„Ich war zuerst da!“

Viele Erstgeborene kämen gut ohne Geschwister aus. Oft reagieren sie eifersüchtig. Dabei bevorzugen viele Eltern unbewusst ihr erstes Kind.

Ich bin geworden, wie ich bin, weil ich nicht werden wollte wie du.“ Diese Worte richtet Thomas Buddenbrook an seinen Bruder Christian. Das Verhältnis der fiktiven Gebrüder in Buddenbrooks. Verfall einer Familie orientiert sich an Thomas Manns Rivalität mit Heinrich Mann. Obgleich Thomas einen weiteren Bruder hatte, den fünfzehn Jahre jüngeren Viktor, war es der vier Jahre ältere Heinrich, der ihm sein Leben lang zusetzte. So schrieb Thomas in einem Brief, Heinrich sei in höherem Sinne der einzige Bruder,…

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So schrieb Thomas in einem Brief, Heinrich sei in höherem Sinne der einzige Bruder, den er habe. Viktor? Ein feiner Kerl, mit dem keine Rivalität möglich sei. Der Konkurrenz zum Trotz durchbrach gelegentlich emotionale Nähe das schwierige Verhältnis der zwei Literaturtitanen. Vor einer lebensgefährlichen Operation, der Thomas sich im Jahre 1946 unterziehen musste, telegrafierte ihm Heinrich: „Mein geliebter Bruder, Du brauchst Lebensmut, dann gelingt es Dir stop Du bist für Deine großen Zwecke unersetzlich und für Alle, die Dich lieben stop Es gibt da einen, der ohne Dich nicht weiterkönnte stop Dies ist der Moment, Dir meine absolute Zuneigung zu eröffnen.“

Die Ambivalenz ist das auffälligste Merkmal geschwisterlicher Bindungen. Sie scheinen grundsätzlich mit gegensätzlichen Attributen wie Liebe und Hass, Eifersucht und Solidarität, Nähe und Distanz belegt. Dieser Dualismus lässt sich auf zwei zentrale Aufgaben der gemeinsam aufwachsenden Schwestern und Brüder zurückführen. Einerseits gilt es jedem Geschwisterkind, sich in dem sozialen Gefüge der Familie zurechtzufinden und zu behaupten. Andererseits muss es eine Identität formen, die eigene Persönlichkeit definieren. Bei beiden Prozessen können ihm die Geschwister als Ressourcen, aber auch als Risiken begegnen.

Bis vor wenigen Dekaden schenkte die Forschung den Geschwisterbeziehungen wenig Aufmerksamkeit. Lange Zeit galt die Eltern-Kind-Bindung als ausschlaggebend für die Persönlichkeitsentwicklung. Auch machte die Komplexität der geschwisterlichen Konstellationen ihre empirische Untersuchung schwer: „Für jede Schwester und jeden Bruder stellt die Familie ein einzigartig anderes Mikroumfeld dar, das von Alter, körperlicher Kraft, Auffassungsvermögen, Sensibilität, seinen Beziehungen zu den Geschwistern sowie durch die Behandlung seiner Eltern geprägt ist“, sagt die renommierte britische Psychologin Judith Dunn am King’s College London. Doch nicht zuletzt aufgrund der stetigen Verbesserung von Forschungsmethoden eröffnen sich der Wissenschaft zunehmend effizientere Möglichkeiten, Geschwisterbeziehungen zu beleuchten.

So unterteilen Forscher wie die amerikanische Familiensoziologin Ann Goetting und der deutsche Entwicklungspsychologe Hartmut Kasten die gemeinsame Lebensodyssee in drei Phasen:

– In der Kindheit und Jugend, so Goetting, vollziehe sich der Aufbau geschwisterlicher Freundschaft und Kameradschaft. Schwestern und Brüder erweisen einander Gefälligkeiten, halten gegen Dritte zusammen, bisweilen gegen die Eltern.

– Während des frühen und mittleren Erwachsenenalters gehen Geschwister vorerst eigene Wege, schreibt Kasten. Ihre Beziehung tritt zugunsten der eigenen Familien in den Hintergrund. Pflegen Schwestern und Brüder in dieser Phase dennoch engere Kontakte, liegt es an bestimmten Umständen wie der Kinderlosigkeit und geografischen Nähe ihrer Wohnorte. Auch die geschwisterliche Rivalität kann sich im Erwachsenenalter fortsetzen. Bei ihren Versuchen, der Nebenbuhlerschaft empirisch nachzugehen, gelangen Psychologen zu widersprüchlichen Resultaten. Während Forscher wie Victor Cicirelli und Helmut Remschmidt in ihren Studien ein relativ geringes Vorkommen der Rivalität dokumentieren, berichten beispielsweise Victoria Hilkevitch Bedford und Helgola Ross aufgrund unabhängiger Erhebungen, rund drei Viertel ihrer Befragten hegten Konkurrenzgefühle im Erwachsenenalter. Die stark unterschiedlichen Angaben könnten auf kulturell bedingte Tabuisierung zurückgehen: „Gefühle der Geschwisterrivalität sind in westlichen Gesellschaften sozial stigmatisiert“, so Kasten. Das mag die Befragten dazu motivieren, die Frage des Wettkampfes nicht offen zu beantworten.

– Meistens werden die Rivalitäten in der dritten Phase, dem späteren Lebensabschnitt, gemeinsam thematisiert und überwunden, so Goetting. In dieser Periode erfährt die gegenseitige emotionale Unterstützung eine neue Aufwertung. Besonders ein enger Kontakt zu Schwestern ist nun von großem Vorteil: Er verringert Depressionssymptome und fördert auf diese Weise das Wohlbefinden der Geschwister.

So wohltuend und positiv die Geschwisterbande im hohen Alter – so steinig und holprig ist ihr Beginn. Wenn aus einem Einzelkind die ältere Schwester oder der ältere Bruder wird, verwandelt sich das ihnen vertraute Familiengefüge in unbekanntes soziales Terrain. Galt dem Erstgeborenen früher die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Eltern, wird sie ihm nun zum Teil entzogen. Das ältere Kind erleidet ein sogenanntes Entthronungstrauma. Und die Rivalität nimmt ihren Lauf. Der Verlust seiner besonderen Stellung innerhalb der Familie kann zu einem feindseligen, gar aggressiven Verhalten gegenüber dem Neugeborenen führen.

Ist das erste Kind jedoch mindestens vier Jahre älter als das Baby, ist der Konkurrenzkampf generell weniger harsch. Je älter das Erstgeborene, desto weniger Ressourcen gibt es, um die es mit dem Neugeborenen wetteifert. Es kann beispielsweise bereits ohne fremde Hilfe essen und braucht nicht zusehen, wie Mama oder Papa zuerst den Säugling füttert.

Erstgeborene sind Überflieger. Sie besetzen häufiger die Chefsessel als Zweitgeborene

Besonders vorteilhaft trifft es sich, wenn das ältere Geschwisterkind sieben oder acht Jahre alt ist. Dann setzt bei ihm der Trennungsprozess von den Eltern ein – es mag nicht mehr ständig gedrückt und geknuddelt werden. So stört es sich weniger daran, dass ein Neugeborenes vorübergehend mehr Streicheleinheiten und Zuneigungsbekundungen bekommt.

Dabei hat das Erstgeborene theoretisch keinen Grund, verdrossen zu sein, weil die Eltern ihr erstes Kind unbewusst bevorzugen: Da sie zum ersten Mal Mutter und Vater werden, schenken sie ihm intensivere Fürsorge und Aufmerksamkeit als ihrem zweiten oder dritten Kind. Materiell investieren sie stärker in die Zukunft des ersten Nachkommens, schließen bei seiner Geburt häufiger ein Sparbuch für spätere Ausbildungskosten ab, gehen mit ihm öfter zum Arzt, weil sie seine Wehwehchen nicht bereits von anderen Kindern her kennen und einschätzen können. Britische Forscher ermittelten anhand ärztlicher Unterlagen von rund 7900 Kindern: Bei jedem Kind, das nach dem ersten in die Familie schlüpft, sinkt seine Wahrscheinlichkeit, gegen Masern geimpft zu werden, um rund 20 Prozent. Diese Beobachtung – mit variierenden Prozentzahlen – machten auch Forscher in Italien, den USA und Brasilien.

Die Bevorzugung des Erstgeborenen spiegelt sich in zahlreichen weiteren Kleinigkeiten. So beobachtete die Familienforscherin Laurie Kramer von der University of Illinois in Urbana-Champaign, dass in Familien generell weniger Fotos von später geborenem Nachwuchs existieren als vom Erstgeborenen. Dasselbe trifft auf Videoaufnahmen zu. Auch heben Eltern mehr Zeichnungen ihrer ältesten Töchter und Söhne auf. „Die Erstgeborenen zeigen sich unbewusst dankbar, indem sie die Chancen, die Mama und Papa ihnen bieten, ergreifen und Erfolge für sich erzielen“, schreibt Jeffrey Kluger, Autor des Buches The Sibling Effect, das nordamerikanische Studien der Geschwisterforschung vorstellt.

Statistiken geben ihm recht. Sie belegen, dass Erstgeborene häufiger an teuren Universitäten vertreten sind. An der amerikanischen Harvard-Universität zum Beispiel machen sie 66 Prozent aller Studierenden aus. Ähnliche Prozentzahlen finden sich auch unter Inhabern von Anwaltskanzleien und Arztpraxen. Und eine Umfrage von Vistage International, einer internationalen Vereinigung für Unternehmensleiter, zeigt, dass 43 Prozent aller Chefsessel von Erstgeborenen oder Einzelkindern besetzt sind, 33 Prozent der Leitenden sind Zweitgeborene, 23 Prozent sind „mittlere“ Kinder. „Sogar im Weltraum scheinen die Erstgeborenen häufiger vertreten“, so Kluger, der selbst Zweitgeborener ist. „Von den 23 ersten amerikanischen Astronauten waren 21 entweder das erste Kind ihrer Eltern oder ein Einzelkind.”

Um direkte Konkurrenz mit solchen Überfliegern zu meiden, suchen sich die jüngeren Geschwister einzigartige Rollen im Sozialgefüge der Familie, die ihnen höchstmögliche Zuwendung der Eltern sichern. Weil die Nische des Reifen und Strebsamen bereits durch den Erstgeborenen besetzt ist, treten die Jüngeren beispielsweise als extrovertierte Alleinunterhalter in Erscheinung. Erwachsene regelmäßig zu amüsieren trägt Früchte: Als Eltern ist es schwieriger, einem Kind die Aufmerksamkeit zu verweigern, das sie zum Lachen bringt. Das wissen die Kleinen sehr genau – und verfeinern ihre Strategie im Laufe der Kindheit. Hierin liegt der Grund, vermuten Wissenschaftler, wieso Spätergeborene oft als experimentierfreudig, kreativ und sozial kompetent auffallen.

Der wohl bekannteste Forscher der Geburtsreihenfolge und ihrer Implikationen ist der amerikanische Psychologe Frank Sulloway von der University of California in Berkeley. Er sagt, der Geburtsrang sei ein Motor der Geschichte. Der studierte Wissenschaftshistoriker untersuchte die Lebensläufe von 3890 Forschern, die an insgesamt 28 wissenschaftlichen Revolutionen beteiligt waren, daneben auch die von 893 Teilnehmern der Französischen Revolution und 700 Biografien von Frauen sowie Männern aus der Zeit der Reformation. Mit den Regelmäßigkeiten, die Sulloway aufdeckte, erstaunt er seine Leser auch heute – 15 Jahre nach der Publikation seiner Beobachtungen – immer noch. So hält er zum Beispiel fest: In der westlichen Geschichte war die Wahrscheinlichkeit, dass ein Spätergeborener eine politische Revolution vorantreibt, achtzehnmal höher als im Falle eines Erstgeborenen. Während der Reformation wurden Spätergeborene 46-mal häufiger Märtyrer für ihren Glauben. Und in den ersten Dekaden der kopernikanischen Revolution verfochten Spätergeborene fünfmal häufiger die Idee, die Erde bewege sich um die Sonne.

Erstgeborene, so scheint es, rütteln seltener an bestehenden und traditionellen Strukturen –nicht zuletzt weil sie ihrem Wesen entgegenkommen: Die Ältesten der Geschwister treten laut Sulloway stärker durch Gewissenhaftigkeit, Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein sowie Perfektionismus in Erscheinung.

Doch Psychologen wie Kramer warnen vor falschen Rückschlüssen. Allgemeingültige Regeln über den Charakter eines Geschwisterkindes anhand seines Geburtsranges ließen sich aus Sulloways Erkenntnissen nicht formen. Schließlich gebe es zahlreiche andere Variablen, die einflussreicher sein können.

Eine dieser Variablen ist die Möglichkeit eines Geschwisterkindes, mit zunehmendem Alter seine Identität bewusst beeinflussen zu können. Bei diesem essenziellen Entwicklungsschritt dienen ihm die Brüder und Schwestern als wertvolle Abgrenzungsobjekte. Ist der eine Bruder beispielsweise ein Sportass, so wendet der andere sich bewusst dem Musizieren zu. Verbringt die eine Schwester Stunden mit dem Lesen, entscheidet sich die andere lieber für die Freizeit mit ihren Freunden. Wissenschaftler nennen diesen Prozess die Deidentifikation. „Selbst eineiige Zwillinge, die gemeinsam aufwuchsen, schneiden bei Persönlichkeitstests im Schnitt in vielen Bereichen unterschiedlicher ab als früh getrennte Geschwister“, schreibt Jürg Frick von der Pädagogischen Hochschule Zürich.

„So wie du will ich nicht werden.“ Geschwister helfen bei der notwendigen Abgrenzung

Um seine Identität zu finden und sich als eigenständige Person zu definieren, kann das Geschwisterkind aber auch einen anderen Weg einschlagen: Es kann seine Brüder und Schwestern zu Vorbildern erklären, sie nachahmen, ihnen in ihren Interessen nacheifern oder sie zu übertreffen suchen. Die Brüder Mann sind ein Beispiel. Ein anderes sind die Geschwister Sophie Littlefield und Mike Wiecek, zwei erfolgreiche amerikanische Autoren, die einander zum Schreiben animiert haben. Ähnlich motivierten sich auch der Violinist Gil Shaham und seine Schwester, die Pianistin Orli Shaham. Und auch auf dem Gebiet der Psychologie gibt es sie, die Geschwister, die einander für die Disziplin begeistert haben: die renommierte Entwicklungspsychologin Susan Pinker und ihr Bruder, der Bestsellerautor Steven Pinker.

Diese Fälle präsentieren den positiven Einfluss der Geschwister auf die Entwicklung der eigenen Interessen und Vorlieben und somit der eigenen Person. Doch Forscher verzeichnen auch die negativen Konsequenzen der Geschwisternachahmung. So ist die Wahrscheinlichkeit zweimal so groß, dass jüngere Geschwister zum Alkohol greifen, wenn ältere Brüder und Schwestern seinem Konsum frönen. Beim Rauchen ist die Wahrscheinlichkeit gar viermal so groß. Kurzum: Geschwister bergen auch Risiken.

Helfer und Hinderer, Kamerad und Kontrahent –der Dualismus scheint in keiner anderen unserer engen Beziehungen dermaßen ausgeprägt wie in der zwischen Brüdern und Schwestern.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Die Angst vor Nähe: Psychologie Heute 2/2015