Späte Scheidung

Lange ging man davon aus: Alte Liebe rostet nicht. Paare, die seit vielen Jahren zusammen sind, trennen sich nicht. Doch diese Gewissheit stimmt nicht mehr

Die Illustration zeigt eine Frau und einen Mann, die jeweils auf einer Eisscholle im offenen Meer getrennt voneinander stehen. Der Mann hat seine Koffer gepackt, weil er nach langjähriger Ehe auszieht.
Alte Liebe rostet doch! Eine langjährige Ehe ist (heute) kein Hindernis mehr für eine Scheidung. © Marta Pieczonko für Psychologie Heute

An die Möglichkeit einer Scheidung hatte Maren Köhler nie gedacht. Es stand für sie außer Frage, dass sie mit ihrem Mann Klaus zusammenbleiben wollte. Schließlich waren sie seit fünfundzwanzig Jahren durch dick und dünn gegangen und galten im Freundeskreis als Vorzeigepaar. Bis herauskam, dass er schon viele Jahre eine Geliebte hatte und diese auf keinen Fall aufgeben wollte. Plötzlich musste sie sich eingestehen, dass sie sich einiges schöngeredet und vieles ausgeblendet hatte. Bei Lichte betrachtet,…

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sich eingestehen, dass sie sich einiges schöngeredet und vieles ausgeblendet hatte. Bei Lichte betrachtet, hatten sie sich als Paar schon länger aus den Augen verloren. Nach einer zermürbenden Phase endloser Beziehungsgespräche beschloss Maren Köhler, die Scheidung einzureichen und sich mit 53 Jahren ein neues Leben aufzubauen.

Dass Paare sich auch nach der Silberhochzeit und neuerdings sogar auch noch nach fünfzig gemeinsamen Jahren trennen – wie jüngst als prominentes Beispiel Lothar Späth, der ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg –, ist ein relativ neues Phänomen. Von 1975 bis 2005 hat sich die Zahl der Trennungen nach mehr als 26 Jahren Ehe mehr als verdoppelt und steigt seitdem weiter an. In der deutschen Scheidungsstatistik wird vom zweiten späten Scheidungsgipfel gesprochen. Die erste große Trennungswelle in deutschen Großstädten kommt nach vier Ehejahren, die zweite nach fünfundzwanzig und die dritte nach der goldenen Hochzeit. Die Rate der „späten Scheidungen“ steuert auf eine Größenordnung von einem Fünftel aller Scheidungen zu. „Männer arrangieren sich oft mit einer unerfüllten Ehe. Frauen wollen klare Verhältnisse“, sagt Insa Fooken, Professorin am Arbeitsbereich Interdisziplinäre Alternswissenschaft der Universität Frankfurt. Noch reichen deutlich mehr Frauen nach langer Ehe die Scheidung ein, aber die Männer holen auf.

Fooken hat eine empirische Studie zu Scheidungen nach 25 Ehejahren vorgelegt und mit ihrem Team 122 spät geschiedene Paare aus drei unterschiedlichen Geburtsjahrgängen (1930, 1940, 1950) ausführlich befragt. Bei den Erklärungsmodellen, die die Interviewten für das Scheitern ihrer Ehe anboten, unterscheidet die Psychologin zwischen drei Varianten:

Abrupter Konsensbruch. Ohne Vorwarnung habe der Partner aus heiterem Himmel das gemeinsame Boot verlassen und die Beziehung verraten.

Trügerische Konsensillusion. Die sich andeutenden Dissonanzen und Unvereinbarkeiten wollte man nicht wahrhaben, habe sie lange verdrängt und schließlich doch erkannt und daraus Konsequenzen gezogen.

Langjähriger Dissens. Von Anfang an sei die Ehe unbefriedigend gewesen. Man habe sich nie wirklich vom Partner wertgeschätzt gefühlt, sich aber wegen eigener Selbstwertprobleme und moralischer Bedenken lange nicht getraut zu gehen.

Für Insa Fooken war besonders interessant zu erkennen, wie stark die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte die Paardynamik bestimmt und elterliche Aufträge vor allem die Ehen der in den vierziger Jahren geborenen Paare beeinflusst haben. Die Delegation der Eltern lautete: Glücklicherweise habt ihr vom Krieg nichts mitbekommen, ihr wart ja noch Kinder. Deshalb müsst ihr jetzt die Welt ganz schnell wieder heilmachen und tüchtig und diszipliniert leben. „Diese Generation hat sehr jung geheiratet und nie reflektiert, wen heirate ich und warum. Man ging tanzen, verlobte sich, wurde ungewollt schwanger, bekam Druck von den Eltern und war plötzlich verheiratet mit einem Partner, den man praktisch nicht kannte.“

Der Tod der Mutter: Erlaubnis zur Trennung

Erst wunderte sich die Psychologin, warum viele befragte Paare trotz langem, als „schwer erträglich“ beschriebenem Unglück erst nach dreißig oder vierzig Jahren einen Schlussstrich unter die Misere zogen. Als sie die Interviews mit den erhobenen Familiendaten verglich, wurde ihr klar, dass vor allem die Frauen, aber auch Männer gewartet hatten, bis die alte Mutter gestorben war. „Als die Tugendwächterinnen tot waren, konnten sie zum ersten Mal ohne den Druck der familiären Moral auf ihre Ehe schauen und sich fragen, wie geht es mir eigentlich mit diesem Mann, mit dieser Frau? Wer bin ich überhaupt? Wie stelle ich mir mein Leben vor? Will ich so weiterleben?“

Die Auslöser für späte Trennungen, glaubt Insa Fooken, sind eher individuell, schwer zu systematisieren und sagen wenig über die eigentlichen Ursachen aus. Die beste Freundin trennt sich von ihrem Mann. Und dann erscheint plötzlich die eigene Ehe in einem düsteren Licht. Die Tochter lebt ein ganz anderes, lebendigeres Beziehungsmodell mit viel mehr Freiheit, das bedrohlich, aber auch attraktiv erscheint und eigene Fantasien anregt. In der Zeitung fällt der Blick auf einen Artikel über unglückliche Liebe, und plötzlich zerbricht innerlich etwas. Ein runder Geburtstag stürzt einen in tiefe Melancholie, und auf dem Grund lauert die Frage: Soll es das gewesen sein? Die Kinder ziehen aus, und das Haus erscheint gespenstisch leer. Die Partnerin geht in Rente, und die Vorstellung, 24 Stunden am Tag mit ihr zusammen zu sein, fühlt sich schrecklich an.

Will ich noch zwanzig Jahre in der Beziehung bleiben

Wann der kritische Blick auf die Beziehung beginnt, ist schwer eindeutig auszumachen. Viel seltener, als gemeinhin angenommen, ist der Auszug der erwachsenen Kinder der Auslöser. Selbst bei Paaren, die mit bescheidenen Erwartungen an die Ehe gegangen sind, werden plötzlich Wünsche wach, die lange dem Diktat des Funktionierenmüssens untergeordnet wurden. Wünsche nach Zärtlichkeit, Erotik, Freiraum, eigener Entwicklung und Kreativität. Auch traumatische Erlebnisse aus der Kriegszeit spielen eine Rolle bei späten Trennungen. Lange schlummern sie gut verdrängt im seelischen Untergrund, irgendwann brechen sie auf, und auf einmal geht nichts mehr mit dem Partner.

Bei aller Individualität der Trennungsmotive, der Trend zur späten Scheidung ist auch ein Reflex auf neue Rahmenbedingungen und ein verändertes gesellschaftliches Klima. Scheidung ist zumindest in Großstädten kein Stigma mehr. Kinder sind nicht in jedem Fall ein zwingender Grund, eine unglückliche Beziehung aufrechtzuerhalten. Es gibt genügend Beispiele von Familien, die nach einer Scheidung miteinander verbunden bleiben. Eine Trennung, so bedrohlich und schmerzhaft sie sein mag, ist nicht mehr die große Lebenskatastrophe, das wird manchen erst nach dreißig, vierzig Jahren Ehe klar. Die gestiegene Lebenserwartung spielt ebenfalls eine Rolle. Mit 65 hat man statistisch noch eine Lebenserwartung von zwanzig Jahren. „Da kann man sich schon fragen, will ich noch zwanzig Jahre in dieser Beziehung bleiben? Oder kann ich sie beenden? Und was passiert dann?“, meint Insa Fooken.

Ob eine Scheidung den ersehnten Aufbruch in ein neues Leben bringt, hängt – so paradox es klingt – wesentlich davon ab, ob ein Paar auch auf gute gemeinsame Jahre zurückblickt. Die Einschätzung, von vornherein den falschen Partner gewählt und den Absprung verpasst zu haben, schwächt den Selbstwert und macht eine Art Katergefühl. Keine gute Basis für einen Aufbruch in neues Leben, ob allein oder mit neuem Partner. Besser haben es die Paare, die sagen können: „Wir hatten fünfzehn gute Jahre, aber dann haben wir uns in unterschiedliche Richtungen entwickelt.“

Werfen Paare zu früh das Handtuch?

Und dennoch darf man sich nichts vormachen. Eine Trennung nach langen gemeinsamen Jahren ist immer traurig und schmerzhaft. Die Hamburger Paartherapeuten Ulla Holm und Michael Cöllen, die überwiegend mit älteren Paaren arbeiten, plädieren deshalb leidenschaftlich dafür, um die Liebe zu kämpfen. Eine dauerhafte Beziehung biete große Entwicklungs- und Reifungschancen für beide. „Wenn wir an kritischen Stellen davonlaufen, wachsen wir nicht weiter, sondern kehren mit dem nächsten Partner immer an dieselbe Bruchstelle zurück“, gibt Michael Cöllen zu bedenken.

Natürlich gebe es Grenzen. Bei Alkoholmissbrauch, Gewalt, ständiger Untreue und permanent eskalierenden, destruktiven Streitereien sei eine Trennung ein Akt seelischer Notwehr, um die eigene Gesundheit zu retten. Oft jedoch, glaubt Ulla Holm, werfen Paare zu früh das Handtuch. Immer wieder erlebt sie in ihrer Praxis Paare, die nach fünfundzwanzig Jahren das Gefühl haben, dass sie alles ausgeschöpft haben und die Beziehung am Ende ist. „Oft sind da viele Enttäuschungen, Kränkungen, Verkrustungen und Wut. Wenn es uns gelingt, mit dem Paar gemeinsam da ranzugehen, blüht plötzlich für beide überraschend noch mal etwas Neues auf. Eine neue Tiefe in der Begegnung wird möglich, auch eine neue Lust in der Erotik, die für beide sehr erfüllend werden kann.“

Insa Fooken glaubt, dass wir neue Beziehungsformen brauchen, die verbindlich sind und gleichzeitig berücksichtigen, dass beide Partner sich verändern, entwickeln und neue Erfahrungen machen, nicht immer gleichzeitig. Wie kann eine langjährige Partnerschaft immer wieder neu synchronisiert und orchestriert werden? Wie können Nähe und Distanz neu ausgehandelt werden auf der Basis langer Gemeinsamkeit? Macht jeder vielleicht mehr allein, und man einigt sich auf gemeinsame Zeiten, die intensiv gestaltet werden? Wie kann eine Erotik aussehen, die nicht mehr so stürmisch ist wie am Anfang, aber dennoch befriedigend?

Michael Cöllen und Ulla Holm empfehlen älteren Paaren, sich mit der Psychologie der Liebe zu beschäftigen. „Paare müssen lernen, Wertschätzung und Zärtlichkeit auszudrücken, und stärkende Rituale für den Alltag entwickeln. Die Liebesfähigkeit stellt sich nicht von selbst ein, wir müssen sie ein Leben lang trainieren. Dann kann eine lange Ehe ein wunderbarer Wachstumsraum für beide sein.“

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2016: Mitten im Leben