Frau Dr. Unterholzer, Sie wenden die Methode des selbstwirksamen Schreibens in Ihrer psychotherapeutischen Praxis an. Was genau verstehen Sie darunter?
Schreiben unterstützt uns bei Veränderungs- und Bewältigungsprozessen. Indem wir auf diese Weise Gedanken ordnen, gewinnen wir Abstand zum Geschehen, durchbrechen destruktive Muster und gelangen zu einer neuen Sichtweise. Im Gegensatz zum mündlichen Ausformulieren können sich Zusammenhänge auftun und Erkenntnisse entwickeln, die uns durch die Flüchtigkeit der…
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können sich Zusammenhänge auftun und Erkenntnisse entwickeln, die uns durch die Flüchtigkeit der Sprache nicht zugänglich sind. In dem Moment, in dem wir einen Gedanken oder ein Gefühl notieren, haben wir es sozusagen schwarz auf weiß. Wer sich Ängste und Sorgen von der Seele schreibt, entwickelt beim Notieren oft schon Lösungen für Probleme. Das ist eine Form der Selbstwirksamkeit: Wir fokussieren uns schreibend auf schwierige Momente und Phasen in unserem Leben.
Es kommt also etwas in Gang, das bereits in uns ist?
Genau, das ist das Wunderbare, dass wir Ressourcen für die Lösung von Problemen zumeist in uns tragen, uns jedoch manchmal der Zugang dazu fehlt. Indem wir schreiben, kommen wir dem näher. Das wiederum stärkt unser Vertrauen in unsere Fähigkeiten, aus eigener Kraft etwas zu bewirken und Situationen verändern zu können. Wenn wir Herausforderungen selbst meistern, trauen wir uns auch in Zukunft mehr zu und der Glaube an uns wächst.
Warum reicht Nachdenken allein nicht aus, um Sachverhalte zu ordnen, zu entwirren und zu klären?
Manchmal reichen Denken und Reden, manchmal eben nicht. Schreiben ist ja eine intensive Form des Nachdenkens: Wir beschäftigen uns mit unseren Gefühlen, Einstellungen und Glaubenssätzen, wir richten die Aufmerksamkeit komplett auf uns. Das Schreiben ist zwar nicht der einzige Weg, um sich selbstwirksam zu erleben, aber es ist ein effizientes kreatives Mittel, um sich besser zu verstehen. Kurzum: Das, was wir aufschreiben, wirkt nachhaltig.
Wie fange ich an, wenn ich noch nie geschrieben habe? Ist es besser, einfach draufloszuschreiben, oder ist es sinnvoller, eine Struktur festzulegen?
Es hängt davon ab, was ich mit dem Geschriebenen bezwecke. Wenn ich lediglich etwas loswerden will, kann ein Drauflosschreiben sinnvoll sein, wenn ich aber einen zusammenhängenden Text schreiben möchte, den vielleicht noch andere lesen sollen, oder ich ein größeres Textprojekt plane, ist eine Struktur sinnvoll.
Drauflosschreiben klingt ziemlich chaotisch – wie kann ich mir das vorstellen?
Es ist nicht chaotisch, es ist assoziatives beziehungsweise automatisches Schreiben. Da beginne ich, ohne mir vorher viele Gedanken zu machen. Ich lasse meine Gedanken fließen, ich kontrolliere nicht. Auf diese Weise komme ich in Kontakt mit meinen Gefühlen, auch denen, die im Alltag verborgen sind. Es kann sprunghaft und bruchstückhaft sein, ebenso unkontrolliert und unzensiert. Auf jeden Fall spiegelt es wider, was in meinem Kopfkino alles passiert. Zum Beispiel: Ich höre die Kaffeemaschine surren; überlege, ob ich gestern meiner Kollegin alles richtig erklärt habe; ich spüre meinen Magen grummeln; überlege, was ich morgen zum Abendessen kochen werde. Oder es fällt mir gerade nichts ein, dann schreibe ich einfach: Grad fällt mir nichts ein. Alles darf sein. Ich kann so lange herumschlingern, bis ich wieder auf die Spur meines Themas komme, für das ich mir Stift und Papier herausgeholt habe.
Sie bezeichnen das automatische Schreiben als Psychohygiene für den Alltag. Warum?
Schreiben hat etwas Wohltuendes, eigentlich wie Meditation oder Yoga. Beim automatischen Schreiben fließen die Gedanken; Bilder und Erinnerungen ziehen auf. Sie sollen so schnell wie möglich niedergeschrieben werden; alles was wir fühlen, denken, spüren, hören, riechen, hoffen. Kein Einfall, keine Überlegung – und scheint sie noch so absurd – wird verworfen. Für diese Schreibform sind Grammatik, Rechtschreibung, Satzzeichen zunächst irrelevant. Es müssen keine vollständigen Sätze sein, manchmal reicht sogar eine Aneinanderreihung von Wörtern.
Schreiben also ohne Pause?
Ja, Hauptsache der Schreibfluss wird nicht unterbrochen, wichtig ist, einfach dabeizubleiben. So ein Text ist nicht zum Lesen für andere gedacht. Wenn ich automatisch schreibe, kann ich erfahren, dass es Themen gibt, die mir noch nicht ins Bewusstsein gelangt sind, nun jedoch überraschend auftauchen. Ich erlebe das häufig in meiner Praxis: Nach einem arbeitsintensiven Tag kommen Klientinnen sowie Klienten und sagen, dass heute so viel los war und dass sie nicht wissen, womit sie anfangen sollen. Dann schlage ich ihnen vor, zehn Minuten draufloszuschreiben, ohne den Stift abzusetzen. Das führt häufig dazu, dass sich Fragen, Probleme oder Schwierigkeiten herauskristallisieren, die näher angeschaut werden wollen.
In solch einem Fall kann das automatische Schreiben eine gute Brücke sein?
Diese Methode erweist sich oft als hilfreich, wenn es ein Projekt gibt, das ich angehen will, aber nicht anfange, weil vielleicht meine Ziele zu hochgesteckt sind. Das Projekt kann zum Beispiel sein, die Lebensgeschichte meiner Großmutter aufzuschreiben. Da ist das automatische Schreiben sinnvoll, um Gedanken zu externalisieren, also aus dem Kopf aufs Papier zu bringen oder als Text in den Computer zu tippen. Solche Fragen wie: „Wo fange ich an? Kann ich das überhaupt schaffen?“, sind ausgeschaltet. Vielleicht regnet es gerade und da steigt die Erinnerung auf, dass Großmutter gerne am Fenster stand und den herabfließenden Tropfen an der Scheibe zusah. Das könnte ein Einstieg, ein Anfang sein. Automatisches Schreiben erscheint zunächst sinnlos, doch ist es eine gute Vorarbeit, um sich von überhöhten Anforderungen und Ansprüchen zu befreien und loszulegen.
Auch wenn das automatische Schreiben hilfreich ist, welche anderen Methoden gibt es noch, die zum Einsatz kommen können?
Es ist ratsam, sich auszuprobieren: von der Kurzform zu längeren Texten zu wechseln und umgekehrt oder mal erzählend zu schreiben, dann wieder dialogisch. Warum nicht auch poetische Texte probieren, wie Erzählungen, Märchen und lyrische Formen, oder sich in sogenannten Gebrauchstexten versuchen, also Rezepte, Manifeste, Kritiken oder Anschreiben formulieren? Abwechslung tut gut, denn immer die gleiche Form zu benutzen bringt irgendwann keine neuen Erkenntnisse mehr. Das Schreiben kann zu einem täglichen oder wöchentlichen Ritual werden, als eine produktive Zeit der Selbstreflexion, eine Zeit zum Innehalten und Entschleunigen. Es geht nicht darum, sich zu fragen, ob die Zeit dafür ausreicht, ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist oder ich genug Energie zur Verfügung habe, es geht ganz einfach darum, es zu tun. Das muss gar nicht viel sein, vielleicht genügt ein kurzer Satz, eine gewonnene Weisheit, ein Vierzeiler oder die Idee für eine Geschichte.
Was mache ich mit meinen fertigen Notizen, wann soll ich sie wieder hervorholen, nachdem ich sie zunächst abgelegt habe?
Manche Notizen braucht man gar nicht wieder hervorholen, das Geschriebene nämlich wirkt in uns. Es ist oft so, dass wir spüren, dass irgendetwas nicht passt – aus irgendeinem Grund fangen wir etwas nicht an oder irgendwas spukt im Kopf herum, ohne dass wir es benennen können. Beim automatischen Schreiben richtet sich die Aufmerksamkeit auf diese Gedanken und darauf, was in unserem Kopf und Körper los ist. Dadurch ist die Chance groß, dass wir das Diffuse, Unklare benennen. Manchmal gibt es Situationen, in denen wir uns unruhig fühlen und nicht recht wissen, warum. Beim Schreiben kristallisiert sich vielleicht heraus, dass uns das Treffen morgen mit dem Vorgesetzten mehr zu schaffen macht, als wir uns bislang eingestehen wollten. Wenn das zum Beispiel deutlich wird, lässt sich überlegen, was ich brauche, damit ich entspannter sein kann. Diese Aufzeichnungen spielen dann keine Rolle mehr, sie sind in uns abgespeichert.
Sie sagen: Was wir einmal aufgeschrieben haben, zeigt Wirkung. Was passiert da mit uns?
Als systemische Familientherapeutin gehe ich davon aus, dass Menschen, wenn sie Probleme haben, über Ressourcen verfügen, um Lösungen dafür selbst zu erarbeiten. Dabei kann das Schreiben einen Beitrag leisten, weil es einen Zugang zu unseren Fähigkeiten ermöglicht. Zu mir in die Praxis kam eine Frau, die nach 30 Jahren von ihrem Mann verlassen worden war. Ich bat sie, ihre Wut, ihren Ärger, all ihre Kränkung niederzuschreiben. Da das automatische Schreiben sehr in die Breite geht, empfehle ich, danach alles durchzulesen und darauf zu achten, was einen besonders anspricht, wo „etwas in Resonanz geht“. Wenn sich an bestimmten Punkten starke Gefühle einstellen, ist es ein Zeichen dafür, dass etwas eine Bedeutung hat und dass es wichtig ist, sich damit zu beschäftigen.
Wie kann das aussehen?
Bei dieser Klientin ging es um den Schmerz, betrogen und verlassen worden zu sein. Es ging aber gleichermaßen darum, dass der Schmerz auch vergehen wird. Das ist etwas Essenzielles in solchen schwierigen Situationen! Also nicht nur in dem Schmerz verharren, sondern durch das Schreiben Ideen entwickeln, wie trotz des Schmerzes das Leben neu gestaltet werden kann. Sie hat gespürt, dass die Trennung momentan wahnsinnig weh tut, aber dass diese Gefühle sich auch verändern werden. Manchmal hilft es, die prägnantesten Wörter des eigenen Textes zu unterstreichen und daraus einen Vierzeiler zu entwickeln. Da wir automatisch schreibend vom Hundertsten ins Tausendste kommen, ist es sinnvoll, den Text zu verknappen, um den Kern der Aufzeichnungen zu erfassen.
Erinnern Sie sich noch an die Verse?
Sie schrieb: So heftig die Schockstarre auch ist/Sie wird sich lösen/Ich werde überleben/So heftig die Schockstarre auch ist.
Gibt es Situationen, in denen das Schreiben mehr belasten als entlasten kann?
Ja. Deshalb rate ich beim Beschreiben von Schmerzhaftem zu Schreibweisen, die distanzieren. Es ist wichtig, das Thema dann zu externalisieren, es also in eine Person, eine Figur zu verwandeln und den Einfluss und die Auswirkungen des Problems auf das eigene Leben zu formulieren. Es ist gut, eine passende Metapher zu finden und diese möglichst detailreich zu beschreiben: zum Beispiel Trauer als vielarmigen Kraken; Scham als einen umhüllenden Mantel, den man abwerfen möchte; Enttäuschung als führerloses Boot im offenen Meer, dessen Steuerung wieder kontrolliert werden soll.
Ein arg belastendes Thema sollte nicht in der Ich-Form, sondern in der dritten Person Singular formuliert werden, also besser sie oder er wählen. Außerdem bietet es sich an, statt in der Gegenwart in der Vergangenheit zu schreiben. Das suggeriert, es sei bereits vorbei. Das kann entlastend wirken.
Wo liegen die Grenzen des Schreibens?
Wer beim Schreiben von unangenehmen Gefühlen überflutet wird und nicht mehr recht die Kontrolle über seine Wörter und Sätze hat, sollte abbrechen. Sonst wird das Leid regelrecht festgeschrieben. Das lindert den Schmerz nicht, sondern befördert das Gegenteil. Manchmal gibt es Themen oder Ereignisse, die sind emotional so aufwühlend, dass zwischen uns und die Erfahrungen sozusagen kein Blatt Papier passt. Zudem: Leidensgeschichten muss ich nicht mehr aufschreiben, sie erzählen sich von selbst, da wir uns schon so oft damit beschäftigt haben. Besser ist, dafür alternative Geschichten niederzuschreiben.
Zum Beispiel?
Bei wiederkehrenden depressiven Verstimmungen würde ich nicht empfehlen, diese emotionale Düsternis und gefühlte Ausweglosigkeit aufzulisten, sondern lieber genau und detailreich aufzuzeigen, was beim letzten Mal geholfen hat, aus dieser schweren Zeit herauszukommen. Dadurch wird mir bewusster, dass ich über entsprechende Ressourcen verfüge, um aus einem Tief herauszukommen. Das kann ein Spaziergang durch den Wald gewesen sein. Diesen gilt es zu beschreiben, wie das Laub geduftet hat, der Wind durch die Bäume fuhr, wie sich die Rinde der Eiche anfühlte, welche Farbe der Himmel hatte. Dabei wandern die Gedanken weg von der gefühlten Ausweglosigkeit unter dem Motto: Immer bin ich depressiv, ständig geht es mir schlecht. Es ist dann eher ein: Aha, da erlebe ich mich selbstwirksam! Ich kann selbst etwas tun, damit es mir besser geht! Das wird nicht immer funktionieren, jedoch werden mir meine Möglichkeiten deutlicher.
Das klingt ein bisschen nach Verdrängung, oder nicht?
Nein, die Leidensgeschichte darf natürlich nicht aus dem Fokus geraten, sie muss ernst genommen werden, aber ich empfehle, eben nicht in die Tiefe zu gehen. In meiner psychotherapeutischen Praxis habe ich die Erfahrung gemacht, dass durch die schweren Erzählungen das Leiden oftmals schlimmer wird. Zwar wäre es völlig vermessen zu glauben, dass ein Text die ultimative Lösung bringt, doch er kann eine Initialzündung sein, ein Anschub, aus dem negativen Erleben herauszufinden. Ausschlaggebend ist, dass diese Initialzündung von den Betroffenen kommt, damit die Erfahrung von Selbstwirksamkeit spürbar wird und die Fähigkeiten deutlich werden, die zum positiven Erleben beitragen. Wer jedoch beim Schreiben in einer Problemtrance gefangen bleibt, sollte dann nicht so sehr über das Was, sondern das Wie des Schreibens nachdenken.
Was raten Sie?
Ich vertrete die Auffassung, negativ dominante Geschichten mit alternativen Geschichten, also mit anderen Erfahrungen, die der Leidensgeschichte widersprechen, zu ergänzen. Zum Beispiel kam ein Mann in meine Sprechstunde wegen eines Burnouts, er war durch seine viele Arbeit und die immense Verantwortung zusammengebrochen. Seit frühester Kindheit musste er viel Verantwortung übernehmen, da seine Mutter krank und sein Vater abwesend war. Außerdem kümmerte er sich um die jüngeren Geschwister. Eigentlich ist er schon als Kind überfordert gewesen, und diese Überforderung zog sich durch sein ganzes Leben. Auch in seinem Beruf ging er jahrelang über seine Grenzen.
Die Ursachen seines Leides zu ergründen war unabdingbar, gleichzeitig war es mir wichtig, mit ihm zu erarbeiten, wo es in seinem Leben Momente der Leichtigkeit gab, wo andere für ihn Verantwortung übernommen hatten und er einen Ausgleich zur Anspannung im Alltag fand. Es ging darum, dass er sich solch wohltuende Momente mehr in sein Leben holen sollte. Schreiben verleiht diesen neuen Aspekten Bedeutung – der Klient notierte viele Ideen und Vorhaben, um seinen Heilungsprozess mit Stift und Papier anzugehen.
Es geht also darum, aus dem immer gleichen negativen Gedankenmuster herauszufinden?
Es gilt, bewusst gegenzusteuern, also gezielt Momente aus der Vergangenheit aufzurufen, wo ich mir stolz auf die Schulter klopfen konnte, da ich aus eigener Kraft auf Problemlösungen kam. Vielleicht gibt es Notizen aus jener Zeit oder Tagebuchaufzeichnungen? Dann sollte man einen Schritt weitergehen, dieses stärkende Gefühl festhalten, um es zukünftig erinnerbar zu machen: Könnten vielleicht bestimmte Rituale oder ein liebgewonnener Talisman als Zeichen dafür stehen, mir immer wieder bewusstzumachen, was einst in stressigen Situationen geholfen hat? Das kann ein Anker sein, stets an die eigenen Fähigkeiten zu glauben!
Lässt sich ein selbstwirksames Verhalten auch von anderen abschauen?
Durchaus, indem wir Menschen beobachten, die uns ähnlich sind. Gibt es jemanden, den ich mag, der vergleichbare Schwierigkeiten bewältigt hat? Was könnte ich davon ausprobieren? Oder auch: Wer könnte mir zur Seite stehen, mich stützen? Menschen, die uns gut zureden, die uns etwas zutrauen, können die eigene Selbstwirksamkeitserwartung erhöhen. Ein weiterer Aspekt ist die stärkende Interpretation körperlicher Gefühle: Es kann anregend sein zu beobachten, wie andere mit Stresssymptomen umgehen. Denn wenn wir hohen Anforderungen ausgesetzt sind, klopft das Herz schneller, wir zittern, der Atem wird flach. Wenn wir diese natürlichen Reaktionen unseres Körpers nicht angstbesetzt als Vorboten des Versagens, sondern als normale Erregung interpretieren, die Energie freisetzen kann, stärkt das unser Vertrauen in uns selbst. So etwas können wir schriftlich festhalten.
Wie lässt sich die Scheu überwinden, über Intimes, Schambesetztes, Beängstigendes zu schreiben?
Den eigenen Zensor auszuschalten ist und bleibt eine Herausforderung. Helfen kann, sich ohne große Erwartungen an den eigenen Text heranzutasten, mit ein paar Sätzen, ein paar Notizen zu beginnen. Ängste und Schambesetztes können überwunden werden, wenn vorab klar ist, was mit dem Geschriebenen passieren wird, ob es ausschließlich für einen selbst ist oder ob jemand anderes es lesen darf. Hilfreich ist, sich nicht zu viel Zeit für den Anfang zu nehmen, nicht mehr als zehn Minuten. Denn je länger die Schreibzeiten, desto höher dann wieder die Ansprüche an den Text.
Ist es egal, ob ich mit der Hand schreibe oder am Smartphone, Laptop, Tablet?
Ich selbst schreibe lieber mit der Hand, da ich dabei gründlicher nachdenke. Die motorische Bewegung des Schreibens wirkt nachhaltiger – bei mir jedenfalls. Das ist wichtig, um sich Erfahrungen, Erkenntnisse gut einzuprägen. Beim Tippen werden weniger Hirnregionen aktiviert, die Bewegungen sind einfacher. Dennoch muss man schauen, was zu einem passt. Jugendliche und junge Erwachsene, die hauptsächlich mit digitalen Medien arbeiten und kaum mit der Hand schreiben, werden Laptop, Smartphone oder Tablet dem Stift vorziehen. Jedoch: Wenn wir unsere Kreativität nutzen wollen, erste Ideen entwickeln und Entwürfe verfassen, ist das händische Schreiben besser. Überarbeiten wir Texte und feilen an ihnen, ist der Rechner eine gute Wahl.
Wo lässt es sich am besten schreiben?
Auf jeden Fall nicht gerade dort, wo üblicherweise gearbeitet wird, das wirkt dem selbstwirksamen Schreiben entgegen. Es kann eine gemütliche Ecke im Zimmer oder der Küchentisch sein, ein angenehmes Café oder in der warmen Jahreszeit ein Garten oder Park. Schreiborte sollten immer wieder gewechselt werden, um Schreibblockaden zu lösen oder gar nicht erst entstehen zu lassen.
Durch den Einfluss der digitalen Medien sind wir sehr in unserer bildlichen Vorstellungskraft geschult. Was schafft das Schreiben im Unterschied zum Visualisieren?
Schreiben ist nicht die einzige Wahrheit, es kann sinnvoll sein, unterschiedliche Medien miteinander zu verbinden. Das Bildliche, das Musikalische, das Tänzerische kann eine Vorstufe zum Schreiben sein. Wenn ich mit Farben male, entsteht ein Bild, dessen Aussage ich vielleicht noch nicht in Worte fassen kann – da hilft das Schreiben, es ist dann das Ergebnis eines intermedialen Quergangs. Also Worte für etwas zu finden: für das, was ich spüre, was ich erlebe. Wenn ich etwas formuliere und benenne, wird vieles deutlicher. Es kommt noch etwas hinzu: Viele Menschen leiden unter der enormen Beschleunigung der letzten Jahre und Jahrzehnte. Ständig medial präsent zu sein, ständig die E-Mails zu checken, ständig auf dem Laufenden zu sein strengt enorm an und höhlt innerlich aus. Schreiben hingegen hat die wunderbare Nebenwirkung, dass es entschleunigt.
Was gab den Anstoß für Selbstwirksam schreiben, Ihr aktuelles Buch zu diesem Thema?
Vor sechs Jahren erschien mein Fachbuch Es lohnt sich, einen Stift zu haben. Schreiben in der systemischen Therapie und Beratung. Es stieß auf große Resonanz bei Kollegen und Kolleginnen, viele meinten aber, was ihnen noch fehle, seien ganz konkrete Schreibanregungen, die sie Klientinnen mitgeben könnten für die Zeit zwischen den Therapieterminen; es brauche also ein Buch, mit dem diese allein, ohne therapeutische Unterstützung arbeiten können. Und das habe ich dann so angelegt.
ZUM WEITERLESEN
Carmen C. Unterholzer: Selbstwirksam schreiben. Wege aus der Rat- und Rastlosigkeit. Carl-Auer 2021
Carmen C. Unterholzer ist als Psychotherapeutin am Institut für Systemische Therapie in Wien tätig sowie Vorstandsmitglied und Lehrtherapeutin der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie und systemische Studien. Sie hat eine Zusatzausbildung in Poesie- und Bibliotherapie und leitet Seminare zum therapeutischen Schreiben