Wahrheitssuche im postfaktischen Zeitalter

Was sind die psychischen Mechanismen der Illusion? Die Lindauer Psychotherapiewochen untersuchen die Wirklichkeit– und deren Gegenspieler

Worauf kann man noch vertrauen in einer Zeit, in der selbst Staatsoberhäupter mit Wahrheit jonglieren, als sei sie ein beliebig aushandelbares Gut? Ich habe meine Fakten, du hast deine. Diese Beliebigkeit verunsichert: „Wir wollen die gute alte Wahrheit wiederhaben“, stellte die Schweizer Psychotherapeutin und Psychologieprofessorin Verena Kast zur Eröffnung der Lindauer Therapiewochen fest.

Mit ihrem Motto „Wahrheit, Gleich-Gültigkeit, Lüge“ scheinen die Therapiewochen im Zeitalter von Fakenews und Meinungsblasen tatsächlich einen Nerv getroffen zu haben. 2.200 Teilnehmer – so viele wie nie zuvor in dem zum 69. Mal veranstalteten therapeutischen Fortbildungskongress am Bodensee – zählte Mitorganisator Peter Henningsen und schob gut gelaunt nach: „hoffnungslos überbucht“.

So hatte der Medienwissenschaftler und Philosoph Bernhard Pörksen als Eröffnungsredner eine prallgefüllte Inselhalle voller Zuhörer, als er – allerdings im Stile eines geschliffenen Infotainers – über ein eher sperriges erkenntnistheoretisches Thema nachdachte: Wie können wir wissen, was wahr und was Täuschung ist? Metaphorisch, meint Pörksen, geht es uns allen ein wenig wie jener Patientin in einem vielzitierten neurologischen Fallbeispiel: Die Frau war blind, aber sie war der festen Überzeugung, dass sie sehen könne – und ließ sich auch durch noch so gewiefte diagnostische Fangfragen nicht davon abbringen.

Blind für die eigene Blindheit

Im übertragenen Sinne sind wir wohl alle blind für die eigenen Blindheiten, so Pörksen. Wir klammern uns an unseren „Wahrheitsillusionen“ fest und stemmen uns gegen alles, was Zweifel an diesen subjektiven Gewissheiten wecken könnte. Pörksen nannte vier psychische Mechanismen, die uns dabei helfen, den Zweifel fern- und die Wahrheitsillusion aufrechtzuerhalten. Der erste ist die kritiklose Verehrung von Autorität. Man delegiert die eigene Urteilskraft zum Beispiel an Experten und überlässt sich deren Urteil: „Der Sachverständigenrat hat festgestellt ...“; „Nach Auffassung führender Wissenschaftler ...“ Die zweite Methode besteht darin, die eigene Wahrheit zu schützen, indem man sie und sich abschottet. Sekten zum Beispiel gehen diesen Weg. Sie kontrollieren die Informationsquellen, die ihren Mitgliedern zugänglich sind. Oder sie isolieren sich sogar geografisch von jeder Zivilisation. Kultanführer Osho zum Beispiel zog sich einst mit seinen Anhängern auf eine abgelegene Ranch in Oregon zurück. Doch man kann sich auch mitten unter andersdenkenden Menschen kognitiv abschotten, so Pörksen, so wie die Attentäter des 11. September, die während der Anschläge nach einem vorab genau festgelegten Schema Koranverse rezitierten und damit den Geist von allem störenden Input abschirmten.

Der Kult der Pseudoskepsis

Geht es hier darum, den Zweifel fernzuhalten, so nimmt die dritte von Pörksen aufgeführte Methode den umgekehrten Weg: Sie besteht darin, so viele Zweifel zu sähen, dass die Wahrheit am Ende beliebig wird: Es gibt diese Auffassung und jene. Manche Wissenschaftler glauben an den Klimawandel, andere sind skeptisch. Und zu Impfungen gibt es eben die eine und die andere Meinung. Pörksen nennt dieses wahrheitsimmunisierende Versteckspiel den „Kult der Pseudoskepsis“. Der vierte Mechanismus ist der confirmation bias: Um unsere Wahrheit aufrechterhalten zu können, suchen wir gezielt nach bestätigenden Informationen. Wir vernetzen uns mit Gleichgesinnten, bilden „Echokammern“. Das gab es schon immer, aber noch nie wurde uns das Blasenbilden so leicht gemacht wie seit Erfindung der sozialen Medien im Internet.

Die Gefolgschaftserzeugungsmaschine

„Das Netz ist eine Gefolgschaftserzeugungsmaschine“, sagt der Physiker und Publizist Eduard Kaeser, der in seinem Lindauer Plenarvortrag den Gedankengang Bernhard Pörksens aufgriff. Diejenigen, die sich in sozialen Medien zusammenfänden und ihre gemeinsame Wahrheit konstruierten, beriefen sich „auf ein reales oder fiktives Wir“. Die eigene Gruppe wird zur Autorität, man konstruiert seine eigene Evidenz, die man gar nicht mehr an der Wirklichkeit messen muss, so Kaeser: „Fakt ist, was meiner eigenen Voreingenommenheit entspricht.“ Kaeser hält es zwar für zutreffend, dass nicht nur Wahrheiten, sondern selbst das, was wir „Fakten“ nennen, nichts unverrückbar Feststehendes sind. Fakten wie „Auf dem Mount Everest liegen Schnee und Eis“ oder „Es gibt keine letzte Primzahl“ beruhten auf erworbenem und kulturell grundiertem Wissen: „Alles Faktische ist schon kulturell gekocht“, so Kaeser.

Die Dekonstruktion übertrieben

Es sei das Verdienst der Postmoderne gewesen, dass sie auf diese Konstruiertheit von Fakten aufmerksam gemacht und damit einer Vielfalt von Deutungen, einem Wahrheitspluralismus den Weg geebnet habe. „Doch etwas ist schief gelaufen“, stellt Kaeser fest. Ebenso wie Pörksen hat er das bange Gefühl, dass wir es mit der „Dekonstruktion“ von Wahrheiten übertrieben haben. Denn Wahrheiten, so Kaeser, müssen zwar von uns selbst geschaffen, „konsolidiert“ werden, aber das bedeutet nicht, dass sie beliebig sind. Mit dem Aufstieg der Wissenschaft etablierte sich seit der Renaissance eine Methode, Wahrheit nach nachvollziehbaren Regeln und Methoden zu suchen: systematische Beobachtung, Experiment, Computersimulation. „Das war eine Errungenschaft“, stellt Kaeser bei allem Wahrheitsrelativismus klar. Und: „Diese Errungenschaft ist heute akut gefährdet.“

Noch bis zum 19. April 2019 finden die 69. Lindauer Psychotherapiewochen statt. Ab dem 14. April widmet sich die Fortbildung dem Thema „Schöne digitale Welt“.

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