Damit die Welt wieder sicher wird

Was tun Menschen, die sich von Ungewissheit bedroht fühlen? Sie igeln sich ein und versuchen einen Schuldigen zu finden.

Hinter verschlossenen Fenstern radikalisieren sie sich in unsicheren Zeiten. © Time//Photocase.de

Herr Professor Lantermann, alle klagen darüber, die Zeiten seien so unsicher. War die reale Bedrohung in vergangenen Jahrzehnten nicht viel größer – Stichwort Kubakrise, Mauerbau, nukleares Wettrüsten?

Während der Kubakrise herrschte in Deutschland tatsächlich die Stimmung: Morgen beginnt der Krieg. Heute haben wir eine andere Situation mit verschiedenen Quellen der Unsicherheit. Zum einen die vielen bedrohlichen Einzelereignisse wie Flüchtlingskrise oder Terroranschläge. Eine andere Quelle ist der…

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vielen bedrohlichen Einzelereignisse wie Flüchtlingskrise oder Terroranschläge. Eine andere Quelle ist der gesellschaftliche Zusammenhalt, der für viele Menschen außerordentlich brüchig geworden ist. Dann die Prekarisierung der Lebensverhältnisse, die immer weiter zunimmt. Hinzu kommt der Druck der Individualisierung. Das sind schleichende Prozesse, die eine eigene Ebene der Unsicherheit erzeugen. Damit kommt man vergleichsweise schlechter zurecht als mit konkreten Problemen. Das führt zu Gefühlen von Unsicherheit und Ungewissheit.

Sie sprechen von Ungewissheit und Unsicherheit. Wo liegt der Unterschied?

Ungewissheit ist lediglich eine Situationsbeschreibung, Unsicherheit bezeichnet dagegen ein Gefühl. Und das entsteht, sobald sich ein Mensch von einer ungewissen Situation bedroht fühlt. Viele können mit Ungewissheit ja sehr gut umgehen, manche genießen das sogar. Aber in unseren Untersuchungen haben wir gesehen: Eine Situation, in der zum Beispiel plötzlich das Geld knapp wird, der Arbeitsplatz bedroht ist, die Beziehung wackelt – das ist für viele ein Angriff auf ihr positives Selbstbild, auf ihre ganze Existenz.

Sie haben in einer Ihrer Untersuchungen, der sogenannten Bauernhofstudie, erforscht, wie Menschen auf Ungewissheit reagieren. Was haben Sie da genau gemacht?

Wir haben am Rechner einen Bauernhof simuliert, einen landwirtschaftlichen Betrieb. Dann haben wir Landwirte ins Labor gebeten. Die Aufgabe hieß: Bewirtschaften Sie diesen Hof über simulierte zehn Jahre. Im Folgenden haben wir kritische Situationen geschaffen. Zum Beispiel dass ein Käfer Teile der Ernte vernichtet. Und dann haben wir beobachtet, welche Rolle die Gefühle bei den Entscheidungen spielen. Manche haben sehr emotional reagiert, etwa mit einem Verhalten, das wir „Einigelung“ genannt haben.

Wie sah das konkret aus?

Einer der Teilnehmer hat sich praktisch vom gesamten Hof innerlich abgekoppelt und sich ausschließlich um ein Teilproblem gekümmert, in diesem Fall um einen kaputten Traktor. Man konzentriert sich nur noch auf ein Detail, das man beherrschen kann, um sein Selbstwertgefühl zurückzuerobern. Das ist eine typische Antwort auf eine Überforderung durch ­komplexe Probleme.

Was geschieht da genau?

Schon sehr früh im Leben steht das positive Bild von der eigenen Person hinter allen anderen Motivationen, die uns zu verschiedensten Handlungen antreiben. Solange dieses Selbstbild stabil ist, sind wir in der Lage, analytisch zu handeln, Probleme und Ungewissheit zu ertragen und zu lösen. Doch wird es an entscheidender Stelle bedroht, wird der ganze Organismus, das ganze System umgeschaltet in „Sicherung des Selbstwertgefühls“. Wir hören auf, intelligent zu sein, und handeln nur noch emotional.

Wie fühlt sich das an?

So, als ginge es ums nackte Überleben. Wir konnten das in unseren Simulationsexperimenten immer wieder beobachten. Da haben erwachsene Menschen geweint, wenn etwas schiefgegangen ist. Die waren völlig verzweifelt. Dabei war das ja nur ein Spiel. Und wenn das bereits in einer experimentellen Situation derart existenziell werden kann, dann kann man erahnen, wie grundlegend so eine Erschütterung im tatsächlichen Leben wirkt.

In Ihrem aktuellen Buch Die radikalisierte Gesellschaft beschreiben Sie, wie Menschen auf so eine Bedrohung reagieren. Es kommt zu einer Art Abwehrmechanismus, den Sie „selbstwertdienliche Unsicherheitsreduktion“ nennen. Man macht sich die Welt einfacher, klarer und übersichtlicher – wie in dem Beispiel mit dem Traktor, das Sie gerade erwähnt haben.

Richtig. Wir alle haben da eine Vielzahl von Strategien erlernt. Aber die Reduktion von Unsicherheit – das ist der Kern vieler Phänomene, die wir heute sehen. Und dahinter steht immer der Wunsch, ein positives Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten, selbst unter dem Druck schleichend ­unsicherer Verhältnisse.

Welche Strategien sind das zum Beispiel?

Eine Strategie nennt man in der Unsicherheitsforschung „Zentralreduktion“. Das meint den Glauben: Alle Probleme in der Welt hängen letztlich mit einer einzigen Ursache zusammen. Und wenn diese Sache gelöst ist, wird die Welt ein guter, sicherer Ort. Eine Variante davon wäre etwa der Wunsch, einen Schuldigen zu finden. Nach dem Motto: Ohne die Flüchtlinge wäre endlich wieder alles in Ordnung. Oder denken Sie an die Sehnsucht nach einer starken Führungspersönlichkeit, die alles richten soll. Vor diesem Hintergrund wundert es mich übrigens nicht, dass ein Mann wie Donald Trump in den USA Präsidentschaftskandidat werden konnte.

Eine andere Strategie ist die Selbstimmunisierung: Man ignoriert alle Informationen, die der eigenen Meinung widersprechen. Man hört plötzlich auf, sich die Tagesschau anzusehen, und schimpft stattdessen auf die „Lügenpresse“. Und wenn das gar nicht mehr geht, sagt man zum Beispiel: „Ja, dieser Muslim da, das ist tatsächlich ein netter Kerl. Aber alle anderen Muslime sind trotzdem gefährlich.“

Apropos Fremdenhass: Ihre Untersuchungen zeigen, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung bei uns eine fremdenfeindliche Einstellung hegten.

Ja, das stimmt. Diesen Wert findet man ziemlich stabil in den unterschiedlichsten Untersuchungen. Aber diese Zahlen haben wenig mit der aktuellen Flüchtlingsdebatte zu tun. Die erwähnten 30 Prozent findet man schon eine ganze Weile, und die Werte scheinen sich zuletzt nicht dramatisch erhöht zu haben. Generell möchte ich auch lieber die andere Seite betonen: In einer aktuellen Umfrage zeigt sich, dass mehr als 60 Prozent der Bevölkerung der Ansicht sind, dass Flüchtlingen genau dieselben Rechte zustehen sollten wie den Deutschen. Die Zivilgesellschaft ist noch immer stabil, auch wenn um die Lauten im Land immer so viel Lärm gemacht wird. Es gibt noch immer eine sehr robuste, überhaupt nicht für Radikalismus und Fanatismus anfällige Mehrheitsgesellschaft.

Fremdenfeindlichkeit wurzelt Ihrer Meinung nach in einem bedrohten Selbstbild – ist das nicht ein bisschen zu einfach gedacht?

Nein, darüber gibt es ziemlich verlässliche Zahlen. Die Verunsicherten werden zu einem hohen Teil fremdenfeindlich – oder sie suchen sich etwas ­anderes, das ihnen Sicherheit zu geben scheint. Sie werden extrem in dem, was sie tun, radikal oder gar fanatisch. In diesen Gruppen findet man viele Leute mit einem gestörten Selbstwertgefühl. Die Unsicheren suchen nach Sicherheit. Dass der Hass sich dabei gerade gegen die Muslime richtet, ist ­übrigens eher zufällig. Das ist ein frei flottierender Hass, der sich seine Objekte sucht. Er kann sich auch gegen „die da oben“ wenden oder gegen die „Lügenpresse“, das liegt immer an den gerade verfügbaren öffentlichen Angeboten.

Funktioniert dieser Abwehrmechanismus denn für die Betroffenen?

Ja, das ist ja das Schlimme. Psychologisch gesehen haben die Leute was davon.

Sie meinen: Man muss sich den Fanatiker als glücklichen Menschen vorstellen?

Klar, Fanatismus schafft Klarheit, Einfachheit und feste Wahrheiten. Man schottet sich ab vor allen Zweifeln und Unsicherheiten. Man verschafft sich eine unerschütterliche Identität, weil man sich in seinen Gleichgesinnten wiedererkennt und von ihnen wertgeschätzt wird. Der Hass gibt dem Leben eine Bedeutung, einen Sinn und eine Orientierung. Man hat einen unheimlichen Gewinn davon.

Aber?

Es gibt dabei ein Problem. Nämlich etwas, das ich die „Dauererregung als Bedingung fanatischer Sicherheit“ genannt habe. Fanatismus muss immer wieder neu angestachelt werden. Sonst fällt er in sich zusammen. Der Fanatiker muss von heftigen Gefühlen bewegt werden. Aber so ein Feuer hält nie lange, wenn nicht dauernd Nahrung nachgelegt wird. Und sobald diese Nahrung ausbleibt, sackt der Fanatismus zusammen.

Ist Fremdenfeindlichkeit denn die einzige Möglichkeit, auf ein bedrohtes Selbstbild zu reagieren? Manche Menschen pflegen ihren Selbstwert, indem sie sich auf ihre körperliche Fitness konzentrieren.

Es gibt Fitnessbesessene. Diese extreme Selbststilisierung über den Körper wurzelt häufig in einem unglaublichen Bedürfnis nach Zurückgewinnung von Gewissheit, Selbstsicherheit und Selbstwertgefühl. Und das ist ja auch ziemlich naheliegend: Wenn die Welt aus den Fugen gerät, was können wir dann noch selbst kontrollieren? Na klar – unseren Körper!

Was ist so falsch daran, mit Leidenschaft und Ehrgeiz Sport zu treiben?

Gar nichts! Ohne Ehrgeiz und Leidenschaft wäre das Leben ja furchtbar langweilig. Aber einige dieser Leute sind fanatisch. Ihr ganzes Leben dreht sich nur noch um diese eine Sache. Und wer das doof findet und sein Leben anders lebt, dem begegnet man mit Feindseligkeit. Das sind totalitäre Weltanschauungen ohne jede Selbstreflexion. Vermutlich handelt es sich dabei um eine eher überschaubare Gruppe. Aber die Quantified-Self-Bewegung, dieser Wunsch, jeden seiner Körperwerte mit technischen Geräten zu überwachen und zu messen – das geht schon in eine ­radikale Richtung und scheint mir ziemlich verbreitet zu sein.

In Ihrem Buch haben Sie auch ein komplettes Kapitel über den Veganismus geschrieben. Auch dort, so schreiben Sie, kommt es zu Formen des Fanatismus. Ist das nicht übertrieben? Viele Veganer wollen sich ja nur gesund ernähren.

Solange man sich dabei auf sich selbst und seine Gesundheit beschränkt, ist auch nichts dagegen zu sagen. Einige erheben das Tierwohl aber zum allerhöchsten Wertprinzip, und das halte ich für gefährlich. Weil Veganismus dann schnell fanatisch werden kann, nach dem Motto: Wer nicht mitmacht, ist mein Feind. Das ist eine extrem zugespitzte, vereinfachte, polarisierende Welt- und Selbstanschauung …

… die zunächst aber trotzdem glücklich macht?

Natürlich! Es ist ja auch kein Zufall, dass vor allem jüngere Leute sich davon angesprochen fühlen, viele Veganer berichten von einer Art Erweckungserlebnis mitten in einer der typischen Identitätskrisen der Adoleszenz. Dann findet man etwas, in das man sich hineinbegeben kann, das das ganze Leben bestimmt und einem eine beruhigende Sicherheit verschafft. Was früher die Religion geleistet hat, das leistet heute das Essen.

Bleibt die Frage: Wie kann man ein bedrohtes Selbstbild stabilisieren, ohne gleich radikal oder fanatisch zu werden?

Man braucht etwas, das dem Selbstwert genauso gut hilft wie der Fanatismus. Etwas, das dasselbe Gefühl von Sicherheit bietet.

Woran denken Sie da genau?

Am einfachsten ist das, indem man systematisch soziale Kontakte sucht, mit vielen Leuten redet. Das klingt ganz banal, spielt aber eine riesige Rolle. Soziale Einbindung ist ungeheuer wichtig. Was sich bei Jugendlichen sehr bewährt hat, ist der Sport. Bei Jungen vor allem Kampfsport. Die jungen Leute erleben da eine enorme Selbstwertsteigerung durch die Erfahrung von eigenem Können. Und das geschieht auch noch in der Interaktion mit anderen, was wiederum ausgesprochen hilfreich ist. Andere Studien zeigen, dass es helfen kann, in einer Kirchengemeinde aktiv zu werden – zumindest solange es sich nicht um eine radikale Gruppe handelt. Generell geht es einfach darum, eine neue Quelle des Lebenssinns zu eröffnen.

Was ist mit ehrenamtlichem Engagement?

Ohne Frage – die Zivilgesellschaft ist ein Bollwerk gegen den Fanatismus. Das ist auch nichts, was die Politik regeln kann. Die Integrierung von gefährdeten Leuten in ganz konkrete Netze der Zivilgesellschaft, das ist das Mittel. Das kann die Jugendfeuerwehr sein oder Greenpeace oder der Sportverein oder was auch immer. Man erfährt Wertschätzung, und irgendwann merkt man: Wenn ich anderen helfe, dann bekomme ich auch Hilfe zurück, ich bekomme Anerkennung, Bewunderung – eben alles, was meine Psyche für ein stabiles Selbstbild braucht.

Ernst-Dieter Lantermann (71) war bis zu seiner Emeritierung Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.Gerade erschienen: Ernst-Dieter Lantermanns neues Buch Die radikalisierte Gesellschaft. Von der Logik des Fanatismus (Blessing, € 19,99).

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2016: Sieh's doch mal so!