Sternenhafte Unerreichbarkeit

Rückblickend sinniert unsere Kolumnistin über ihre pubertäre Schwärmerei für Morten Harket von a-ha.

Die Illustration zeigt ein Mädchen, welches von Morten Harket schwärmt.
Das pubertäre Ich von Mariana Leky schwärmt von Morten Harket. © Elke Ehninger

Meine Mutter entrümpelt ihr Haus und drückt mir eine Kiste in die Arme, auf der „Kindersachen“ steht. Ich vermute Playmobil, aber die Kiste ist bis zum Rand voll mit Morten Harket.

Falls es irgendjemand unvorstellbarerweise nicht wissen sollte: Morten Harket ist der Sänger der norwegischen Popband a-ha, die in den 1980er Jahren Furore machte. Sie mach­te auch in mir Furore. Ich weiß nicht mehr, wie es anfing, aber als Dreizehnjährige war ich überzeugt, dass Morten Harket die Liebe meines Lebens sei. Ich…

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Dreizehnjährige war ich überzeugt, dass Morten Harket die Liebe meines Lebens sei. Ich schrieb täglich mindestens ein Gedicht über ihn (oft kam irgendwas mit „sternenhafter Unerreichbarkeit“ darin vor), als Dank dafür, dass er seine Lieder für mich schrieb, aus denen, fand ich, ein absolutes Verständnis für mein Seelenleben sprach.

Das Gute an sternenhafter Unerreichbarkeit ist, dass sich ein Unerreichbarer nicht danebenbenehmen kann, und so einer ist Gold wert in einer Zeit, in der sich das meines pubertären Erachtens völlig überschätzte wirkliche Leben gründlich danebenbenahm (Mathe benahm sich durch Unverständlichkeit daneben, meine Ursprungsfamilie allein dadurch, dass sie vorhanden war, und mein Körper durch Pummel- und Pickligkeit). Mein Selbstbewusstsein, in meinem wirklichen dreizehnjährigen Leben stecknadelkopfgroß, nahm in der Seelenverwandtschaft zu Morten Harket imposante Ausmaße an. Gleichmütig nahm ich es hin, als die Bravo meldete, Morten Harket habe jetzt eine Beziehung. Was blieb ihm auch übrig, dem armen Tropf. Er kannte mich ja nicht. Wenn er mich kennen würde, da war ich sicher, würde er sich für mich entscheiden. Selten waren Irrealiskonstruktionen ein so verlässliches Fundament für Glück.

Autofahrt mit einem Psychoanalytiker

Jeden Tag, sobald ich aus der Schule kam, beschallte ich mein Elternhaus mit a-ha und meiner Seelenverwandtschaft mit Morten Harket. Mein jüngerer Bruder flüchtete sich ins Stockholmsyndrom und begann, alle a-ha-Lieder mitzusingen. Das hatte zur Folge, dass auch sein Beo in kürzester Zeit alle Songs mitsingen konnte. Meine Mutter wurde also vierstimmig beschallt: Es sangen gleichzeitig Morten Harket, mein Bruder, der Vogel und ich.

Egal was meine Mutter gerade tat, ob sie Königsberger Klopse oder Schulpflegschaftsversammlungen vorbereitete, Wän­de verputzte, Fahrräder reparierte, Läuse auskämmte oder meinem Bruder Grundrechenarten beizubringen versuchte: Ich stand mit Sicherheit daneben und erläuterte ihr die innere und äußere Schönheit Morten Harkets oder trug ihr ergriffen meinen neuesten Übersetzungsversuch des Megahits Take On Me vor. Meine Mutter nickte ergeben zu allem, was ich von mir gab, am Ende meiner Ausführungen schielte sie vor Erschöpfung.

Ich erinnere mich, dass der tapfere Langmut meiner Mutter nur einmal ins Wanken geriet: Wir fuhren mit meinem Onkel, einem Psychoanalytiker, im Auto zu einem Familienfest, und natürlich lief a-ha, und ich erinnere mich, dass meine seit Monaten beschallte Mutter schwächelte und sagte: „Entschuldigung, aber ich kann es einfach nicht mehr hören.“ Sie drehte die Musik leiser. „Ich finde dieses Gedudel auch etwas anstrengend“, sagte mein Onkel, „wie heißt der Sänger noch mal? Shorty Basket?“

Ich war empört, meine Mutter lächelte meinen Onkel dankbar an, und mein Onkel erklärte ungebeten, warum die Sache mit Shorty Basket wichtig für meine emotionale Entwicklung sei. So eine fluffige Schwärmerei, sagte er, sei wie ein Übungs­platz für Liebe. Ich könne im geschützten Raum meiner Fantasie Gefühle ausprobieren, ohne dass sie durch Ablehnung Schaden nähmen. Zügellos könne ich vor mich hinlieben, weil Shorty Basket, der arme Tropf, sich samt seiner Unerreichbarkeit dafür hinhalten müsse, und so könne ich mit gut trainierten Emotionen später in die eher unfluffige Realität erreichbarer Liebe hinausschreiten.

Ich verstand kein Wort. Meine Mutter fragte: „Können wir trotzdem was anderes hören? Hannes Wader zum Beispiel?“

Einen Schlafwandler wecken

Zweiunddreißig Jahre später, nämlich jetzt, sitze ich vor der Kiste voller alter mutmaßlicher Seelenverwandtschaft und sage zu meiner Mutter: „Das kann alles ins Altpapier.“ Meine Mutter ist nicht besonders gut im Entsorgen, vor allem nicht im Entsorgen alter Liebesübungsplätze, deshalb ist sie ein bisschen wehmütig. „Er hatte eigentlich eine sehr schöne Stimme“, sagt sie.

Meine Mutter und ich erinnern uns da­ran, dass ich kurz vor meinem 14. Geburtstag meine Mutter mit der neuesten Bravo bestürmte, in der stand, dass man sich für ein Treffen mit Morten Harket bewerben könne. Meine Mutter schaute mich an, als hätte ich verkündet, mir eine Packung Roth-Händle oder eine Tätowierung besorgt zu haben, und sagte: „Auf gar keinen Fall.“

„Warum eigentlich nicht?“, frage ich, während ich die vergilbten Poster zurück in ihre Kiste packe. „Weil das Ganze von seiner sternenhaften Unerreichbarkeit leb­te“, sagt meine Mutter ernst, und dass es verheerend sein kann, wenn ein mit Projektionen überladenes Gespenst plötzlich im wirklichen Leben steht. Das sei, sagt sie, als würde man einen Schlafwandler wecken.

Vielleicht wird deshalb auf Konzerten so viel gekreischt und in Ohnmacht gefallen: Weil es das ist, was man tut, wenn man ein Gespenst sieht.

Meine Mutter und ich bringen Morten Harket und einiges andere in Container, darüber wird es spät, wir gehen schlafen. In der Nacht wache ich auf, weil ich Geräusche aus der Küche höre, leises Singen und Geklapper. Entweder, denke ich, hantiert in der Küche ein unentsorgtes Gespenst herum, oder meine Mutter kocht etwas vor. Das tut sie manchmal, wenn sie nicht schlafen kann.

Ich öffne die Küchentür. Meine Mutter steht da, rollt einen Teig aus und singt leise: „Take on me.“

Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heuteschreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn ­Psychoanalytiker

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2020: Bilder der Kindheit