sich selbst erinnert, an ihren aufrechten Gang. Die Spannung der Kirche aufnehmend, richten sie sich unwillkürlich leicht auf. Der Mensch…
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Kirche aufnehmend, richten sie sich unwillkürlich leicht auf. Der Mensch erreicht mit seiner Haltung zwar auch nicht den Himmel, er bleibt mit beiden Beinen auf der Erde, weist aber – anders als das vierfüßig der Erde verhaftete Tier – mit seinem Gang ebenfalls nach oben. Sollte er dem Impuls nachgehen? Sollte er seinen Stadtgang unterbrechen und einen Kirchgang einlegen?
Neugier steigt auf: Wie sieht es wohl drinnen aus? Wie wird es ihm in der Kirche gehen? Unter dem Turm findet sich der Eingang. Bis zur Tür sind immer einige Stufen zu überwinden: Sie laden ein und weisen zugleich auch ab. Der Turm drückt mit seiner Höhe, die Tür ist schwer, vielleicht verschlossen. Wer hinein will, muss es wollen. Niemand gerät einfach in eine Kirche hinein.
Rhythmisch gegliedert
Innen umfängt die Eintretenden dichte Stille aus schummrigem Halbdunkel und leicht modrigem Geruch. Grabplatten an den Seiten rechts und links verstärken den beklommenen Eindruck. Ist der Empfangsraum eine Grabkammer? Bodenlos droht sich ein Abgrund unter den Füßen zu öffnen. Hier ist kein Ort zu verweilen, hier ist eine schnelle Passage zu nehmen.
Auf Stufen nach oben gegangen, findet sich der Kirchgänger nun unten wieder. Sein außen erinnerter aufrechter Gang ist keineswegs fest. Stolpern, Stürzen und Liegen ist der Preis der Aufrechten. Die Kirche beginnt mit dem Fall des Menschen. Lange hält es ihn hier, am Ort seiner Hinfälligkeit, nicht.
Durch die nächste Tür gehend, bleibt die Kirchgängerin geblendet stehen. Von oben, von vorne fällt Licht ein und füllt den Raum, der lang ausgestreckt vor ihr liegt. Einen großen Gang bildet dieser Raum, rhythmisch gegliedert mit Pfeilern und Bögen. Auch die Bänke dienen der Rhythmisierung des Ganges. Weit davon entfernt, ein Zweckbau für Versammlungen zu sein, stellt sich die Kirche den Kirchgängern als gebauter Weg dar. Viele Menschen könnten neben- und miteinander diesen Gang gehen; viele sind ihn schon gegangen; viele werden ihn noch gehen. Heute geht der Kirchgänger ihn allein.
Wohin wird der Weg führen? Die Besucherin geht langsam und umherblickend los. Während sie nach vorne schreitet, nimmt sie eine Gegenbewegung wahr, das Gotteshaus mit seinen Pfeilern, Bögen und Bänken weicht zurück; eine Doppelbewegung, ähnlich wie bei einem stehenden und einem fahrenden Eisenbahnzug, entsteht. Diese endet, als die Besucherin an den breiten Stufen stehenbleibt, die sich ihr vorne in den Weg legen. Kirche und Kirchgänger warten in gespannter Stille.
Kleiner werden wir, höher wird sie
Jetzt tut der Besucher, was er sonst nie tun würde, wozu das breite Band der Stufen ihn aber eindringlich einlädt: Er kniet. Kleiner wird er so, und die Pfeiler, Wände und Fenster werden größer und höher. Ist er wieder da, wo er beim Eintritt schon einmal war, beim Fall des Menschen? Läuft der aufrechte Gang vergeblich im Kreis? Ist die Aufrechte des Menschen pure Illusion, blendende Anmaßung und elende Verführung? Ratlos sieht der Knieende sich um.
Sein Blick bleibt an dem Kruzifix hängen, das in halber Höhe vor ihm schwebt. Da ist sie wieder zu sehen, die Aufrechte. Am aufgerichteten Kreuz ist mit Händen und Füßen der menschliche Leib fixiert. Der gekreuzigte Leib des Christus hält die Aufrechte fest. So vor Augen gehalten, findet die Kniende sie in sich selbst wieder. Sie ist nicht gefallen, nicht gebeugt, sondern kniet aufrecht.
Gleich, aber doch anders
Langsam erhebt sie sich, das Gewölbe zieht sie geradezu, und in derselben Bewegung senkt sich die Kirche mit Pfeilern, Wänden und Fenstern zu ihr herab. Eine Vereinigung des Gegensätzlichen hat in aller Stille stattgefunden; Aufwärts und Abwärts, Begehbares und Unbegehbares, Himmel und Erde haben sich getroffen.
Derart erhoben verharrt der Kirchgänger noch einen Augenblick, um das Erlebte tief aufzunehmen. Ein Foto wird er nicht machen, wäre doch das Entscheidende, seine Aufrichtung, auf ihm nicht zu sehen.
Der Kirchgänger wendet sich und geht den Weg anders zurück, aufrechter, dem Eingang mit dem abgründigen Grab zu, über den Fall des Menschen aus der Kirche hinaus. Draußen umfängt ihn Stadtlärm. Einige Stufen hinabgehend, kommt er wieder auf dem Boden seiner Lebenswelt an.
Hier, wo er seinen Stadtgang unterbrochen hatte, nimmt er nichts Neues wahr und nichts anderes als zuvor. Aber er nimmt es jetzt anders wahr. Nicht mehr so drückend ist, was ihn umgibt, nicht mehr so zwingend, was er sieht. Gewandelt hat sich seine Haltung. Verändert ist der Blick. Aufrecht geht er durch die Straßen. Wie lange werden die Wandlung und Aufrichtung wohl anhalten? Bis zum nächsten Kirchgang.
Literatur
Christoph Bizer: Kirchgänge im Unterricht und anderswo. Zur Gestaltwerdung von Religion. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995
Bernhard Waldenfels: Architektur am Leitfaden des Leibes. In: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1999, S. 200–215
Stephan Weyer-Menkhoff: Kirchbau. In: „Gottes Gabe ist es“. Was sich zeigt, wenn christliche Religion gezeigt wird. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2020, S. 195–284
Stephan Weyer-Menkhoff war bis 2020 Professor für praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz. Von 2001 bis 2005 leitete er das DFG-Graduiertenkolleg „Raum und Ritual“. Er forscht zu Phänomenologie, Ästhetik und Gestaltpädagogik sowie zu Kunst und Kirchbau.