Wir begegnen im Alltag ständig anderen Menschen. Oft sind das vertraute Personen, etwa die Ehefrau oder der Ehemann, die Kinder oder die Arbeitskollegen. Wir können meist recht gut vorhersagen, was unser Gegenüber denkt, fühlt und wünscht, also „was in ihm vorgeht“. Schwieriger ist das, wenn wir Menschen treffen, die uns noch unvertraut sind. Wir müssen uns dann spontan und intuitiv in diese Personen „hineinversetzen“ oder – wie es ein englisches Sprichwort bildlich ausdrückt – „in ihre Schuhe stellen“,…
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englisches Sprichwort bildlich ausdrückt – „in ihre Schuhe stellen“, also ihre Perspektive übernehmen, um angemessen mit ihnen kommunizieren zu können.
Wir nutzen dabei zum größten Teil nonverbale Signale. Dazu gehören Gestik, Mimik und Blickverhalten einer Person. Auf dieser Grundlage können wir eine Vorstellung von ihrem inneren Erleben bekommen. Diese Leistung ist besonders dann gefordert, wenn der Betreffende mit seinen Worten etwas anderes zum Ausdruck bringt als mit seiner Körpersprache. So kann jemand etwa sagen, dass es ihm gut gehe, doch über Mimik und Gestik genau den gegenteiligen Eindruck vermitteln. Wir müssen dann die verschiedenen Signale erst ordnen, integrieren und als Gesamtbild bewerten.
Hier liegt eine Hauptschwierigkeit von Menschen mit einer autistischen Störung. Sie machen bei solchen Kontakten häufig „Fehler“: Sie schätzen die innere Verfassung anderer falsch ein oder sagen etwas, das ungewollt beleidigend oder kränkend wirkt. Die Prozesse, die unsere Begegnungen mit anderen steuern und derer wir uns meist gar nicht bewusst sind, laufen bei Menschen mit Autismus anders ab.
In den letzten Jahren ist sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft ein stetig wachsendes Interesse am autistischen Anderssein zu beobachten. Das zeigt sich in Zeitungs- und Fernsehbeiträgen, Kinofilmen und zahlreichen Büchern, darunter zunehmend auch Erfahrungsberichte von Betroffenen. Viele Menschen, die uns in Köln in unserer Spezialambulanz „Autismus im Erwachsenenalter“ aufgesucht haben, wurden aufgrund solcher Medienberichte in ihrem Verdacht bestärkt, selbst autistisch zu sein.
Wird diese Diagnose erstmals im Erwachsenenalter gestellt, handelt es sich in aller Regel um „hochfunktionalen Autismus“. Die Intelligenz liegt dabei mindestens in einem durchschnittlichen Bereich. Man könnte von einer Teilleistungsstörung sprechen, die bei ansonsten intakten kognitiven Funktionen im Kern die soziale Kognition betrifft, also jene Prozesse, die wir zur Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen brauchen.
Kräftezehrender Sozialkontakt
Weil es ihnen nicht an Intelligenz mangelt, haben viele der Betroffenen als junge Erwachsene längst ein Bewusstsein von den eigenen Schwierigkeiten bekommen. Sie haben Ersatzstrategien entwickelt, um mit diesen Defiziten umzugehen. Beispielsweise können intelligente autistische Kinder und Jugendliche soziale Regeln erlernen, etwa wie man sich bei Geburtstagen oder Familienfeiern allgemein verhält. Oder dass man Gesprächspartnern in die Augen schaut, weil das Wegschauen üblicherweise als Unhöflichkeit oder Desinteresse interpretiert wird.
Zum Zeitpunkt der „offiziellen“ Diagnose leben die Betreffenden meist schon viele Jahre mit ihrer Störung. Ihre Kompensationsstrategien sind bisweilen so gut gelungen, dass das Ausmaß ihrer Schwierigkeiten nicht ohne weiteres erkennbar ist. Vielleicht wirkt der soziale Kontakt etwas unbeholfen, aber mehr wird von Außenstehenden oft gar nicht wahrgenommen. Manche Betroffenen haben sogar Leitungsfunktionen im mittleren oder höheren Management erreicht.
Je stärker sie aber an ihrem Arbeitsplatz auch Aufgaben in der Personalführung zugewiesen bekommen und je stärker ihnen Flexibilität abverlangt wird, umso eher werden Überforderungen deutlich, die auf die autistischen Kernsymptome zurückzuführen sind. Die Betreffenden beklagen, dass die vielen Begegnungen, zu denen sie während des Arbeitstages gezwungen sind, für sie sehr anstrengend und kräftezehrend sind. „Ich vermute, dass ich deshalb so fertig bin, weil jegliche soziale Interaktion während der Arbeitszeit meine ganze Energie verbraucht“, klagt ein Betroffener.
Die Kernschwierigkeit bei sozialen Begegnungen betrifft das „Mentalisieren“, das „Sichhineinversetzen“ in die Innenwelt von anderen. Dabei gehen wir ganz natürlich davon aus, dass jeder Mensch über eine solche Innenwelt verfügt. Erstaunlicherweise ist diese intuitive Einsicht für autistische Menschen nicht selbstverständlich. Viele haben oft erst in der späten Kindheit oder in der Jugend zum ersten Mal einen Eindruck davon, dass andere Menschen ein inneres Erleben, Gefühle und Gedanken haben. So beschreibt der Schriftsteller Axel Brauns, dass er mit 15 Jahren zum ersten Mal darüber nachdachte, dass seine Mutter möglicherweise so empfinden könnte wie er selbst und dass sie ihm seitdem nicht mehr als „hohl“ erscheinen konnte. Diese Erkenntnis fiel ihm schwer. Denn wenn die Mutter über ein inneres Erleben verfügte, dann wäre sie ja so wie er – und das erschien ihm kaum vorstellbar.
Den Betreffenden ist oft nicht einsichtig, dass sich Menschen ganz grundlegend von Dingen oder physikalischen Objekten unterscheiden. Dinge folgen in ihrem Verhalten physikalischen Naturgesetzen und sind daher vorhersagbar. Menschen dagegen weisen so etwas wie einen „inneren Kern“ auf, der anderen nicht direkt zugänglich ist. Menschliches Verhalten unterliegt psychologisch nachvollziehbaren Regeln, die aber keine volle Vorhersagbarkeit erlauben.
Eine halbe Stunde für den ersten Eindruck
Im Grunde ist es ja auch wirklich verblüffend, wie selbstverständlich Nichtautisten das innere Erleben anderer Menschen erscheint, obwohl es nicht einsehbar ist. Sie sind auf eine automatische und intuitive Weise darauf eingestellt, einen solchen inneren Kern in einer anderen Person anzunehmen. Sie brauchen nicht erst darüber nachzudenken. Autistische Menschen hingegen müssen im zwischenmenschlichen Kontakt vieles erst mühevoll auslesen, ableiten und „errechnen“.
Das intuitive Erkennen psychischer Verfassungen bei anderen ist für sie zumindest erschwert. Es bleibt ihnen aber ein indirekter Weg: Sie analysieren die Situation und die Kommunikationssignale, die der andere aussendet, und ziehen daraus ihre Schlüsse. Theoretisch gelingt ihnen das recht gut. Erwachsene autistische Personen absolvieren die meisten klassischen Testverfahren zur Mentalisierungsfähigkeit ohne Probleme. Sie erschließen sich die Überzeugungen, Gefühle und Gedanken anderer Menschen mithilfe von oft mühsam erlernten expliziten Regeln und Formeln. In den Testverfahren besteht meist die Möglichkeit, auf diese Fähigkeiten zurückzugreifen, da in den Aufgaben oft eine klar strukturierte soziale Situation beschrieben wird und genügend Zeit zur Lösung zur Verfügung steht.
Jedoch haben autistische Menschen oft große Schwierigkeiten, wenn es darum geht, sich „auf den ersten Blick“ einen Eindruck von ihrem Gegenüber zu verschaffen. Nichtautistische Personen benötigen dazu nicht länger als wenige Sekunden, autistische hingegen vielleicht bis zu einer halben Stunde. Ihre Strategien sind zeitaufwendig. Viele Betroffene berichten, dass sie bewusst simulieren, wie es ihnen selbst in der betreffenden Situation ergehen würde.
Tatsächlich nehmen manche Forscher an, dass wir alle auf diese simulierende Weise das innere Erleben der andern erfassen. Der entscheidende Unterschied ist aber vermutlich der, dass autistische Personen diese Simulationsprozesse bewusst betreiben müssen, während sie bei anderen überwiegend unbewusst und daher schnell ablaufen. Der Autist Marc Segar drückte es so aus: „Autistische Menschen müssen auf wissenschaftliche Weise verstehen, was nichtautistische Menschen schon instinktiv verstanden haben.“
Eine besondere Herausforderung für autistische Menschen sind Situationen, die nicht durch vorgegebene Regeln oder Rollenverständnisse formatiert werden. Die Pausen seien früher immer das „Schlimmste an der Schule“ gewesen, erinnert sich eine Betroffene. Am Arbeitsplatz sind es entsprechend die Mittags- oder Kaffeepausen, in denen die Kollegen beisammensitzen und von ihrem letzten Urlaub erzählen. Autistische Personen versuchen meist, solcherlei „ziellose“ Gespräche zu meiden, und schweigen stattdessen lieber, was natürlich ihre Einsortierung als „Sonderlinge“ begünstigt. Oft genug ist autistischen Menschen der Zweck solcher Smalltalks nicht nachvollziehbar. So erscheint es ihnen schlechthin sinnlos, mit einem Taxifahrer über das Wetter zu reden – schließlich haben beide die Wetterlage unmittelbar vor Augen. Solche Gespräche kommen ihnen als Verschwendung von Zeit und Energie vor. Wozu reden, wenn es eigentlich nichts zu bereden gibt?
Nun sind Begegnungen, in denen Smalltalk erwartet wird, nicht immer zu umgehen. Autistische Erwachsene berichten gelegentlich über interessante Strategien, mit denen sie auch solche Situationen zu meistern versuchen. Dazu werden verschiedene algorithmisch vorgegebene Abläufe entwickelt, die dann standardisiert umgesetzt werden. So machte eine Person die Erfahrung, dass männliche Gesprächspartner ganz überwiegend in ein Gespräch über den lokalen Fußballclub eingebunden werden können, während bei weiblichen ein Kompliment gute Dienste leistet. Der entsprechende Kompliment-Algorithmus: Man schätzt das Alter der Gesprächspartnerin, zieht von diesem Wert einen bestimmten Betrag ab und präsentiert das Resultat dann als geschätztes Alter. Die angesprochene Dame wird dieses „geringe“ Alter als Kompliment erleben können, solange der Schätzwert adäquat war.
Autistische Menschen wissen nicht, warum man lügen sollte
Autistischen Menschen fällt es oft schwer, Freundschaften zu gestalten oder auch nur zu initiieren. Die fehlende Registratur für das Erleben anderer kann auch dazu führen, dass sie erst spät mitbekommen, wenn ihr Gegenüber in schlechter Verfassung ist, und dann nicht angemessen darauf reagieren. Darunter leiden Freundschaften sehr schnell, denn üblicherweise haben Freunde die Erwartung, dass der andere mit zunehmender Dauer der Freundschaft immer besser vorausahnen kann, was in seinem Gegenüber vorgeht, wie dieser sich fühlt, was er sich wünscht.
Wie deutlich geworden sein dürfte, ist die Auseinandersetzung mit hochfunktional autistischen Personen in vielerlei Hinsicht eine besondere Herausforderung. Sie kann aber auch eine besondere Bereicherung und Chance sein. Die wichtigste Aufgabe im Umgang mit autistischen Personen ist, dem anderen menschlich zu begegnen und ihn in seiner Andersartigkeit zu respektieren. Autistische Menschen können sich ein nichtautistisches Leben gar nicht vorstellen. Sie sind schon immer autistisch gewesen und empfinden die Eigenarten ihres Erlebens als Teil von sich selbst. Sie können nicht einfach „das Autistische“ entfernen, um darunter dann die „eigentliche“, autismusfreie Person vorzufinden. Es ist nicht automatisch glückbringend oder wünschenswert, autistisch zu sein. Es muss aber auch nicht zur Verzweiflung führen. Es gibt spezifische Stärken.
Oft entsteht im Umgang mit autistischen Personen ein Eindruck von Arroganz und Besserwisserei, der manchen den Arbeitsplatz kostet. Arroganz wird hier jedoch verwechselt mit einem ungewöhnlichen Maß an Offenheit und Ehrlichkeit. Autistische Menschen lügen in aller Regel nicht. Sie wissen gar nicht, warum überhaupt gelogen werden sollte, weil das Lügen die Dinge nur komplizierter macht, als sie ohnehin schon sind. Selbst wenn eine Äußerung sehr kritisch und vielleicht auch unfreundlich klingt, so geht es doch in aller Regel um die Sache und nicht darum, die kritisierte Person zu kränken.
Autistische Personen sind ferner oft sehr genau. Das ist besonders im Arbeitsalltag eine wünschenswerte Eigenschaft. Genaues Arbeiten kostet zwar Zeit, kann aber dennoch von Vorteil sein, da es Kontrollabläufe reduziert. Eine weitere wertvolle und auch in Freundschaften als angenehm erlebte Eigenschaft autistischer Menschen ist ihre Verlässlichkeit. Einmal vereinbarte Verabredungen werden unbedingt eingehalten.
Als schwierig empfinden Nichtbetroffene den oft stockenden Gesprächsfluss. Plaudern findet nicht statt. Doch womöglich kann man als Nichtautist gerade daraus etwas lernen – zum Beispiel, das Schweigen des anderen nicht gleich als Unhöflichkeit und Missachtung aufzufassen. Schweigen kann eben auch ein Zeichen des Nachdenkens sein, das uns zu neuen Einsichten führt, über die wir uns dann wiederum austauschen können. Manchmal bedeutet Schweigen bloß, dass es aktuell nichts Wichtiges zu sagen gibt.
Kai Vogeley, promovierter Mediziner und Philosoph, ist Psychiatrieprofessor und leitender Oberarzt an der Uniklinik Köln. Unter seiner Verantwortung steht dort auch die Spezialambulanz „Autismus im Erwachsenenalter“. Daneben leitet Vogeley die Arbeitsgruppe „Soziale Kognition“ am Forschungszentrum Jülich.
Hinweis: Dieser Text ist ein redaktionell bearbeiteter Auszug aus Vogeleys Buch Anders sein. Asperger-Syndrom und Hochfunktionaler Autismus im Erwachsenenalter – Ein Ratgeber (Beltz, Weinheim 2012, V 26,95).
Quellen
Aus dem Reader Risse im Universum – Studien, Materialien und Quellen, herausgegeben von Aspies e.V. Weidler, Berlin 2010
Axel Brauns: Buntschatten und Fledermäuse. Mein Leben in einer anderen Welt. Goldmann, München 2004
Marc Segar: A survival guide for people with Asperger syndrome.
Christine Preißmann: … und dass jeden Tag Weihnachten wär‘. Wünsche und Gedanken einer jungen Frau mit Asperger-Syndrom. Weidler, Berlin 2005