Im Film Die Wohnung erzählt der israelische Dokumentarfilmer Arnon Goldfinger die Geschichte seiner Großmutter Gerda. Nach deren Tod ist es seine Aufgabe, ihre Wohnung leerzuräumen. Als er alte Fotos und Briefe durchsieht, stößt er auf ein streng gehütetes Familiengeheimnis: Seine jüdischen Großeltern, die Deutschland wegen der Nazis verlassen mussten, waren über Jahre hinweg eng mit einem SS-Offizier befreundet – ein Schock für den Enkel. Wie ein Detektiv erforscht er die Biografie seiner Familie und sagt…
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ein Schock für den Enkel. Wie ein Detektiv erforscht er die Biografie seiner Familie und sagt am Ende über diese Reise: „Zunächst dachte ich ja, dass die Eigenart meiner Familie, über die Vergangenheit kein Wort zu verlieren, einzigartig sei. Doch seit der Film gezeigt wird, sehe ich, dass Menschen ihn mit Fragen an ihre eigenen Eltern verlassen, die sie offensichtlich nie gestellt haben. Oder dass andere sich darüber bewusstwerden, ihren Kindern bisher wichtige Dinge verschwiegen zu haben. Das hat für einige Gespräche zwischen den Generationen gesorgt.“
Unzählige Filme und Romane beziehen ihre Spannung aus einem „dunklen Familiengeheimnis“ und üben damit eine große Anziehungskraft auf das Publikum aus. Die besondere Dynamik entsteht dabei aus der Psychologie der Beteiligten: Wer weiß was, welchen Details können die Uneingeweihten auf die Spur kommen, wie gehen die verstrickten Personen mit Schuld- oder Rachegefühlen um? Warum ist es so schwer, mit einem Geheimnis zu leben? Und nicht zuletzt: Können aktuelle Probleme, psychische Störungen oder gar Verbrechen aus diesem Geheimnis erklärt werden?
Familiengeheimnisse lassen sich nicht nur auf der Kinoleinwand beobachten. Es gibt sie, ob nun dunkel und abgründig oder etwas weniger dramatisch, auch in der Realität. Bei Jana Meyer (Name geändert) überlagerten sich gleich drei Familiengeheimnisse. Die junge Patientin kam in die familientherapeutische Ambulanz Göttingen, weil sie unter unerklärlichen Ängsten litt. Veränderungen und alles Neue lösten bei der Studentin gelegentlich sogar Panikattacken aus. Zudem war sie kaum in der Lage, sich von ihrem Elternhaus zu lösen. Im Laufe der Therapie wurde aufgedeckt, dass ihre Mutter eine Totgeburt erlitten hatte, als Jana Meyer selbst noch ein Kind war. Die Beerdigung der Schwester wurde ebenso verheimlicht wie der Suizid eines Onkels und die psychische Erkrankung einer Tante, die immer dann „im Urlaub“ war, wenn sich die Aufenthalte in der Psychiatrie nicht mehr völlig geheim halten ließen. Der Onkel wurde in der Familie nach seinem Tod mit keinem Wort mehr erwähnt. So verstrickten sich ihre Eltern immer weiter in ein ausgeklügeltes System von Lügen, Halbwahrheiten und Beschwichtigungen: Es entstand eine familiäre Kultur des Verschweigens.
„Die Patientin hatte zeitlebens den Eindruck, in dieser Familie nicht auf sicherem Boden zu stehen, ein Grundgefühl des Unheimlichen, das sich nie greifen ließ. Vieles schien seltsam und verstärkte das Gefühl, auf die Familie aufpassen zu müssen, obwohl die Patientin nicht wusste, warum“, berichtet der Psychoanalytiker Günter Reich, Leiter der Ambulanz für Familientherapie in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Göttingen. Für die Eltern von Jana Meyer war das Verheimlichen und Vertuschen eine Bewältigungsstrategie, um mit den für sie enormen Belastungen umzugehen. Einerseits schämten sie sich, fürchteten eine Stigmatisierung; zudem sorgten sie sich um ihre Tochter und wollten ihr dieses quälende Wissen ersparen. Wie sich jedoch später zeigte, hatte gerade das Nichtgesagte, das Verschwiegene enorme Konsequenzen für Jana Meyer: Sie litt darunter noch als Erwachsene.
In gravierenden Fällen können solche Geheimnisse das Familienleben über mehrere Generationen hinweg überschatten. Oft spüren die Nichteingeweihten nämlich, dass bei diesem einen Thema etwas nicht stimmt, dass etwas im Verborgenen brodelt. Denn vollständig geheim halten lassen sich die Dinge meist nicht. Was aus Sicht des Geheimnisträgers dem eigenen Schutz dient und ein Akt der Autonomie ist, bedeutet für die anderen Lüge, Betrug, Verrat. Richtig unangenehm wird die Situation, wenn das Rätsel von Dritten aufgelöst wird – wie im Fall von Jana Meyer: Ein Nachbar erzählte ihr vom Grab der tot geborenen Schwester.
Psychologen haben in den vergangenen Jahren einige typische Familiengeheimnisse untersucht. In der Regel werden gesellschaftlich tabuisierte Begebenheiten verschwiegen; sie offenzulegen ist mit Scham und Furcht vor sozialer Stigmatisierung verbunden. Diese Geheimnisse „machen deutlich, was in einer Kultur Wert hat und was stigmatisiert wird. Die häufigsten Inhalte von Familiengeheimnissen kreisen um sexuelle Themen: verheimlichen des leiblichen Vaters eines Kindes, ungewollte Schwangerschaften, Abtreibungen, Weggeben von Kindern, Adoption, Homosexualität, Inzest, sexuelle Gewalt, in letzter Zeit auch künstliche Befruchtung“, berichtet die Psychotherapeutin Gini Leila Baxa.
Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg sind nach wie vor stark tabuisiert
Die zweithäufigsten Themen sind Suchtprobleme, insbesondere Alkoholismus. Auch Gewalt tritt zunehmend häufiger als Inhalt von Familiengeheimnissen auf. Zudem sind gravierende medizinische oder psychiatrische Diagnosen, oder Aufenthalte in der Psychiatrie häufig Tabuthemen. Gerade in Deutschland und Israel gehören zudem immer noch Erlebnisse und Taten aus dem Zweiten Weltkrieg dazu – sowohl auf der Täter- als auch auf der Opferseite. Wie stark das noch die Generation der Enkel und Urenkel betreffen kann, zeigt Goldfingers Film.
Beispiel Reproduktionsmedizin: Mit den verbesserten technischen Möglichkeiten gehen immer mehr Kinder aus anonymen Samen- oder Eispenden hervor. Allein in den USA entstehen laut Expertenschätzungen jährlich rund 60 00 Säuglinge auf diesem Weg; seit den Anfängen wurden dort rund eine Million Kinder im Labor gezeugt. In Deutschland leben etwa 100 00 Kinder aus anonymen Samenspenden, doch nur fünf bis zehn Prozent wissen laut Expertenschätzungen davon. Roni Berger ist Professorin für soziale Arbeit und Traumaspezialistin an der Adelphi University in der Nähe von New York. In einer Studie untersuchte sie rund 70 junge Erwachsene, die aus einer künstlichen Befruchtung hervorgegangen waren, und deren Eltern. Beide Seiten schätzten per Fragebogen den Zustand des Familienlebens ein. Dabei zeigte sich, dass die Eltern – vor allem die Väter – das heikle Thema der künstlichen Befruchtung deutlich mieden. Je hartnäckiger sie der Angelegenheit auswichen, desto negativer waren die Konsequenzen. „Je offener die Eltern mit dem Thema umgingen, umso besser für das Funktionieren der Familie“, berichtet Berger.
Beispiel Suizid: Albert Cain ist emeritierter Psychologieprofessor der University of Michigan, ihn interessieren Familiengeheimnisse vor allem aus psychiatrischer Sicht. Er hat die Auswirkungen eines elterlichen Suizids auf die betroffenen Kinder und deren Übertragung dieser traumatischen Erfahrung auf die nächste Generation untersucht. Cain wollte wissen, wie erwachsene Kinder von Selbstmördern ihre Erfahrungen wiederum an ihren Nachwuchs weitergeben. Dabei stieß er – neben anderen negativen Mustern wie düsteren Erwartungen und Schamgefühlen – auch auf verschiedene Wege, um die Tat als Familiengeheimnis zu verheimlichen. Cains Fazit: Über Suizid wird bis heute nicht offen gesprochen.
Auch Peter Rober, klinischer Psychologe und Familientherapeut an der Universität Leuven in Belgien, ist diesem Thema auf der Spur. Gemeinsam mit anderen Familientherapeuten analysierte er den niederländischen Film Familiegeheim von Jaap van Hoewijk. Darin geht der Regisseur dem Suizid seines Vaters nach – und der Frage, wie diese Tat verschwiegen wurde. „Unsere Analyse zeigt die komplexen Wege, wie Familien mit sensiblen Themen wie Verlust, Trauer und Suizid umgehen“, berichtet Rober. Der Film konzentriere sich allerdings einseitig auf die destruktiven Wirkungen, die das Verschweigen heikler familienbiografischer Informationen haben kann. Das sei zwar aus Sicht eines Betroffenen verständlich, die Forscher schlagen dennoch als Alternative das Konzept der „selektiven Enthüllung“ vor. Dabei werde zumindest der Kern der Wahrheit offenbart, aber nicht unbedingt alle Details und auch nicht unbedingt für alle Familienmitglieder. Dieses Vorgehen berücksichtige die vielschichtigen Prozesse, die beim Zwiespalt zwischen dem Teilen von Informationen einerseits und dem Geheimhalten andererseits entstehen. „Es fokussiert nicht nur auf die Destruktivität von Geheimnissen, sondern wertschätzt auch die Vorsicht, die Familien walten lassen, wenn es um sensible familiäre Themen geht“, erklärt Rober.
Völlige Offenheit sei eben nicht immer angezeigt, es könne durchaus geboten sein, nicht allen alles zu erzählen und genau zu überlegen, wer welche Informationen bekommen soll. Wie bei der jungen Studentin Jana Meyer: Ihre Eltern hätten nicht jedes Detail mit ihr teilen müssen. Sie hätten jedoch abwägen können, wie wichtig welche Informationen für ihre Tochter waren und was die Aufdeckung bewirken würde (siehe auch Interview mit Günter Reich auf Seite 68).
Für eine selektive Enthüllung spricht auch, dass die dosierte Weitergabe von Wissen entspannend auf die Dynamik in einer Familie wirken kann. Das haben Wissenschaftler um Tamara Afifi von der University of Iowa in zwei Studien belegt. Afifi und ihre Kollegen zeigten, dass diejenigen, die etwas für sich behalten, meist aus einem Schutzbedürfnis heraus handeln: Sie wollen Schaden von sich und anderen abwenden. Das gilt vor allem, wenn sie fürchten, die Wahrheit könnte sie selbst oder andere verletzen. Allerdings verlieren die Geheimnisträger auf diese Weise das Gefühl, die Kommunikationshoheit zu besitzen – also die Freiheit, offen über die Angelegenheit sprechen zu können.
Familiengeheimnisse sind nicht nur ein individuelles Symptom
Die Forschung geht das Thema nicht nur inhaltlich aus unterschiedlichen Perspektiven an, sondern auch methodisch: psychoanalytisch, psychiatrisch und familientherapeutisch. Und auch der Blickwinkel ist unterschiedlich. So behandeln die meisten Wissenschaftler das Thema aus individualistischer Sicht, gehen also der Frage nach, wie die betroffenen Personen mit dem Geheimnis umgehen und welche Folgen das auf die Beteiligten hat. Doch neuerdings regt der israelische Forscher Yariv Orgad an, Familiengeheimnisse auch auf einer breiteren Basis zu analysieren. Orgad beschäftigt sich mit dem Thema vor allem aus Sicht von Holocaust-Überlebenden und betont, dass Familiengeheimnisse auf drei Ebenen funktionieren: zunächst auf der Makroebene der Kultur, die immer mit vorgibt, worüber gesprochen werden darf und was besser unter dem Mantel des Schweigens verborgen bleibt. Auf der mittleren Ebene liegt die Dynamik im Gesamtsystem der einzelnen Familie. Und schließlich bestimmt die Mikroebene des individuellen Erlebens der Beteiligten den Umgang mit dem Geheimnis.
Orgad regt an, den dialogischen Prozessen auf diesen Ebenen, die am Ende die jeweilige Form der Geheimhaltung hervorbringen, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Wie das funktionieren kann, zeigt er am Roman Unser Holocaust von Amir Gutfreund – in dem Makro-, Meso- und Mikroebene auf komplexe Weise verschachtelt sind. Gutfreund zeichnet persönliche Geschichten von Holocaust-Überlebenden auf und demonstriert, wie schwierig es ist, alte Tabus ans Licht zu bringen und in den Familien einen Dialog zu ermöglichen. Je tiefer die Hauptperson in die Geschichten eintaucht, umso mehr abgrundtiefe Verletzungen treten zutage. Wo das Aufdecken eines lange gehüteten Familiengeheimnisses solche enormen psychischen Belastungen für eine Familie bringt, können Familientherapeuten helfen. Und auch dabei ist es hilfreich, die drei Ebenen im Blick zu haben.
Literatur
- John Bradshaw: Familiengeheimnisse. Warum es sich lohnt, ihnen auf die Spur zu kommen. Goldmann, München 2014
- Victor Chu: Lebenslügen und Familiengeheimnisse. Sich selbst erkennen – freier leben. Goldmann, München 2010
- Dorothee Döring: Familiengeheimnisse und Tabus. Wie Sie sich Ihrer Vergangenheit stellen können. Mvg, München 2008
- Günter Reich u.a.: Praxis der psychoanalytischen Familien- und Paartherapie. Kohlhammer, Stuttgart 2007
- Evan Imber-Black: Die Macht des Schweigens. Geheimnisse in der Familie. Klett-Cotta, Stuttgart 1999
Studien:
- Yariv Orgad: The culture of family secrets. Culture sychology, 21/1, 2015, 59–80
- Peter Rober u.a.: In search of a tale they can live with: About loss, family secrets, and selective disclosure. Journal of Marital and Family Therapy, 38/3, 2012, 529–541
- Sandra Petronio: Communication privacy. What do we know about family privacy regulation? Journal of Family Theory & Review, 2/3, 2010, 175–196
- Roni Berger, Marilyn Paul: Family secrets and family functioning: The case of donor assistance. Family Process 47/4, 2008, 553–566
- Albert Cain: Parent suicide: Pathways of effects into the third generation. Psychiatry: Interpersonal and Biological Processes, 69/3, 2006, 204–227
- Tamara D. Afifi u.a.: The chilling effect and family secrets examining the role of self protection, other protection, and communication efficacy. Human Communication Research, 31/4, 2005, 564–598
- Günter Reich: „Das hat es bei uns nie gegeben!“ Familiengeheimnisse und Familienmythen. Kontext, 32, 2001, 5–19